Die älteste Warnung der Menschheit: Was Assyriologen in der verfluchten Gilgamesch-Tafel fanden und warum die Götter den Geruch der Toten trinken

Article: Einleitung: Die gefährlichste Geschichte der Welt
Für die meisten Historiker war die Übersetzung des Gilgamesch-Epos ein triumphaler Beginn der menschlichen Erzählkunst. Die Tontafeln, geborgen aus dem Wüstensand Mesopotamiens, galten als ältestes literarisches Zeugnis unserer Spezies. Doch für Andrew George, einen der führenden Experten für antike Texte und Assyriologe, verbarg sich in der Keilschrift etwas weitaus Finstereres und Gefährlicheres. Er sah das Epos nicht als die erste Geschichte der Menschheit, sondern vielmehr als die erste tiefgreifende Warnung – eine Entdeckung, die nach seiner Überzeugung besser für immer verborgen geblieben wäre.
Die Tontafeln, so Georges beunruhigende These, enthielten Informationen, die zu präzise waren, um sie als bloße Legenden abzutun. Beschreibungen von Schöpfung, Untergang und den eisernen Grenzen menschlicher Existenz wurden ergänzt durch Himmelsbeobachtungen – ein Mond, ein Stern und andere Zeichen – die auf eine Technologie hindeuten könnten, die 6000 Jahre in der Vergangenheit lag. Für Andrew George war das Epos der Moment, in dem die Menschheit eine Tür aufstieß, die frühere, weisere Zivilisationen absichtlich geschlossen hatten.
Die Entdeckung, die das viktorianische England schockierte
Die Reise in das Herz dieser uralten Warnung begann im Jahr 1843 in den Ruinen von Ninive, der einst prächtigen Hauptstadt des assyrischen Reiches im heutigen Irak. Ein Team um den britischen Forscher Austin Henry Layard legte dort Räume frei, die Tausende von Tontafeln enthielten – die legendäre Bibliothek des Ashurbanipal, benannt nach dem letzten bedeutenden assyrischen König, der von 668 bis 627 vor Christus regierte. Trotz Beschädigungen und Schwärzungen durch alte Brände blieben die komplizierten Keilschriftzeichen erhalten und bewahrten die älteste je erzählte Menschheitsgeschichte.
Viele Jahre blieben diese Fragmente im Britischen Museum unbeachtet, bis George Smith im Jahr 1872 begann, sie zu untersuchen. Smith, ein Autodidakt ohne formale Ausbildung, aber mit außergewöhnlichem Talent für das Lesen der Keilschrift, stieß eines Tages auf ein zerbrochenes Fragment. Was er übersetzte, ließ ihn innehalten und die Welt des Glaubens erschüttern: Der Text sprach von einer verheerenden Flut, so gewaltig, dass sie alles Leben auslöschte und nur einen Mann namens Ut-napishtim in einem riesigen Boot voller Tiere übrig ließ.
Smith erkannte sofort: Er las dieselbe Geschichte wie die von Noahs Arche, nur tausende von Jahren älter.
Diese Offenbarung traf das viktorianische England wie ein Blitz. Man war über Generationen belehrt worden, dass das Buch Genesis der älteste und unverfälschte Bericht über die Schöpfung und die Sintflut sei. Smiths Übersetzung belegte jedoch, dass die biblische Fassung später entstanden sein musste. Die Tafeln, die er studierte, waren in Akkadisch verfasst und stammten aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Aber selbst diese waren Kopien viel älterer sumerischer und babylonischer Erzählungen, die fast ein Jahrtausend früher existierten. Das bedeutete, dass die mesopotamische Flutgeschichte schriftlich fixiert worden war, lange bevor die hebräische Bibel in ihrer heutigen Form zusammengetragen wurde. Das Gilgamesch-Epos war demnach die erste überlieferte Geschichte vom Ende der Welt.
Die dunkle Botschaft der Götter und menschliche Hybris
Andrew George vertiefte die Erkenntnisse Smiths und erkannte die tiefere, beunruhigende Bedeutung der alten Worte. Für ihn war das Epos nicht nur ein Plagiat der biblischen Geschichte, sondern ein Manifest gegen die Götter und eine Warnung vor menschlichem Hochmut.
Der Text beginnt nicht, wie man es von einer Schöpfungserzählung erwartet, mit der Entstehung der Welt oder der Herkunft der Menschen. Die Menschen sind einfach „da“, und Gilgamesch regiert die Stadt Uruk – ein Herrscher, der zu zwei Drittel göttlich und zu einem Drittel menschlich ist. Diese Beschreibung war mehr als poetische Überhöhung. Sie spiegelte das mesopotamische Verständnis wider: Der Mensch ist eine Mischung aus Sterblichem und etwas Größerem, niemals vollständig das eine oder das andere. Dies unterschied sich stark von der späteren biblischen Vorstellung, dass Menschen rein und absichtlich von einem einzigen Gott geschaffen wurden.
Interessanterweise war dieser erste König der Literatur, Gilgamesch, unzufrieden. Trotz des Überflusses in Uruk fehlte ihm der innere Frieden, er war grausam und von Verlangen getrieben. George deutete dieses „permanente Verlangen“ als den ersten schriftlich überlieferten menschlichen Fehler. Wie Adam im Garten Eden hatte Gilgamesch im Überfluss, doch fand keine Ruhe. Der babylonische Schriftsteller Sin-leqi-unninni hatte ältere sumerische Geschichten gesammelt und daraus ein Werk über Hochmut und Bestrafung geschaffen.
In dieser babylonischen Version sind die Götter keineswegs gütige Beschützer. Sie sind neidische Herrscher, die nicht dulden, dass ihre Schöpfungen zu mächtig werden. Als Gilgamesch beginnt, den Göttern ebenbürtig zu werden, senden sie den wilden Mann Enkidu, um ihn zu demütigen. George sah darin das erste schriftliche Beispiel für göttliche Eifersucht und die uralte Warnung: Menschen, die nach Größe streben, müssen mit Konsequenzen rechnen.

Die zugrunde liegenden mesopotamischen Mythen waren sogar noch düsterer. Im Enûma elîš werden Menschen aus Lehm und dem Blut eines getöteten Gottes geschaffen. George stellte fest: „Diese Geschichte handelt nicht von Liebe oder Sinn, sondern von Knechtschaft.“ Die Götter erschufen die Menschen nicht, um das Paradies zu teilen, sondern um selbst keine Arbeit verrichten zu müssen. Die Menschen wurden geschaffen, um zu dienen, nicht um zu herrschen – eine dunkle Vorstellung, die sich bis in die Moderne gehalten hat. George bemerkte auch, dass die ersten Zeilen ein Wort verwendeten, das Schöpfer im Plural bedeutete, was auf einen noch älteren, verlorenen Ursprung hindeutete, in dem viele Kräfte, nicht nur eine einzige, die Welt erschufen.
Die Heimsuchung des Übersetzers: Wenn der Text Besitz ergreift
Die Arbeit am Gilgamesch-Epos schien eine unheimliche Kehrseite zu haben. Andrew George merkte an, dass Andrew Smith, der die Flutgeschichte enthüllte, nur wenige Jahre nach seiner bahnbrechenden Entdeckung unerwartet an einer Krankheit in Mesopotamien starb, auf der Suche nach weiteren Fragmenten. George sagte einmal, Smith habe etwas aufgeschlossen, „das wir nicht hätten öffnen sollen.“
Tatsächlich berichteten mehrere Experten, die nach Smith an den Tafeln arbeiteten, von merkwürdigen Erfahrungen: Einige behaupteten, nachts leise Stimmen in einer alten Sprache zu hören, rhythmische Geräusche wie Gesang. Andrew George selbst, der das Epos später aus über 300 Fragmenten zusammensetzte, nannte seine Arbeit eine „Heimsuchung“. Kollegen bemerkten, dass er immer stiller wurde, als lebte er in einer Art innerem Exil. Manchmal hielt er mitten im lauten Vorlesen der Texte inne, starrte auf die Wörter, als würden sie sich vor seinen Augen verändern.
Das Epos selbst kennt die Macht der Sprache. In Tafel 2 begegnet der wilde Enkidu einer Tempelfrau namens Schamhat, die geschickt wurde, um ihn zu zivilisieren. „Die Frau sprach und sein Geist wurde weit“, heißt es im Text. Ihre Worte zeigten ihm, was es heißt, ein Mensch zu sein. Andrew George, der sich beim Übersetzen immer weniger als Herr seiner eigenen Worte fühlte, gab zu, dass es ihm manchmal so vorkam, „als würde der Text mich übersetzen.“ Seine Notizen veränderten sich, aus „Gilgamesch weint“ wurde plötzlich „Ich weine“; aus „Der, der die Tiefe sah“ wurde „Ich sehe die Tiefe.“ Die Sprache der Priester und Beschwörer, die Sprache der Gebete, Schwüre und Flüche, schien bei jedem Akt des Übersetzens ein uraltes Ritual neu auszuführen.
Das Rätsel der Toten und die „Geheime Tafel“
Die größte intellektuelle Störung für Gelehrte war stets Tafel 12. In diesem rätselhaften Abschnitt kehrt Enkidu, der in den früheren Kapiteln unter Qualen gestorben und begraben worden war, plötzlich wieder zurück und spricht mit Gilgamesch über das Jenseits. George erkannte, dass die Tafel später eingefügt wurde und eine andere Schreibweise verwendete. Er sah sie nicht als Fortsetzung, sondern als „Störung“: Sie war kein Wunder göttlicher Gnade, sondern der Triumph einer menschlichen Freundschaft, die die eisernen Regeln des Universums durchbrach. Er glaubte, dass genau das die Geschichte von Gilgamesch einzigartig mache: die Frage, ob Liebe oder Trauer den Tod besiegen könnten.
Doch im Jahr 2021 tauchte ein noch größeres Rätsel auf. Archäologen fanden angeblich nahe Ninive ein kleines Tonfragment, dessen Schriftzeichen rückwärts geschrieben waren, lesbar nur im Spiegel. Im Wissenschaftskreis wurde es bald die 13. Tafel genannt. Gerüchte besagten, eine entzifferte Zeile laute: „Wer liest, erweckt, was schläft.“ Die Spiegelschrift ähnelte alten mesopotamischen Totenritualen, die für Botschaften an die Toten bestimmt waren. Andrew George, der die Echtheit nie bestätigte, aber auch nicht bestritt, sagte einem Kollegen, diese Texte seien niemals dafür gedacht gewesen, nur gelesen zu werden, sondern befolgt. Wenn sie echt sei, so seine Andeutung, „gehört sie nicht zu den Lebenden.“
Das Opfer, das die Götter nährt: Der Geruch der Toten
Andrew George glaubte, dass die wahre Botschaft des Epos viel düsterer war als die reine Furcht vor dem Tod. Es gehe darum, dem Tod zu geben, was er will. Bei seiner Arbeit am Text fiel ihm immer wieder dasselbe Motiv auf: die Götter, die den Rauch von Opfern genießen.
Im Flutkapitel des Epos sammeln sich die Götter „wie Fliegen um den Opferduft“, nachdem Ut-napishtim ein Opfer darbringt. George sah dies als die älteste Darstellung dessen, was die Götter tatsächlich verlangen. In einer beschädigten Tafel fand er eine fehlende Zeile, die die dunkle Theologie der Mesopotamier enthüllte: „Sie trinken den Geruch der Toten.“
Die alten Mesopotamier glaubten aufrichtig, dass ihre Götter nicht von Licht oder Luft lebten, sondern von der Kraft, die im Moment des Sterbens freigesetzt wurde. Jeder Tod, so ihre Überzeugung, nährte die Götter und hielt die Welt im Gleichgewicht. Enkidus Tod, so George, war nicht nur Bestrafung für eine Missetat, er war ein notwendiges Opfer in diesem System. Die Götter verlangten Leben und Enkidu wurde zu ihrer Opfergabe.
Georges letzte, verstörende Erkenntnis war, dass auch das Erzählen der Geschichte selbst Teil dieser Opferhandlung ist. Jedes Mal, wenn jemand Enkidu gedenkt oder die Geschichte laut vorliest, wiederholt er die Handlung, die die Götter nährt. Die angebliche 13. Tafel mit ihrer Zeile „Wer liest, erweckt, was schläft“ bekam so eine neue, unheilvolle Bedeutung. Für Andrew George war es mehr als Mythologie: Die Worte selbst sind ein Opfer, und die Leser werden Teil eines uralten Rituals. Die beunruhigende Frage, die ihn bis zum Ende verfolgte, blieb: Was, wenn die Götter immer noch zuhören?