Mary Roos mit 76: Das späte Bekenntnis zu ihrer wahren Liebe – und was ihr Leben uns heute lehren kann

Als Mary Roos – geboren 1949 als Marianne Rosemarie Böhm in Bingen am Rhein – mit 76 Jahren in einem Live-Interview plötzlich von „der wahren Liebe meines Lebens“ sprach, hielt Deutschland den Atem an. Die Frau, deren sanfte Stimme über sechs Jahrzehnte hinweg Hitparaden, Fernsehshows und Festivalbühnen füllte, öffnete eine Tür, von der viele glaubten, sie sei längst verschlossen: die zu ihrem ganz persönlichen Glück. Kein roter Teppich, keine kalkulierte Schlagzeile – sondern ein stilles Geständnis, warm, heiter, unumstößlich.
Ihre Geschichte beginnt früh. Neun Jahre alt, Sommerfest, 800 Zuhörer – ein Kind, das singt, als wäre es das Natürlichste der Welt. Aus der kleinen Rosemarie wird Mary Roos, und mit „Arizona Man“ (1970) setzt sie einen Ton, der die Schlagerlandschaft elektrisiert – im Wortsinn, denn Synthesizer und moderne Produktionsideen ziehen ein. 1972 dann der Eurovision Song Contest: „Nur die Liebe lässt uns leben“ – Platz drei, und ein Satz, der wie ein Motto über ihrem Lebenswerk hängen bleibt. Mary wird zur Konstante in einem schnelllebigen Geschäft: elegant, professionell, trendbewusst, ohne jemals ihre Identität zu verlieren.
Doch während das Publikum die klare, silbrige Stimme feiert, wächst hinter der Bühne eine zweite Stärke, die seltener romantisiert wird: Weitsicht. Mary Roos baut sich – leise, klug, diszipliniert – ein Fundament aus Tantiemen, Lizenzen, Immobilien und ausgewählten TV-Engagements auf. Keine Exzesse, kein Getöse. Die Presse findet wenig Skandal, aber viel Integrität. Wer genau hinschaut, erkennt: Diese Künstlerin hat ihre Karriere nicht nur erlebt, sie hat sie geführt.
Und dennoch: Wo Kunst zur Souveränität reift, bleibt das Herz verletzlich. 1969 heiratet Mary den Franzosen Pierre Gardin, Manager und Ehemann in Personalunion – eine Konstellation, die Höhen und Zwänge produziert. Acht Jahre später trennen sich Wege und Arbeit. 1981 folgt die Ehe mit dem Musiker Werner Böhm („Gottlieb Wendehals“). Es gibt Kreativität, es gibt einen Sohn, Julian (1986) – und es gibt Untreue. 1989 die Scheidung. Was in Klatschspalten gern zu grellen Farben greift, lässt Mary in ihren Tönen: still, gefasst, würdevoll.
Es beginnt eine lange Phase der Selbstbestimmung. Musik, Familie, innere Ordnung. Mary lernt, dass die Bühne Stabilität geben kann, wenn Beziehungen taumeln. Sie wählt Projekte, die zu ihr passen, sie wahrt Distanz zu öffentlicher Voyeuristik. Gerade diese Zurückhaltung macht sie zur Projektionsfläche für etwas, das in der Popkultur rar geworden ist: Reife. Fans sehen keine Pose, sie sehen Haltung.

2019 verabschiedet sie sich offiziell von der großen Tourbühne – natürlich stilvoll, mit einem emotionalen Finale in Stuttgart. Wer damals glaubte, die Kapitel seien geschrieben, irrt. Denn das Leben hält für diejenigen, die ihm zuwinken statt davon zu laufen, oft eine Szene bereit, die keiner geplant hat.
Die Wendung kommt ohne Glamour: ein Senior:innenprogramm, kulturelle Nachmittage, Spaziergänge. Dort begegnet Mary einem pensionierten Arzt. Kein Blitzlicht, kein Management. Zwei Biografien, die nicht beeindrucken wollen, sondern zuhören. Sie sprechen über Schlager, über Bücher, über diese kleinen Alltagsfreuden, die – wenn man sie teilt – plötzlich wieder groß werden: Tee, Blicke, Pausen, in denen nichts „passiert“, außer dass das Herz sich erinnert, wie es ist, leicht zu sein.
„Herzensangelegenheiten kennen kein Verfallsdatum“, sagt Mary. Es ist ein Satz, der im Raum stehen bleibt wie ein guter Akkord: einfach, wahr, unwiderlegbar. Die Medien drehen laut auf, doch Mary bleibt leise. Kein „Wir gegen den Rest der Welt“, sondern ein Wir im Rest der Welt: Morgenspaziergänge, gemeinsames Kochen, kleine Ausflüge. Nähe nicht als Spektakel, sondern als Ritual.
Warum berührt uns das so? Weil es ein Gegenentwurf ist – zum Lärm, zu den Egos, zu dem Irrtum, man müsse die Liebe erfinden, um sie belegen zu können. Marys Bekenntnis entfaltet Kraft, weil es sich weigert, besonders zu tun. Es ist normal – und gerade darin radikal.
Dass sie dazu fähig ist, liegt auch an den Wunden, die verheilt, aber nicht vergessen sind. Wer Verrat erlebt hat und trotzdem vertraut, entscheidet sich aktiv für Hoffnung. Wer sich Jahrzehnte lang selbst trägt und dann doch die Hand eines anderen nimmt, weiß, was er tut. Die späte Liebe ist keine Flucht – sie ist ein Entschluss.
So wird die Biografie einer Schlagerikone plötzlich zu einer Landkarte für alle, die glauben, sie seien „zu spät“: für eine neue Nähe, für einen aufgeräumten Alltag, für Lachen, das nicht performt, sondern passiert. Marys Geschichte sagt: Du musst dein Leben nicht umstürzen, um Neues zu finden. Du musst ihm Raum machen.

Und noch etwas ist bemerkenswert: Ihre ökonomische Unabhängigkeit schützt das Private. Wer nicht muss, darf wählen. Mary hat gewählt: Würde statt Drama, Substanz statt Spektakel, Langsamkeit statt Lautstärke. Vielleicht ist es genau diese Komposition – Kunst, Klugheit, Charakter –, die ihre späte Liebesgeschichte so glaubwürdig macht.
Am Ende bleibt ein Bild: Zwei ältere Menschen gehen nebeneinander, reden über Musik, die sie geprägt hat, und entdecken eine Ruhe, die man jung kaum aushält. Mary lächelt und sagt: „Ich dachte, mein Herz sei verschlossen. Aber die Liebe hat kein Alter.“ Es ist die vielleicht schönste Zugabe einer Karriere voller Zugaben.
Und für uns, die wir zugehört haben, ist es eine leise Aufforderung: Das Wesentliche ist nicht laut. Glück ist nicht spektakulär. Und die Liebe – wenn sie kommt – ist oft genau so, wie ein guter Refrain: vertraut und doch neu, schlicht und doch unvergesslich.