Der Schulhof der Grundschule St. Georg war ein Ozean aus Lärm. Kinderlachen, das Quietschen von Gummisohlen auf Asphalt, das Klatschen von Bällen – für Niklas von Maxfeld war dies alles nur ein chaotisches Rauschen. Er stand am Rand, allein, wie eine Insel in einem stürmischen Meer. Seine Finger umklammerten den Trageriemen seiner Tasche so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Niklas war sieben Jahre alt und er hatte noch nie das Gesicht seiner Mutter, das Blau des Himmels oder das Grün der Bäume gesehen. Seine Welt bestand aus Geräuschen, Gerüchen und der ewigen Dunkelheit, die ihn wie ein schwerer Mantel umhüllte.

Sein Vater, Robert von Maxfeld, ein mächtiger Industrieller, hatte darauf bestanden, dass Niklas eine „normale“ Schule besuchte. Er sehnte sich nach Normalität für seinen Sohn, doch hier, inmitten der sehenden Kinder, fühlte sich Niklas so unnormal wie nie zuvor. Er spürte die Blicke der anderen, auch wenn er sie nicht sah. Er spürte das Flüstern, das verstummte, wenn er sich näherte.
„Kinder, bitte begrüßt Niklas in unserer Klasse“, hatte Frau Benniger, die Lehrerin, mit einer Fröhlichkeit gesagt, die so zerbrechlich wirkte wie dünnes Glas. „Wir machen heute ein Kunstprojekt im Freien. Wer möchte Niklas‘ Partner sein?“
Die Stille, die folgte, war ohrenbetäubend. Sie war schwerer als jeder Lärm. Niklas senkte den Kopf, bereit, die gewohnte Ablehnung zu ertragen.
„Ich mache es.“
Die Stimme war klein, aber fest. Sie gehörte zu Emilia Walter. Emilia war das Mädchen, das oft fehlte. Das Mädchen mit den dunklen Ringen unter den Augen, deren Kleidung sauber, aber oft geflickt war. Sie war das Kind, das die anderen mieden, weil sie nach „Krankenhaus“ roch, wie manche grausam flüsterten.
Von seiner schwarzen Maybach-Limousine aus, die diskret am Straßenrand parkte, beobachtete Robert von Maxfeld durch die getönten Scheiben die Szene. Er sah, wie das zarte Mädchen mit dem frechen Kurzhaarschnitt auf seinen Sohn zuging und ihn sanft am Ärmel zog. „Herr von Maxfeld“, räusperte sich sein Fahrer. „Ihre Telefonkonferenz mit Tokio beginnt in fünfzehn Minuten.“ „Absagen“, sagte Robert knapp, ohne den Blick von den Kindern abzuwenden. Sein Herz zog sich zusammen. „Irgendetwas ist heute anders.“
Auf der Wiese setzten sich Niklas und Emilia ins Gras. Emilia ordnete Niklas‘ spezielle tastbare Kunstmaterialien mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn überraschte. „Ich bin Emilia“, sagte sie. „Ich kann nicht besonders gut zeichnen, aber du bestimmt.“ „Ich kann nicht sehen, was ich zeichne“, erwiderte Niklas nüchtern. Es war keine Beschwerde, nur eine Tatsache. „Beethoven konnte seine Musik auch nicht hören“, sagte sie prompt. „Meine Mama sagt, er war der Beste.“ Niklas runzelte die Stirn. „Wer ist Beethoven?“ Emilia kicherte, ein Geräusch wie helles Glockenspiel. „Ein tauber Musiker. So wie du ein blinder Künstler bist.“ „Ich bin kein Künstler.“ „Nicht mit der Einstellung“, konterte Emilia altklug.
Etwas an ihrer Art brachte Niklas zum ersten Mal an diesem Tag zum Lächeln. Sie saßen zusammen, während Emilia ihm die Welt beschrieb – nicht nur, wie sie aussah, sondern wie sie sich anfühlte. Sie erklärte ihm, dass das Gras wie grüne Nadeln aussah und die Wolken wie Zuckerwatte, die jemand in den Himmel geklebt hatte.
Dann geschah es. Emilia wurde still. Sie beobachtete Niklas, der frustriert versuchte, einen Baum zu ertasten. Ohne Vorwarnung griff sie in ihre Tasche und zog ein kleines, in Papier gewickeltes Stück Seife hervor. Es war eine teure Hotelseife, die ihre Mutter, ein Zimmermädchen, ihr einmal mitgebracht hatte. „Meine Mama sagt, das ist besondere Seife“, flüsterte Emilia verschwörerisch. „Aus Paris. Sie hilft den Menschen, die Schönheit zu sehen.“
Bevor Niklas fragen konnte, was sie meinte, spuckte Emilia auf die Seife, rieb sie zwischen ihren Händen, bis Schaum entstand, und sprang vor. Mit einer schnellen Bewegung rieb sie ihm den seifigen Schaum direkt über die geschlossenen Augenlider.
Niklas schrie auf. Das Brennen war sofort da, scharf und beißend. Er ließ seine Zeichnung fallen und schlug die Hände vor das Gesicht. „Was hast du getan?!“, kreischte Frau Benniger, die herbeigelaufen kam. Sie riss Emilia grob zurück. Auf der Straße riss Robert die Autotür auf und stürmte über den Rasen. „Niklas!“ „Es brennt! Es brennt!“, weinte Niklas.
Robert erreichte seinen Sohn, drückte ihn an sich und warf Emilia einen Blick zu, der sie hätte töten können. Ein Sicherheitsmann hielt das kleine Mädchen fest, das nun selbst zu weinen begann. „Ich wollte nur helfen“, schluchzte sie. „Ich wollte, dass er sieht.“
„Rufen Sie einen Krankenwagen!“, brüllte Robert. „Warte…“, sagte Niklas plötzlich. Seine Stimme war dünn, verwundert. Er nahm langsam die Hände vom Gesicht. Seine geröteten Augenlider flatterten. Er blinzelte. Einmal. Zweimal. Die Tränen hatten den Schaum weggewaschen, aber etwas war geblieben. „Papa?“, flüsterte er. Er starrte ins Leere, aber sein Blick fixierte sich plötzlich. „Papa… ich glaube, ich sehe Schatten. Da ist Licht. Und… Farben.“
In dem Chaos, das folgte – die Sirenen, die Sanitäter, die aufgeregten Lehrer – bemerkte niemand, wie Emilia leise hinter der Menge zu Boden sank und das Bewusstsein verlor. Niemand außer Robert, der über seine Schulter blickte und sah, wie das kleine Mädchen, das gerade das Unmögliche getan hatte, wie eine zerbrochene Puppe fortgetragen wurde.