An einem grauen Nachmittag im frühen Frühling zogen Regentropfen die Tränen ihre Bahnen über das Fenster eines kleinen Caféses in der Münchner Altstadt. Drinnen saß eine junge Frau regungslos in ihrem Rollstuhl, der Blick fest auf eine kleine weiße Geburtstagstorte gerichtet, die auf dem Tisch vor ihr stand.

22 Kerzen flackerten sanft, kämpften gegen den leichten Luftzug an, der jedes Mal entstand, wenn die Tür aufging und Fremde hinein und hinausgingen. Draußen bewegte sich die Stadt in ihrem gewohnten Rhythmus. Straßenbahnen quietschten über die Schienen, Autos spritzten Wasser aus Pfützen und bunte Regenschirme schoben sich wie schillernde Schilde durch den Regen.
Doch hier, in diesem warmen kleinen Kaffee, schien die Zeit, den Atem anzuhalten. Ihre Hände lagen still in ihrem Schoß. die Ärmel ihres weichen rosafarbenen Pullovers über zitternde Finger gezogen. Es war ihr Geburtstag, aber es gab keine Freunde, keine Familie, kein Lachen, nur das leise Summen der Espressomaschine und der bittersüße Duft von Vanilleglasur in der Luft.
Die Welt hätte vielleicht geglaubt, sie hätte alles. Schließlich war sie die Tochter, eines der mächtigsten Geschäftsführer der Stadt. Aber in diesem Moment hatte sie sich noch nie so allein gefühlt. Ihr Name war Klara Westhoff. Seit drei Jahren war sie von der Hüfte abwärts gelähmt. Die Folge eines Autounfalls, der alles verändert hatte.
Vor dem Unfall war sie der Inbegriff von Lebensfreude gewesen. Immer in Bewegung, tanzend, Sonnenuntergänge jagend mit ihrer Kamera in der Hand. Doch in einem Moment, an einem regnerischen Abend auf der A8, waren ihre Träume zerbrochen, wie die Glassplitter, die um sie herumgeflogen waren. Seitdem lebte sie in einer sorgfältig kontrollierten Welt.
Teure Pflege, ein Haus voller Angestellter, ein Vater, dessen Anwesenheit eher einem flüchtigen Schattenglich, ständig unterwegs zwischen Vorstandssitzungen und Privatchats. Die Leute sprachen ihren Namen mit Bewunderung für das Firmenimperium, mit dem sie verbunden war. Doch wenn sie sie heute ansahen, sahen sie nur den Rollstuhl.
Einladungen wurden seltener. Freunde drifteten davon. Sogar an ihrem Geburtstag, dem einen Tag, an dem sie ins Geheim gehofft hatte, dass jemand vorbeikommen würde, saß sie vor einer unberührten Torte, deren Kerzen für ein Publikum aus einer Person tanzten. Am anderen Ende des Kaffees trat ein Mann aus dem Regen, schüttelte das Wasser aus seinen Haaren und hielt eine kleine Papiertüte in der Hand.
Hinter ihm lief ein Mädchen, höchstens sieben Jahre alt, in einem gelben Kleid, deren weiße Schuhe am Rand schon etwas durchnässt waren. Sie hielt einen Muffin mit einer kleinen Zuckerstndekoration. Vorsichtig mit beiden Händen, während sie nach einem freien Platz suchte. Der Mann, sein kariertes Hemd an den Manschetten abgetragen, die Jeans zwar ausgewaschen, aber sauber, ließ den Blick durchs Kaffee wandern und hielt inne, als er sie sah, etwas an ihr, die Art, wie sie die Kerzen ansah.
„Als wären es die letzten Sterne, die sie noch sehen konnte“, ließ ihn zögern. Er hätte den Tisch in der Ecke nehmen können, hätte einfach seinen Tag fortgesetzt, aber irgendetwas in ihm weigerte sich wegzusehen. Klara bemerkte sie zunächst nicht. Ihre Gedanken waren weit weg. bei dem Unfall, bei den endlosen Monaten der Reha, bei der Stimme ihres Vaters, der sagte, er müsse dringend wegfliegen, genau an dem Tag, an dem sie ihn angefleht hatte zu bleiben.
Damals hatte sie gelernt, von niemandem etwas zu erwarten. Geburtstage waren nur Erinnerungen daran, dass die Zeit verging, und die Zeit war schon lange nicht mehr ihre Freundin. Doch dann, als sie die Tränen wegblinzelte, sah sie das kleine Mädchen näher kommen. Hinter ihr der Mann, der zwei Tassen Kaffee trug. Das Mädchen blieb vor dem Tisch stehen, ihre großen braunen Augen neugierig, aber warm.
„Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“ fragte der Mann mit warmer, ruhiger Stimme.
Der Mann legte sanft eine Hand auf ihre Schulter. Das Kaffee schien plötzlich leiser zu werden. Der Regen draußen klang gedämpfter. Einen Moment lang fragte sich Klara, ob sie sich das nur einbildete, ob ihre Einsamkeit diese beiden aus dem Nichts herbeigezaubert hatte. Doch dann sprach der Mann. Seine Stimme warm und ruhig, als er fragte, ob sie sich zu ihr setzen dürften. Eine einfache Frage.
Und doch brach sie wie eine Welle in die Stille um sie herum. Sie setzten sich und langsam begann der Raum zwischen Fremden sich zu füllen. Das kleine Mädchen, ihr Name war Sophie, fragte nach der Torte, nach den Kerzen, nach der Zahl 22. Sie erzählte Klara, dass es die Lieblingszahl ihrer Mutter sei.
Der Mann, er hieß Daniel, hörte mehr zu. Als er sprach, er spürte, dass dies nicht einfach nur ein Geburtstag war, sondern ein stiller Kampf, den Klara schon seit Jahren führte. Bei dampfendem Kaffee und der sanften Süße der gemeinsam geteilten Muffins fand Klara sich plötzlich dabei, Wahrheiten auszusprechen, die sie seit Jahren mit niemandem geteilt hatte.
Sie erzählte ihnen vom Unfall, von der Stille, in die ihr Leben danach gefallen war und davon, dass sie keinen Weg fand, dieser Stille zu entkommen. Daniel hörte zu mit einer Aufmerksamkeit, die nichts verlangte. So viel hingegen mit der Unbefangenheit eines Kindes, nahm den Rollstuhl gar nicht wahr.
Sie bemerkte nur ein Lächeln, das erst zögerlich, dann immer fester zurückkehrte. Die Stunden vergingen und draußen wich der Regen, einem blassen Sonnenuntergang. Der die Straßen in goldenes Licht tauchte. Zum ersten Mal seit Jahren, fürchtete Klara nicht das Ende des Tages. Am Tisch gab es Lachen, leise, ehrlich, ohne jeden Zwang.
Und als sie sich schließlich verabschiedeten, ließen Daniel und Sophie mehr zurück als nur ihre Gesellschaft. Sie ließen den Beweis da, dass Fremde selbst die am meisten verblichenen Ecken eines Herzens wieder mit Farbe füllen konnten.