
In den abgelegenen Tälern des bayerischen Voralpenlandes, wo der Nebel wie ein atmender Schleier zwischen dunklen Tannen hängt und die Erde selbst das Schweigen zu bewahren scheint, stand eine einsame Hütte, deren Wände mehr verbargen, als jedes Dorf ahnte. Es war das Jahr 1877, kaum ein Jahrzehnt nach dem Krieg zwischen Bayern und Preußen, und in den entlegenen Winkeln südlich von Rosenheim war die Zeit stehen geblieben. Das Gesetz der Berge galt mehr als das Gesetz des Königs.
Dort lebte eine Frau namens Adelheit Krämer mit ihren beiden Söhnen, den riesenhaften Zwillingen Jakob und Heinrich. Niemand konnte genau sagen, wann sie in diese Wildnis gezogen waren. Einige behaupteten, sie seien aus dem Allgäu gekommen, andere, sie hätten schon immer dort gelebt, in jener steinernen Schlucht, in der das Echo der Alphörner nie erklang und die Kälte selbst im Sommer tief in den Felsen saß.
Die Brüder waren Männer, die man nicht übersehen konnte. Beide überragten jeden Dorfbewohner um Haupteslänge, ihre Schultern so breit wie das Tor einer Scheune. Ihre Gesichter trugen denselben harten Ausdruck, die gleiche blasse Haut, die gleichen hellen, beinahe durchsichtigen Augen, die jeden, den sie ansahen, frösteln ließen. Sie sprachen kaum, und wenn, dann klangen ihre Worte wie Bibelverse, auswendig gelernt und unverständlich miteinander verbunden. Es war, als würden sie eine Sprache sprechen, die älter war als die Menschheit.
Adelheit, die Mutter, war eine hagere Frau, deren Gesicht von Falten durchzogen war wie altes Pergament. Man sagte, sie lese jeden Abend laut aus der Heiligen Schrift, während ihre Söhne unbewegt an den Wänden standen und ihr zuhörten, ihre Schatten sich auf den rauen Holzdielen vergrößerten.
Im Dorf kannte man sie nur vom Sehen, wenn sie einmal im Jahr hinunterkam, um Salz und Mehl zu kaufen, und mit alten Silbermünzen bezahlte, deren Herkunft niemand zu ergründen wagte. Ihr Hof lag fünf Stunden Fußmarsch über dem letzten Weiler, dort, wo die Wege nur noch aus Felsen bestanden und das Glockengeläut aus den Tälern nie zu hören war. Kein Fuhrmann kam dorthin, kein Händler blieb über Nacht. Der Winter schnitt sie monatelang von der Welt ab.
Und doch, trotz dieser Abgeschiedenheit, begannen eines Herbstes Gerüchte, die Berge hinabzurieseln wie feiner Schnee. Man sagte, die alte Krämerin sei schwanger. Zuerst lachte man darüber, dann senkten die Frauen ihre Stimmen und die Männer wechselten rasch das Thema. Denn jeder wusste, dass kein Fremder die Hütte seit Jahren betreten hatte. Niemand hatte den Zwillingen je eine Frau an der Seite gesehen.
Und doch sah ein Holzfäller, der aus der Ferne vorbeiging, deutlich die Rundung unter Adelheits Kleid, schwer und unübersehbar. Es war ein Leib, der das Leben trug, aber die Natur selbst schien den Kopf zu schütteln.
Im Dezember erreichten die Gerüchte den Dorfschreiber Sebastian Vogt, der zugleich Friedensrichter war. Er war ein Mann, der sich an Gesetze hielt, aber auch an das Schweigen, das in den Bergen galt. Doch diesmal ließ ihn das Gefühl nicht los, dass etwas Unnatürliches dort oben geschah.
Einem alten Eid folgend machte er sich auf den Weg, um die Sache selbst zu sehen. Der Aufstieg dauerte den ganzen Tag. Schneeflocken wirbelten zwischen den dunklen Fichten, und der Wind trug einen süßlichen Geruch mit sich – etwas, das an Verwesung erinnerte, aber schwächer, vermischt mit dem Duft von Holzrauch und kalter Erde.
Als Vogt schließlich den Hang erreichte, auf dem die Hütte stand, sah er zwei Gestalten aus dem Schatten treten. Jakob und Heinrich standen nebeneinander wie aus einem Guss. Ihre Hände leer, ihre Gesichter reglos. Nur ihre Augen bewegten sich langsam, gleichmäßig, und folgten jedem seiner Schritte, als wäre er eine Beute.
„Ich komme im Namen des Landrates“, sagte Vogt, seine Stimme klang gezwungen fest.
Keiner antwortete. Dann öffnete sich die Tür, und Adelheit Krämer trat heraus. Unter ihrem groben Wollkleid wölbte sich der Leib einer Frau, die bald gebären würde. Sie legte eine Hand auf den Bauch, als wolle sie das Leben darin schützen oder bewachen.