Teil 3: Das Opfer des Herzens
Die blutige Nacht im Wald war der tiefste Punkt, den Wolfshain erreichen konnte. Diejenigen, die zurückkehrten, brachten nicht nur ihre Wunden mit, sondern auch die schreckliche Erkenntnis dessen, was sie getan hatten. Der Hass, der sie angetrieben hatte, war der Angst und einer tiefen, erdrückenden Scham gewichen. Sie hatten sich in die Monster verwandelt, die sie zu jagen glaubten. Der Dämonenhund hatte gewonnen, ohne auch nur eine Klaue zu rühren.
In der Stille, die auf die Tragödie folgte, versammelten sich die Überlebenden auf dem Dorfplatz. Ihre Gesichter waren leer, ihre Augen hohl. Sie waren keine Gemeinschaft mehr, nur noch eine Ansammlung gebrochener Individuen, die durch gemeinsames Leid verbunden waren. In diesem Moment der totalen Hoffnungslosigkeit trat Elara in ihre Mitte. Konrad stand an ihrer Seite, sein Gesicht gezeichnet von Schuld.
“Seht ihr es jetzt?”, fragte Elara mit einer ruhigen, aber eindringlichen Stimme. “Die Bestie tötet nicht mit Zähnen, sondern mit Lügen. Sie nährt sich von unserem Misstrauen. Wir haben versucht, die Dunkelheit mit mehr Dunkelheit zu bekämpfen, und sind dabei selbst zu Schatten geworden.”
Ein alter Mann sank auf die Knie. “Was sollen wir tun, weise Frau? Wir sind verflucht. Es gibt keine Hoffnung mehr.”
“Es gibt immer Hoffnung”, erwiderte Elara. “Aber sie liegt nicht in Speeren und Fackeln. Der Fluch wurde durch einen Akt des Verrats geboren. Er kann nur durch einen Akt der Sühne und des Vertrauens gebrochen werden.” Sie erklärte ihnen die ganze Wahrheit über die Sünde ihrer Ahnen, über den Pakt und den geopferten Hund. Sie erklärte, dass die Bestie nicht getötet, sondern erlöst werden müsse. Ihr Schmerz war der Schmerz des Verrats, und solange dieser Schmerz existierte, würde auch der Fluch bestehen bleiben.
Die Sühne, die Elara vorschlug, war keine einfache Geste. Sie verlangte von den Dorfbewohnern, das Wertvollste zu opfern, das sie besaßen – nicht ihr Gold oder ihre Ernte, sondern ihren Stolz und ihre Angst. Sie sollten gemeinsam in den Wald gehen, unbewaffnet, und zu dem alten, moosbewachsenen Steinaltar zurückkehren, an dem der Pakt einst geschlossen worden war. Dort sollten sie nicht um Vergebung für sich selbst bitten, sondern um Vergebung für ihre Vorfahren und um Frieden für die gequälte Seele des verratenen Tieres.
Es war eine erschreckende Vorstellung. Freiwillig und ungeschützt in das Herz des Terrors zu gehen, schien wie Selbstmord. Doch die Alternative – ein Leben in ewigem Misstrauen und Angst – war noch schlimmer. Langsam, einer nach dem anderen, stimmten die Dorfbewohner zu. Angeführt von Konrad und Elara, machten sie sich auf den Weg. Unter ihnen war auch der kleine Emil, der Junge, der alles ins Rollen gebracht hatte. Sein Gesicht war blass, aber seine Augen zeigten eine seltsame Entschlossenheit. Er fühlte eine besondere Verantwortung, eine Verbindung zu der Kreatur, die er einst “Schneeflocke” genannt hatte.
Als sie tiefer in den Wald vordrangen, wurde die Atmosphäre drückend. Die Bäume schienen sich über sie zu beugen, ihre Äste wie knochige Finger. Flüstern schien aus dem Unterholz zu kommen, das ihre Namen rief und sie an ihre Sünden erinnerte. Doch dieses Mal ließen sie sich nicht von der Angst leiten. Sie hielten aneinander fest, stützten sich gegenseitig und gingen weiter. Ihr gemeinsamer Marsch war ein stilles Gebet, ein Akt des wiedergefundenen Vertrauens.
Schließlich erreichten sie die Lichtung mit dem Altar. Und dort wartete er. Der Dämonenhund. Doch er sah anders aus als zuvor. Er war größer, seine Form schien zu flackern, und sein weißes Fell wirkte wie erstarrter Nebel. Seine rote Nase glühte mit der Intensität einer sterbenden Sonne, und aus seinem Maul kam ein tiefes Grollen, das den Boden erzittern ließ.
Die Bestie versuchte ein letztes Mal, sie zu brechen. Sie projizierte schreckliche Visionen in ihre Köpfe. Konrad sah das brennende Dorf, und eine Stimme sagte ihm, es sei alles seine Schuld. Eine Mutter sah ihre toten Kinder, die sie anklagten, sie nicht beschützt zu haben. Jeder wurde mit seiner größten Angst und seinem tiefsten Bedauern konfrontiert. Einige schrien auf, andere weinten. Doch niemand rannte weg. Sie hielten stand, ihre Hände fest ineinander verschlungen, ein lebender Wall aus Reue.
Elara begann, die alten Worte der Sühne zu sprechen. Ihre Stimme war schwach, aber klar und fest. Sie bat die Geister des Waldes und die gequälte Seele um Verzeihung für den Verrat ihrer Ahnen. Sie erkannte die Schuld ihres Volkes an und versprach, den Pakt des Misstrauens durch einen neuen Pakt des Mitgefühls zu ersetzen.
Während die Worte in der Luft hingen, geschah etwas Unerwartetes. Der kleine Emil löste sich aus der Gruppe und ging langsam auf die monströse Kreatur zu. Entsetzte Rufe folgten ihm, aber er hörte sie nicht. Er sah nicht das Monster, das die anderen sahen. Er sah die unendliche Traurigkeit in seinen Augen, dieselbe Traurigkeit, die er am ersten Tag gesehen hatte.
Er blieb direkt vor dem Dämonenhund stehen, dessen Grollen zu einem verwirrten Wimmern wurde. Der Junge streckte seine kleine Hand aus, nicht um zu schlagen, sondern um zu streicheln. “Es tut mir leid”, flüsterte er. “Es tut mir leid, dass sie dir wehgetan haben. Du musst nicht mehr allein sein.”
Dieser einfache, reine Akt der Empathie war etwas, womit der Dämon nicht umgehen konnte. Seine Macht basierte auf Angst, Hass und Verrat. Mitgefühl war ein Gift für seine Existenz. Als Emils Hand das neblige Fell der Kreatur berührte, zuckte sie zusammen. Ein langer, herzzerreißender Schrei hallte durch den Wald – ein Schrei, der nicht von Bosheit, sondern von Erlösung sprach.
Das gleißende Licht, das von der roten Nase ausging, erlosch. Die monströse Gestalt begann zu zerfallen. Sie explodierte nicht in Flammen, sondern löste sich sanft auf, wie Nebel in der Morgensonne. Tausende von winzigen weißen Partikeln, wie Schneeflocken, stiegen zum Himmel auf, und ein letzter roter Funke, wie ein fallender Rubin, erlosch auf dem moosigen Boden.
Dann herrschte Stille. Eine neue Art von Stille. Nicht die unheilvolle Stille der Angst, sondern die friedliche Stille der Erlösung. Zum ersten Mal seit Wochen brachen die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach und tauchten die Lichtung in warmes, goldenes Licht.
Wolfshain war gerettet. Der Fluch war gebrochen. Die Dorfbewohner kehrten nicht als dieselben Menschen zurück. Sie waren gezeichnet, aber auch weiser. Sie hatten gelernt, dass die größten Dämonen nicht im Wald lauern, sondern in den eigenen Herzen. Die Legende vom Quỷ Cẩu wurde weiterhin erzählt, aber nicht mehr als Schauermärchen, um Kinder zu erschrecken, sondern als Mahnung: eine Mahnung, dass Verrat Wunden hinterlässt, die Generationen überdauern können, und dass die stärkste Waffe gegen die Dunkelheit nicht ein Schwert ist, sondern ein mitfühlendes Herz. Und manchmal, an stillen Wintertagen, schworen die Kinder von Wolfshain, im frisch gefallenen Schnee die Spuren eines weißen Hundes zu sehen, der friedlich am Waldrand entlanglief, seine Nase so rot wie eine Hagebutte im Schnee.