Klara hatte geglaubt, die Dunkelheit sei das Schlimmste am Keller. Sie hatte sich geirrt. Das Schlimmste war nicht die Dunkelheit oder die feuchte Kälte, die sich in ihre Knochen fraß. Es war der leise, fast unhörbare Klang, der sie überhaupt erst hierher gelockt hatte. Ein Wimmern, so dünn und zerbrechlich wie Spinnweben, dass sie wochenlang für das Stöhnen der alten Rohre gehalten hatte. Doch heute war es anders.
Heute klang es wie ein Wort, erstickt und verzweifelt. Und es war dieser Klang, der sie dazu zwang, die letzte Tür am Ende des langen modrigen Korridors zu betrachten. Eine Tür, von der ihre Arbeitgeberin, Frau Isabella Störling, ausdrücklich gesagt hatte, dass sie niemals unter keinen Umständen geöffnet werden dürfe.

Als Kara vor drei Monaten ihre Stelle als Hausmädchen in der Sterling Villa angetreten hatte, war sie von der schierengröße des Anwesens eingeschüchtert gewesen. Es war mehr ein Palast als ein Haus mit Marmorböden, die so poliert waren, dass sie den Himmel spiegelten und Kronleuchtern, die wie gefangene Sternbilder von den hohen Decken hingen.
Ihre Aufgabe war es, unsichtbar zu sein, eine stille Kraft, die Staub wischte, Betten machte und die Spuren des Lebens der Reichen beseitigte. Und meistens gelang ihr das auch. Sie war eine Meisterin der Unsichtbarkeit geworden. Frau Stürling war eine Frau, die aus Eis und Stahl geschmiedet schien. Ihre Schönheit war scharfkantig, ihre Haltung tadellos und ihr Lächeln erreichte nie ihre kalten blauen Augen.
Sie sprach mit Klara und den anderen Angestellten in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete, ihre Anweisungen präzise und unpersönlich. Herr Richard Dürling war das genaue Gegenteil. Wenn er nicht auf einer seiner unzähligen Geschäftsreisen war, schlich er wie ein Geist durch sein eigenes Haus. In seinen Augen lag eine tiefe, unergründliche Traurigkeit, die Kara beunruhigte.
Er schien gefangen in seinem eigenen goldenen Käfig, ein Mann, dessen Reichtum ihm keine Freude, sondern nur eine schwere Last zu bringen schien. Klara hatte die Geschichten gehört, die sich die anderen Angestellten in den Pausen zuflüsterten. Geschichten über die Mutter von Herrn Stürling, Elonore. Sie sei eine gütige, lebenslustige Frau gewesen, das Herz des Hauses, bevor sie von einer schweren Demenz heimgesucht worden war.
Frau Sterling hatte unter Tränen verkündet, daß sie in eine exklusive Pflegeeinrichtung in der Schweiz gebracht werden musste, wo sie die beste Betreuung erhalten würde. Herr Sterling hatte sich daraufhin noch mehr zurückgezogen. Seine Trauer war wie eine unsichtbare Mauer um ihn herum. Niemand wagte es, das Thema in seiner Gegenwart anzuscheinen.
Doch für Kara ergab das alles keinen Sinn. Die Geräusche aus dem Keller hatten kurz nach ihrer Ankunft begonnen. Zuerst hatte sie sie ignoriert. Ein altes Haus machte eben geräusche, aber dann, in den stillen Stunden der Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte, hörte sie es deutlicher. Es war kein Stöhnen von Rohren.
Es war menschlich, ein leises Weinen, manchmal ein unterdrücktes Murmeln. Sie hatte es einmal gegenüber der älteren Köchin Mattha erwähnt, aber diese hatte sie nur scharf angesehen und ihr geraten, ihre Nase nicht in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen. Die Angst in Mathas Augen war nicht zu übersehen gewesen.
Der Wendepunkt kam an einem Dienstagnachmittag. Frau Störling war für einen ihrer Wohltätigkeitslands ausgegangen, perfekt gekleidet und mit einem Lächeln, das so aufgesetzt war wie die Juwelen an ihrem Hals. Sie hatte ihren Schlüsselbund auf einer Konsole im Flur vergessen. Klara sah ihn, als sie den Staub von der polierten Oberfläche wischte.
Ein kleiner altertümliches Messingschlüssel hing daran, einer, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er paßte nicht zu den modernen Schlössern des Hauses. Er sah aus, als gehörte er zu einer alten Truhe oder einer alten Tür. Einer Tür wie der im Keller. Ihr Herz begann zu hämmern. Das war ihre Chance. Eine schreckliche, furchteinflößende Chance.
Ihr Verstand schrie sie an, den Schlüsselbund zu ignorieren, ihre Arbeit zu beenden und so zu tun, als hätte sie nichts gesehen. Das war der sichere Weg. der Weg, der ihren Job und ihr Dach über dem Kopf erhalten würde. Aber das Wimmern aus der vergangenen Nacht halte in ihren Ohren wieder.
Es war nicht nur ein Geräusch gewesen, es war ein Ruf nach Hilfe gewesen. Sie wusste es tief in ihrem Inneren. Mit zitternden Händen nahm sie den Schlüsselbund. Das Metall fühlte sich eiskalt an. Jeder Schritt, die Kellertreppe hinab eine Qual. Die Luft wurde dicker, roch nach feuchter Erde und verfall. Unten angekommen, folgte sie dem langen, dunkelen Korridor, ihre Schritte von den Steinwänden wiederhallend.
Da war sie, die verbotene Tür. Sie war aus massivem Eichenholz mit schweren Eisenbändern beschlagen. Sie sah aus, als wäre sie seit 100 Jahren nicht mehr geöffnet worden, doch das Schloss war neu und glänzend. Clara Sagert, was wenn sie sich irrte? Was, wenn hinter dieser Tür nur alte Weinflaschen und Spinnweben waren? Frau Stürling würde sie auf der Stelle entlassen, vielleicht sogar der Polizei wegen Einbruchs übergeben.
Die Konsequenzen waren verheerend, aber das Bild des traurigen Herrn Stürling blitzte vor ihrem inneren Auge auf, gefolgt von dem verzweifelten Wimmern. Sie musste es wissen. Sie steckte den Messingschlüssel ins Schloss. Er passte perfekt. Mit einem leisen Klicken, das in der Stille Ohrenbetäubend laut war, drehte er sich.