Im Jahre 1864 in den Bergen Oberbayerns tat Freiherr Georg von Hohenfeld das Undenkbare. Er schloss ein geheimes Abkommen, das sieben seiner Knechte erlaubte, mit seiner eigenen Ehefrau, Freifrau Elisabeth von Hohenfeld, körperliche Beziehungen zu unterhalten. Was als verzweifelter Versuch begann, die Familienlinie zu retten, endete mit dem Untergang eines der angesehensten Häuser der Region.

Das Anwesen Hohenfeld lag inmitten der Hügel südlich von Augsburg, wo sich Felder und Wälder in der feuchten Sommerluft verloren. Der Freiherr, damals 52 Jahre alt, war eine imposante Erscheinung, hochgewachsen, von militärischer Haltung, das Gesicht von Jahren harter Disziplin gezeichnet.
Er war Nachkomme alter Offiziersfamilien, deren Name seit Generationen in den Registern der bayerischen Ritterschaft stand. Sein Gut umfasste über zwei Tagelöhner und Knechte, die auf den Feldern arbeiteten, im Sägewerk, in der Brauerei und in den Stallungen. Freifrau Elisabeth, seine Ehefrau seit 15 Jahren, galt im Umland als eine der schönsten Frauen des Landkreises.
Sie war 35 Jahre alt, zart, mit hellem Teint und blonden Haaren, die sie nach alter Sitte hochgesteckt trug. Ihre feinen Hände waren an das Spielen des Klaviers gewöhnt, nicht an Arbeit. Sie war in einem katholischen Kloster in München erzogen worden und sprach fließend Französisch. Ihre Ehe war im Jahre 1849 von den Familien arrangiert worden, um Besitz und Einfluss zu vereinen.
Doch in 15 Jahren war kein Kind am Leben geblieben. Vier Schwangerschaften hatte Elisabeth verloren. Jedes Mal im frühen Stadium, jedes Mal mit stillen Tränen und lateinischen Gebeten. Die Ärzte aus München erklärten, ihr Körper sei zu schwach, ihre Natur zu empfindlich. Für den Freiherrn aber war die Kinderlosigkeit mehr als persönliches Leid. Ohne Erben würde das Anwesen an entfernte Vettern fallen.
Männer, die nie gearbeitet, sondern nur geerbt hatten. Im katholischen Bayern jener Zeit galt ein Mann ohne Nachkommen als unvollständig, fast gestraft von Gott. Die Flüstereien in der Kirche St. Georg wurden lauter, jedes Mal, wenn der Freiherr und seine Frau bei der Messe in der ersten Reihe saßen.
Im Dezember des Jahres 1863 änderte sich alles. Ein Brief erreichte das Gut Hohenfeld, gebracht von einem Boten, der drei Tage lang geritten war. Er kam aus Franken vom Vetter des Freiherrn, Leopold von Reitzenstein, einem Mann mit zweifelhaftem Ruf, der bekannt war für ungewöhnliche Lösungen familiärer Probleme. Der Brief begann höflich, doch sein Inhalt war skandalös.
„Mein lieber Georg“, schrieb Leopold, „ich weiß von euren Mühen, einen Erben zu zeugen. Erlaube mir, dir eine Erfahrung zu schildern, die in unseren Kreisen ungewöhnlich, aber wirksam ist. Ein Gutsherr in meiner Nachbarschaft, Graf von Lichtenau, fand nach Jahren des Scheiterns auf erstaunliche Weise Erfolg.“
„Seine Frau gebar ihm drei kräftige Kinder, nachdem man gewisse gesunde Knechte aus dem Dorf herangezogen hatte.“ Der Brief beschrieb, wie wohlhabende Familien in Angst vor dem Erlöschen ihrer Linie heimlich Männer von kräftiger Statur und gutem Blut auswählten, um die Ehefrauen zu befruchten. Die Kinder wurden offiziell als legitim anerkannt. Niemand durfte je die Wahrheit erfahren.
Freiherr Georg las und las den Brief immer wieder. Er kämpfte zwischen Ekel und Hoffnung. Sein katholischer Glaube verwarf den Gedanken als Todsünde. Aber die Vorstellung, dass sein Name mit ihm sterben würde, nagte wie eine Krankheit an seinem Geist. Wochenlang ging er schweigend durch das Gut, beobachtete seine Leute bei der Arbeit. Er musterte sie mit neuen Augen.
Welche Männer waren stark, gesund, klug? Wessen Gesicht und Haltung hätten in seiner Familie keinen Verdacht erregt? Seine Gedanken wurden düsterer mit jedem Tag. Elisabeth spürte die Veränderung sofort. Ihr Mann war unruhig, sprach kaum, doch sein Blick ruhte immer häufiger auf ihr. Er stellte Fragen über ihren Zyklus, über ärztliche Ratschläge, über unnatürliche Wege, die Fruchtbarkeit zu fördern. Sie begann sich zu fürchten.
Eines Abends im Februar 1864 nach dem Abendessen stand er vor ihr mit der Entschlossenheit eines Mannes, der bereits die Grenze der Vernunft überschritten hatte. „Elisabeth“, sagte er leise, „wir müssen reden. Es gibt einen Weg, unseren Namen zu retten. Aber er verlangt Mut und Schweigen.“
Sie hörte ihm zu, erst mit Unglauben, dann mit wachsendem Entsetzen. Als sie verstand, was er verlangte, presste sie die Hände an die Brust und stieß ein heiseres „Nein“ aus. Doch der Freiherr sah sie nur an, ohne Zorn, aber mit einem Ausdruck, der keinen Widerspruch zuließ. In jener Nacht betete Elisabeth lange im Salon vor der Marienstatue, die sie aus München mitgebracht hatte.
Sie bat um ein Wunder, um Erlösung, doch die Antwort blieb aus. Am Morgen hatte Georg bereits begonnen, die Pläne umzusetzen. Er beauftragte den Arzt des Gutes, Dr. Heinrich Auer, mit Untersuchung zur allgemeinen Gesundheit der Knechte. Niemand ahnte, dass es in Wahrheit eine Auswahl war, ein perverses Katalogisieren von Körpern, Gesichtern und Temperamenten.
Der Freiherr machte sich Notizen in einem schwarzen Lederbuch, in dem er Namen, Alter und Herkunft vermerkte. Nach zwei Wochen hatte er sieben Männer ausgewählt. Sie sollten die Schlüsselfiguren eines Experiments werden, das die Grenzen von Moral und Menschlichkeit überschreiten würde. Die Auswahl der sieben Männer erfolgte mit einer Kälte, die selbst den erfahrenen Verwalter des Gutes erschütterte.
Sie hießen Johann Bauer, 23 Jahre alt, kräftig und wortkarg, der Schmied des Gutes. Matthias Reiter, 25 Jahre alt, von heller Haut und klarem Blick, ein Pferdeknecht. Lukas Weber, 27 Jahre alt, Schreiner mit feinem Gespür für Holz. Karl Dietrich, 24 Jahre alt, zuständig für die Brauerei. Anton Fogt, 28 Jahre alt, Landarbeiter mit außergewöhnlicher Ausdauer.
Peter Schenk, 26 Jahre alt, Gärtner, bekannt für seine stillen Gebete, und schließlich Franz Maurer, 32 Jahre alt, Aufseher in den Stallungen, ein Mann, dessen Ruhe selbst die unruhigsten Tiere beruhigte. Der Freiherr betrachtete sie nicht als Menschen, sondern als Mittel zu einem Zweck. In seinem Kopf hatten sich Vernunft und Wahnsinn bereits verbunden.
Er errichtete hinter der Scheune ein kleines Haus aus hellem Holz, gebaut mit nur einem Fenster und einer schweren Tür aus Eiche. Niemand durfte wissen, wofür dieses Gebäude bestimmt war. Offiziell nannte man es das „Haus der Ruhe“. Im März des Jahres 1864 ließ Georg die Männer eines Morgens antreten. Die Luft war kalt.
Nebel hing über den Feldern und der Atem der Pferde stieg wie Rauch in den Himmel. Die Männer standen in einem Halbkreis, den Blick gesenkt, während der Freiherr langsam an ihnen vorbeiging. „Ihr seid auserwählt“, begann er mit fester Stimme. „Ihr werdet an einer Aufgabe teilnehmen, die das Wohl dieses Hauses sichert.“
„Schweigen ist Pflicht, Gehorsam selbstverständlich. Wer sich widersetzt, verliert nicht nur das, was er besitzt, sondern auch das Leben.“ Seine Worte hallten über den Hof. Keiner wagte zu fragen. Dann sprach er weiter: „Ihr werdet meiner Frau in einer besonderen Sache dienen. Sie ist krank und euer Beitrag wird ihr helfen, gesund zu werden.“
Kein Muskel in seinem Gesicht verriet die Wahrheit. Die Männer nickten, einige aus Angst, andere aus unbegreiflicher Neugier. Elisabeth beobachtete alles aus dem Fenster des großen Hauses. Ihr Herz raste, während sie die Gestalten im Nebel sah. Ihr Ehemann hatte aus ihrem Gebet eine Hölle gemacht. Am selben Abend legte Georg die Regeln fest.
Jeder Mann sollte an einem bestimmten Wochentag erscheinen, stets zur selben Stunde, niemals ohne Aufsicht. Johann am Montag, Matthias am Dienstag, Lukas am Mittwoch, Karl am Donnerstag, Peter am Freitag, Franz am Samstag und Anton am Sonntag. Jeder, der das Schweigen brach, würde bestraft. Doch Georg versprach auch Belohnung: besseres Essen, saubere Kleidung, weniger Arbeit und falls ein Kind geboren würde, die Freiheit.
Diese letzte Verheißung ließ Hoffnung aufblitzen in den Augen der Männer, die sonst nichts besaßen, außer ihren Händen. Elisabeth, gezwungen in die Rolle einer Heiligen und Sünderin zugleich, schwieg. Sie hatte keinen Ausweg. Im April begann das Ritual. Der erste war Johann Bauer. An jenem Montag regnete es.
Die Tropfen prasselten auf das Dach, als wollte der Himmel selbst protestieren. Georg stand draußen vor der Tür, rauchte eine Zigarre und sah auf seine Uhr. Drinnen saß Elisabeth auf einem schlichten Bett, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Sie roch nach Lavendel und kaltem Schweiß. Als Johann eintrat, verbeugte er sich unbeholfen. Sie sagte kein Wort, er ebenso wenig.
Alles dauerte kaum zehn Minuten. Danach ging Johann hinaus, bleich und still, während Georg nur nickte, ohne ein Wort. Die folgenden Tage wiederholten das gleiche grausame Muster. Matthias zitterte so stark, dass er kaum stehen konnte. Lukas, der Schreiner, sprach ein Gebet, bevor er die Tür öffnete.
Karl sah Elisabeth nicht einmal an. Peter brachte ihr eine kleine Blume aus dem Garten, legte sie schweigend auf den Tisch. Es war der erste Akt von Menschlichkeit in diesem kalten Plan. Elisabeth bewahrte die Blume, trocknete sie heimlich zwischen den Seiten eines Gebetbuchs. So begann ein Monat, der den Freiherrn von Hohenfeld unsterblich machen sollte, aber nicht so, wie er hoffte. Der Mai brachte keine Ruhe auf das Gut Hohenfeld.
Die Sonne wärmte die Hügel und der Duft von Heu lag in der Luft, doch über dem Haus lastete eine unsichtbare Dunkelheit. Elisabeth bewegte sich wie ein Schatten durch die Räume. Ihre Augen waren leer, ihre Stimme brüchig. Die Bediensteten flüsterten, sie sei krank vom langen Fasten, denn oft verschwand sie in die kleine Kapelle des Hauses und blieb dort stundenlang auf den Knien.
Niemand wagte zu fragen, warum der Freiherr nun täglich das kleine Holzhaus hinter der Scheune besuchte. Er nannte es seine „Werkstatt der Hoffnung“. Der Arzt Dr. Heinrich Auer kam regelmäßig vorbei, ohne zu ahnen, was er indirekt ermöglicht hatte. Georg nannte die Untersuchung „präventivmedizinische Kontrollen“, doch sie dienten nur dazu, die körperliche Eignung der Knechte zu bestätigen. Im Innern des Freiherrn tobte ein Sturm. Er betete nicht mehr.
Er dachte nur an das Ziel. Ein Kind, einen Erben, einen Namen, der nicht sterben durfte. Elisabeth dagegen betete um Erlösung und manchmal, wenn sie allein war, sprach sie leise zu den Engeln. Ihr Blick wanderte dann zu dem kleinen Fenster der Werkstatt, das man von der Küche aus sehen konnte.
Sie wusste, wann dort Licht brannte, und jedes Mal fühlte sie, wie etwas in ihr starb. Der Mai wurde zum Monat der Wiederholung. Tag für Tag, Woche für Woche kamen die Männer einzeln, schweigend und gingen ebenso schweigend. Der Freiherr führte Buch über jeden Besuch, als handle es sich um einen wissenschaftlichen Versuch.
Einmal notierte er: „Dienstag, Matthias, gesund, ruhig, gehorsam, keine Auffälligkeiten.“ Ein anderes Mal schrieb er: „Freitag, Peter brachte Blume, unzulässig, aber geduldet.“ Elisabeth las diese Aufzeichnungen später heimlich, als er sie auf dem Schreibtisch liegen ließ. Jede Zeile schnitt tiefer als ein Messer.
Im Mai geschah etwas Unerwartetes. Franz Maurer, der Stallaufseher, weigerte sich, an seinem zugewiesenen Samstag das Haus zu betreten. Er stand draußen, die Mütze in der Hand und sagte mit zitternder Stimme: „Herr, ich kann das nicht mehr tun. Es ist gegen Gott, gegen alles, was recht ist.“ Georgs Gesicht verfärbte sich. Seine Stimme wurde hart.
„Du wirst tun, was ich dir befehle. Du gehörst mir. Dein Glaube hat hier keinen Platz.“ Franz kniete nieder und begann laut das Vaterunser zu sprechen. Die Knechte, die zufällig in der Nähe waren, hörten es und blickten verstohlen hinüber. Georg trat vor ihn, hob den Stock, doch in diesem Moment erschien Elisabeth in der Tür.
Sie sah die Szene und rief: „Lass ihn, bitte. Er ist nur ein Mensch, kein Werkzeug.“ Es war das erste Mal, dass sie sich seit Beginn des Abkommens widersetzte. Georg senkte langsam den Arm. Sein Blick blieb kalt. „Dann soll er gehen“, sagte er schließlich. Am nächsten Tag schickte er Franz fort, offiziell, um die Aufsicht über ein entferntes Nebengut zu übernehmen.
In Wahrheit sollte er verschwinden, bevor jemand zu viel verstand. Der Sonntag blieb leer. Niemand kam. Elisabeth saß allein in der kleinen Hütte, hörte die Glocken von St. Georg läuten und fragte sich, ob ihre Seele noch zu retten war. Georg beobachtete sie heimlich aus der Ferne. In seinem Tagebuch notierte er: „Franz versetzt. Der Plan bleibt bestehen.“
„Ergebnisse abwarten.“ Der Sommer stand vor der Tür und in den Nächten konnte man das Zirpen der Grillen hören. Doch für die Bewohner des Gutes war die Welt stumm geworden. Nur die Uhr im Salon schlug unaufhörlich die Stunden, als wollte sie die Schuld messen, die über das Haus Hohenfeld hereingebrochen war.
Im Juni des Jahres 1864 begann die Luft schwer zu werden. Ein feuchter, warmer Wind zog über die Wiesen und die Hitze legte sich wie ein Schleier auf das Land. Auf dem Gut Hohenfeld herrschte eine unnatürliche Stille. Die Knechte arbeiteten mit gesenkten Köpfen. Die Dienstmädchen wagten kaum zu sprechen. Niemand wusste genau, was sich zwischen dem Freiherrn und seiner Frau abspielte.
Doch jeder spürte, dass das Haus von einer dunklen Macht beherrscht wurde. Elisabeth hatte sich verändert. Ihre Gestalt war blasser geworden, ihre Bewegungen langsamer. Oft saß sie im Garten auf der Steinbank, die Hände im Schoß und starrte auf die Lindenallee, wo das Licht durch die Blätter fiel. An manchen Tagen summte sie leise Kirchenlieder, als wolle sie sich selbst daran erinnern, dass sie noch lebte.
Georg beobachtete sie aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Er war zufrieden, aber auch rastlos. Er hatte das Gefühl, die Zeit arbeite gegen ihn. Wenn Elisabeth nicht bald schwanger würde, drohte sein Plan zu scheitern. Der Arzt kam häufiger vorbei, brachte Kräuter, Tonika, empfahl Spaziergänge. Niemand ahnte, dass hinter den verschlossenen Türen der Werkstatt der Hoffnung weiterhin die heimlichen Treffen stattfanden.
Matthias, der Pferdeknecht, war nun zweimal wöchentlich eingeteilt, weil Georg glaubte, er sei vielversprechend. Elisabeth ertrug es schweigend, mit dem Gesicht zur Wand gewandt, die Lippen zu einem stummen Gebet geformt. Eines Tages brachte Peter Schenk, der Gärtner, ihr wieder eine kleine Gabe. Diesmal einen Zweig Rosmarin. „Für die Seele, gnädige Frau“, flüsterte er. Sie nahm ihn entgegen und in diesem Augenblick trafen sich ihre Blicke.
Zum ersten Mal seit Wochen spürte Elisabeth so etwas wie menschliche Wärme. Als er ging, drückte sie den Zweig an die Brust. Georg beobachtete sie von weitem. Etwas in ihm regte sich. Nicht Eifersucht, sondern Misstrauen. In jener Nacht schrieb er in sein Notizbuch: „Peter zu freundlich, beobachten.“ Der Sommer brachte auch Gewitter.
In einer Nacht Ende Juni, als die Donnerschläge über das Tal rollten, wachte Elisabeth schweißgebadet auf. Sie glaubte, Stimmen zu hören, das Flüstern der Knechte, das Klirren von Ketten, das Weinen eines Kindes. Sie stand auf, ging barfuß durch den Flur und sah, dass das Licht in der Werkstatt noch brannte.
Georg saß dort allein, die Stirn auf die Hände gestützt, das schwarze Buch vor sich, der Regen prasselte gegen die Fenster und er murmelte unverständliche Worte. Elisabeth blieb im Schatten stehen, wagte nicht, ihn anzusprechen. In diesem Moment erkannte sie, dass ihr Mann den Verstand verloren hatte. Am nächsten Morgen sprach sie ihn nicht darauf an. Er schien ruhig, fast heiter, als wäre nichts geschehen.
Doch seine Augen hatten denselben starren Glanz wie der von Männern, die zu lange in die Dunkelheit geschaut hatten. Im Juli bemerkte sie zum ersten Mal Veränderungen in ihrem Körper. Übelkeit am Morgen, bleierne Müdigkeit, ein kaum wahrnehmbares Ziehen im Unterleib.
Sie wagte nicht darüber zu sprechen, doch ihr Blick verriet Hoffnung und Angst zugleich. Als der Arzt sie untersuchte, bestätigte er nach kurzem Zögern: „Gnädige Frau, ich gratuliere. Es scheint, als habe der Himmel Ihnen endlich ein Kind geschenkt.“ Georg stand daneben und in seinen Augen blitzte ein Triumph auf, den er kaum verbergen konnte. Er griff nach Elisabeths Hand, doch sie entzog sie ihm.
In jener Geste lag alles: Scham, Schmerz und stille Verachtung. Der Arzt bemerkte nichts, sprach noch über Kräuter und Schonung und ging. Erst als die Tür sich schloss, sagte Georg leise: „Gott hat uns erhört.“ Elisabeth antwortete nicht. Sie sah zum Fenster hinaus, wo das Licht des Nachmittags auf die Felder fiel und dachte: „Nein, nicht Gott, nur du.“
Der Juli verging in einem seltsamen Schwebezustand. Das Gut Hohenfeld schien nach außen hin wieder in Ordnung. Die Ernte war reichlich, die Scheunen füllten sich und in der Kirche lobte der Pfarrer in seiner Predigt das Gedeihen der christlichen Haushalte. Niemand ahnte, dass sich hinter den Mauern des Herrenhauses ein anderes Drama abspielte.
Elisabeths Schwangerschaft wurde bald sichtbar und das Personal flüsterte heimlich: „Der Herr habe endlich Gottes Segen empfangen.“ Georg ließ Wein ausschenken, lud den Arzt und den Bürgermeister ein, um das Wunder zu feiern. Er sprach von Vorsehung, von göttlicher Gnade, von der Fortsetzung des Namens Hohenfeld. Doch wenn er allein war, las er heimlich im schwarzen Buch.
Er blätterte zurück zu den Daten der Begegnungen, versuchte zu rechnen, zu vergleichen und jedes Mal schloss er das Buch mit zittrigen Händen. Er wusste, er konnte nicht wissen. In seinem Geist begannen Zweifel zu wachsen, wie Efeu an einer Mauer. Elisabeth verbrachte die Tage fast ausschließlich in ihrem Zimmer.
Sie sprach wenig, aß kaum, und wenn sie lächelte, dann nur, wenn sie allein war und das sanfte Schlagen eines Herzens im Bauch fühlte. Doch in ihren Träumen tauchten die Gesichter der Männer auf, verschwommen, ohne Stimme, aber voller Leid. Manchmal wachte sie mit Tränen auf, flüsterte ein Gebet und schlief wieder ein. Im August wurden die Gewitter häufiger.
Eines Nachts weckte ein Schrei die Bediensteten. Sie rannten in das Herrenhaus, doch Georg ließ niemanden hinein. Als die Haushälterin am Morgen das Zimmer betrat, fand sie die Freifrau bewusstlos, aber lebend. Später erzählte der Arzt, es sei nur ein nächtlicher Schwindel gewesen, eine Folge der Schwangerschaft.
Doch Elisabeth wusste, was sie gehört hatte. Ein Flüstern am Ohr, leise wie Wind durch eine Kapelle: „Dein Kind ist nicht seins.“ Sie schwieg, doch das Flüstern blieb. Der Freiherr befahl, dass die Knechte das kleine Holzhaus abreißen sollten. „Es hat seinen Zweck erfüllt“, sagte er knapp. Niemand widersprach. Doch bevor die Männer begannen, schlich Peter Schenk, der Gärtner, in der Dämmerung hinein.
Er fand dort das Gebetbuch mit der gepressten Blume und nahm es an sich. Er bewahrte es wie eine Reliquie, ohne zu wissen warum. Im September brachte der Arzt neue Anweisungen: Ruhe, frische Milch, Spaziergänge.
Georg begleitete Elisabeth jeden Nachmittag durch die Obstgärten und die Leute sagten: „Das Paar habe sich wieder versöhnt.“ Aber zwischen ihnen lag eine unsichtbare Mauer. Wenn ihre Hände sich zufällig berührten, zuckte Elisabeth zurück. Im Oktober fiel der erste Schnee über die Hügel. Das Haus roch nach Kaminholz und Kräutern. Elisabeths Bauch war nun rund und schwer und der Arzt sagte, das Kind werde im Frühling kommen.
Georg begann das Kinderzimmer vorzubereiten. Er ließ eine Wiege aus Eichenholz anfertigen, reich verziert, mit geschnitzten Lilien und Kreuzen. „Für unseren Erben“, sagte er, als er sie ihr zeigte. Elisabeth antwortete: „Vielleicht ist es eine Tochter.“ Er schwieg. In seiner Vorstellung gab es keinen Platz für ein Mädchen. Als der Winter kam, war das Gut still.
Nur der Wind sang durch die alten Linden und das Heulen der Wölfe war manchmal in der Ferne zu hören. Elisabeth verbrachte viele Nächte wach, strich über ihren Bauch und flüsterte: „Wer du auch bist, ich werde dich lieben.“ Sie wusste, dass sie mit diesem Kind den Preis für alles bezahlen würde. Georg hingegen begann, häufiger Wein zu trinken.
Er sprach in Rätseln, erzählte dem Arzt von Träumen, in denen schwarze Kinder lachten, und lachte dann selbst kurz und hart. Dr. Auer schwieg. Er hatte gelernt, keine Fragen zu stellen. Als das Jahr zu Ende ging, lag Schnee über den Feldern. Das Gut Hohenfeld wirkte friedlich, doch jeder, der an der alten Kapelle vorbeiging, spürte es.
Unter der Erde schlief etwas, das eines Tages aufwachen würde. Der Januar des Jahres 1865 brachte Frost so hart, dass selbst die Dachziegel des Gutshauses Risse bekamen. Die Teiche waren zu Eis erstarrt und die Knechte hackten täglich Löcher hinein, um das Vieh zu tränken. Das Knirschen des Schnees war das einzige Geräusch auf dem Hof.
Im großen Haus saß Elisabeth am Fenster ihres Schlafzimmers, eingehüllt in Decken, und sah hinaus auf die weiße Welt. Ihre Hände ruhten auf dem gewölbten Bauch und manchmal summte sie leise eine Melodie aus ihrer Kindheit im Kloster von München. Es war der einzige Trost, der ihr geblieben war. Georg hingegen war wie besessen von der Vorstellung, die Geburt müsse vollkommen verlaufen.
Er hatte die Hebamme aus Augsburg kommen lassen, eine Frau namens Gertrud Stein. Streng, erfahren, schweigsam. Der Arzt Auer kam alle zwei Tage, notierte akribisch den Puls, das Gewicht, die Ernährung. Niemand durfte Fehler machen. Georg schritt durchs Haus wie ein Offizier vor der Schlacht.
Sein Blick war fest, aber in seinen Augen glomm etwas, das an Wahnsinn erinnerte. Eines Abends, während der Wind gegen die Fenster pfiff, wagte Elisabeth eine Frage, die sie lange zurückgehalten hatte. „Georg“, sagte sie mit leiser Stimme. „Wenn das Kind geboren ist, wirst du es lieben, egal wie es aussieht?“ Er sah sie lange an, bevor er antwortete. „Es wird aussehen wie ich.“ Sein Ton ließ keinen Zweifel zu.
Sie schwieg. Die Tage vergingen und Elisabeths Zustand verschlechterte sich. Die Nächte wurden von Schmerzen und Fieber unterbrochen. Die Hebamme sprach von Wehenvorboten. Doch Elisabeth wusste, dass es mehr war, ein inneres Beben, das aus Angst geboren wurde. Sie träumte von sieben Männern, die um ihr Bett standen, stumm, mit ernsten Gesichtern.
Einer von ihnen, der Gärtner Peter, hielt die gepresste Blume in der Hand und flüsterte: „Erkenne, was du geschaffen hast.“ Sie schreckte hoch, schweißgebadet, das Herz raste. Am 15. März, in den frühen Morgenstunden, setzten die Wehen ein. Der Schnee lag noch auf den Feldern, aber in der Ferne hörte man schon das Tropfen des Tauwassers.
Die Geburt dauerte viele Stunden. Gertrud Stein gab Anweisungen, der Arzt stand bereit und Georg ging rastlos auf und ab, die Zigarre in der Hand, die er immer wieder anzündete und wieder verlöschen ließ. Kurz nach Mitternacht ertönte ein schwaches Wimmern.
„Ein Mädchen“, sagte die Hebamme, als sie das Neugeborene hob. „Gesund, stark.“ Georg trat näher. Im Kerzenschein sah er das Gesicht des Kindes und erstarrte. Die Haut war dunkler, als er erwartet hatte, die Haare leicht gelockt und in den Zügen lag etwas, das ihn an niemanden seiner Familie erinnerte. Er blinzelte, trat einen Schritt zurück, doch niemand sagte etwas.
Der Arzt räusperte sich, die Hebamme hielt den Atem an. Elisabeth streckte die Arme aus. „Gib sie mir“, flüsterte sie. Gertrud legte ihr das Kind in den Arm. Elisabeth küsste es auf die Stirn und begann zu weinen. Leise, erschöpft, aber mit einer Zärtlichkeit, die alles um sie herum verschwinden ließ. Georg stand am Fenster, blickte hinaus in die Nacht.
Draußen fegte der Wind den Schnee über die Felder und in der Ferne läuteten die Glocken von St. Georg. Niemand sprach. Schließlich sagte der Arzt: „Herr Freiherr, ich werde den Namen in die Kirchenbücher eintragen. Wie soll sie heißen?“ Georg antwortete mechanisch: „Maria, Maria von Hohenfeld.“ Dann verließ er den Raum ohne ein weiteres Wort.
In jener Nacht begann der wahre Zerfall des Hauses Hohenfeld. Der Frühling des Jahres 1865 brachte Tauwetter und Vogelgesang, doch im Haus Hohenfeld herrschte eine bedrückende Stille. Die Geburt war überstanden. Das Kind lebte, doch niemand wagte darüber zu sprechen. Die Dienerschaft flüsterte hinter verschlossenen Türen.
Sie hatten die Kleine gesehen mit ihrer leicht dunkleren Haut und den schwarzen Locken, die wie eine Frage an Gott selbst wirkten. Elisabeth nannte sie Maria und hielt sie fast ununterbrochen im Arm. Für sie war das Kind Segen und Erlösung zugleich, der Beweis, dass in der Hölle, die ihr Mann geschaffen hatte, noch Liebe wachsen konnte. Georg hingegen sprach kaum.
Er sah das Kind selten an und wenn, dann nur mit einem flüchtigen prüfenden Blick. In seinem Inneren kämpften zwei Stimmen. Die eine sagte: „Das sei sein Erbe, sein Blut, sein Sieg über das Schicksal.“ Die andere flüsterte, dass das Gesicht des Kindes ihn verriet. Der Arzt, Dr. Auer, hatte das Gleiche bemerkt, doch er schwieg.
In seinen Notizen stand nur: „Mutter gesund, Kind kräftig, Vater nervös.“ Die Hebamme hatte das Gut längst verlassen und die Spuren jener Nacht schienen beseitigt. Doch in den Augen der Bediensteten lag etwas Neues: Furcht, nicht vor Strafe, sondern vor Schicksal. Im Mai lud Georg die Nachbarn zu einem Tauffest ein. Die Kirche von St. Georg war festlich geschmückt.
Der Pfarrer sprach über göttliche Prüfung und das Taufwasser glitzerte im Sonnenlicht. Elisabeth hielt das Kind in weißen Tüchern, während Georg daneben stand, den Blick starr nach vorne gerichtet. Als der Pfarrer fragte, ob er das Kind als sein eigenes anerkenne, nickte Georg knapp. Ein leises Murmeln ging durch die Gemeinde.
Danach, beim Empfang im Herrenhaus, versuchten die Gäste unauffällig das Kind zu betrachten. Eine ältere Dame, die Frau des Richters, flüsterte: „Ein hübsches Mädchen, aber das Haar, erinnert an südliche Länder.“ Georg hörte es. Er lächelte, doch seine Hand umklammerte das Glas so fest, dass es beinahe zerbrach. In den folgenden Wochen wuchs Maria heran.
Sie war still, aufmerksam, mit großen dunklen Augen, die alles zu sehen schienen. Elisabeth sang ihr Schlaflieder aus ihrer Klosterzeit vor und erzählte ihr Geschichten von Engeln und Erlösung. Manchmal, wenn Georg das hörte, stand er in der Tür, rauchte und sagte nichts. Sein Blick war leer. In der Nacht trank er Wein und blätterte in seinem schwarzen Buch.
Er suchte nach Mustern, Zeichen, Beweisen, irgendetwas, das ihm sagen konnte, welcher der sieben Männer es gewesen war. Aber jede Seite war nur eine Erinnerung an seine eigene Schuld. Im Sommer kam Peter Schenk, der Gärtner, einmal zu Elisabeth, um Kräuter für ein Bad zu bringen. Sie sah ihn zum ersten Mal seit der Geburt. Zwischen ihnen lag eine unausgesprochene Wahrheit. Peter sagte leise: „Sie ist schön. Gnädige Frau.“
Elisabeth nickte und antwortete: „Ja, und sie wird frei sein.“ Es war das einzige Mal, dass sie miteinander über das Kind sprachen. Doch Georg hatte die Begegnung gesehen. In der Nacht stellte er Peter zur Rede. „Was hast du zu meiner Frau gesagt?“, fragte er, die Stimme eisig.
Peter erwiderte ruhig: „Nur, dass das Kind schön ist.“ Georg schlug ihn. Einmal hart, dann noch einmal. „Du wirst schweigen“, zischte er. Peter wischte sich das Blut von der Lippe, sah ihm in die Augen und sagte: „Ich habe geschwiegen, Herr, aber Gott nicht.“ Am nächsten Morgen war Peter verschwunden.
Georg behauptete, er habe ihn zur Arbeit auf ein anderes Gut geschickt, doch niemand sah ihn je wieder. Elisabeth stellte keine Fragen. Sie wusste, dass ihr Mann endgültig verloren war. Die Tage vergingen. Maria lernte zu lächeln und in ihrem Lächeln lag etwas, das Elisabeth glauben ließ, das Gute könne überleben, selbst in einem Haus, das von Schuld erbaut war.
Doch tief im Keller, in einer Truhe aus Eichenholz, lag das schwarze Buch und es roch nach Wachs, Staub und Sünde. Der Herbst kam früh in jenem Jahr mit Nebel, der die Hügel umhüllte, und einem feuchten Wind, der durch die Ritzen des Hauses kroch. Maria war nun ein halbes Jahr alt und ihr Lachen erfüllte manchmal die stillen Flure des Gutshauses. Für Elisabeth war dieses Lachen das einzige Licht.
Sie hatte begonnen wieder zu lächeln, doch in ihrem Blick lag etwas Zerbrechliches, als fürchte sie, dass jeder Tag der letzte sein könnte. Georg hingegen sprach kaum noch. Er aß allein, las keine Zeitung mehr und verbrachte Stunden im Arbeitszimmer, in das niemand eintreten durfte. Wenn Elisabeth an der Tür vorbeiging, hörte sie manchmal, wie er leise murmelte, Wörter, die wie Gebete klangen, doch keine waren.
Im Oktober kam ein Brief aus München. Die Cousine des Freiherrn, Gräfin Therese von Waldenfels, kündigte ihren Besuch an. Sie war eine kluge, stolze Frau, bekannt für ihre scharfe Zunge. Georg konnte ihren Besuch nicht ablehnen, also bereitete man das Gästezimmer vor, ließ Wein und Gebäck kommen und Elisabeth ordnete alles, so gut sie konnte.
Am Tag der Ankunft herrschte Unruhe. Die Gräfin stieg in schwerem Reisekleid aus der Kutsche, sah sich um und sagte: „Mein lieber Georg, dein Haus wirkt still, zu still.“ Dann bemerkte sie das Kind in Elisabeths Arm. „Ah, das muss also die kleine Maria sein“, sagte sie, beugte sich vor und musterte das Mädchen aufmerksam.
Ihre Augen verengten sich leicht, doch sie lächelte höflich. „Ein starkes Kind, ganz der Vater, nicht wahr?“ Elisabeth spürte, wie ihr Herz stockte. Georg antwortete nur: „Natürlich.“ Am Abend beim Essen sprach die Gräfin viel. Sie erzählte von der Stadt, von den Bällen, von Politik. Georg trank mehr als üblich und irgendwann fragte sie beiläufig: „Man erzählt, du hast besondere Ärzte aus Augsburg kommen lassen wegen familiärer Schwierigkeiten.“ Das Messer fiel ihm aus der Hand.
Er zwang ein Lächeln hervor. „Gerüchte, du weißt, wie das Landvolk ist.“ Sie nickte, doch in ihren Augen blitzte es. Elisabeth wusste, dass sie etwas ahnte. In den nächsten Tagen beobachtete die Gräfin alles, das Kind, die Knechte, den Blick ihres Cousins. Eines Abends, als sie Elisabeth allein traf, sagte sie leise: „Ich habe Dinge gehört, die ich lieber nicht glauben möchte. Man spricht von sonderbaren Hausregeln hier.“
„Sag mir, Kind, was hat dein Mann getan?“ Elisabeth schwieg. Sie fühlte, wie ihr der Atem stockte. „Manchmal“, flüsterte sie schließlich, „ist Schweigen das einzige, was uns schützt.“ Die Gräfin seufzte. „Dann bete, dass es genügt.“ Zwei Tage später reiste sie ab. Georg begleitete sie bis zur Kutsche. Als sie einstieg, beugte sie sich zu ihm und sagte halblaut: „Manche Geheimnisse sind wie Blut, Georg, sie trocknen nie.“
Er stand da, während die Kutsche im Nebel verschwand. Als er ins Haus zurückkehrte, war sein Gesicht bleich. Er rief den Verwalter, befahl neue Anweisungen für die Knechte, sprach von Ordnung und Disziplin, doch seine Stimme zitterte. In jener Nacht suchte er Elisabeth in ihrem Zimmer auf.
Sie hielt Maria im Arm. „Therese weiß etwas“, sagte er. „Dann bete, dass sie schweigt“, antwortete sie ruhig. Er trat näher, beugte sich über das Kind und flüsterte: „Wenn jemand uns verrät, wird er es bereuen.“ Elisabeth schloss die Augen. Sie wusste, dass ihr Mann kein Gebet mehr kannte, nur noch Drohung.
Draußen fiel der erste Schnee des Jahres. Die Glocken von St. Georg läuteten zur Abendandacht. Im Kamin prasselte das Feuer und Maria schlief friedlich, ohne zu wissen, dass über ihrem kleinen Leben ein Sturm aufzog, der alles zerstören sollte. Der Winter des Jahres 1865 war der kälteste, den die Menschen in der Gegend je erlebt hatten. Schnee lag meterhoch auf den Feldern.
Die Bäume standen kahl und schwarz gegen den grauen Himmel. Die Wege zum Dorf waren wochenlang unpassierbar. Das Gut Hohenfeld war wie abgeschnitten von der Welt, eine Insel aus Schweigen und Schuld. Im großen Haus brannten die Kamine Tag und Nacht, doch die Wärme drang nicht in die Herzen. Georg sprach fast gar nicht mehr.
Er ging morgens hinaus in die Scheune, kam spät zurück und trank sich schweigend in den Schlaf. In seinem Blick lag ein Schatten, als habe er etwas gesehen, das kein Mensch sehen sollte. Elisabeth lebte wie in Trance. Sie kümmerte sich um Maria, sang ihr leise Schlaflieder und las ihr aus Gebetbüchern vor, als könne das Kind ihre Worte verstehen.
Manchmal, wenn das Feuer im Kamin knisterte, stellte sie sich vor, dass jede Flamme ein Engel sei, der sie und das Kind schützte. Doch tief in ihr nagte eine Angst, die sie nicht benennen konnte. Im Januar kam die Nachricht, dass Gräfin Therese in München plötzlich erkrankt sei. Manche sagten, es sei ein Herzleiden gewesen, andere flüsterten von Gift.
Georg las den Brief, legte ihn schweigend beiseite und sagte nur: „Gott richtet jeden nach seinem Wissen.“ Elisabeth wagte nicht zu fragen, ob er etwas damit zu tun hatte. Maria wuchs und begann zu krabbeln. Ihr Lachen hallte durch die Gänge und manchmal blieb selbst Georg stehen, lauschte kurz, als erkenne er in diesem Klang etwas Reines, das ihn fast berührte. Dann drehte er sich ab.
Eines Abends kam der Arzt wieder, um nach dem Kind zu sehen. „Sie ist kräftig“, sagte er, „aber ihr Blick? Er ist ungewöhnlich klug für ihr Alter.“ Georg nickte nur. „Man sagt, Kinder spüren die Geheimnisse ihrer Eltern“, fügte der Arzt leise hinzu. Georg sah ihn an, so kalt, dass Auer verstummte.
Danach kam der Arzt nie wieder ohne Einladung. Im Februar geschah etwas Seltsames. Mehrere Knechte berichteten, nachts Schritte auf dem Dachboden gehört zu haben, obwohl niemand dort oben war. Elisabeth hörte es auch. Ein leises Poltern, gefolgt von einem Flüstern, als rufe jemand ihren Namen. Eines Nachts nahm sie eine Kerze und ging allein hinauf.
Der Dachboden war leer, doch in einer Ecke lag das alte Gebetbuch mit der gepressten Blume, das Peter einst zurückgelassen hatte. Sie erkannte es sofort. Es war sauber, als sei es gerade erst dorthin gelegt worden. Sie kniete nieder, öffnete es und sah auf der Innenseite eine neue Zeile, mit fremder Handschrift geschrieben: „Das Blut spricht.“ Sie ließ das Buch fallen und rannte hinunter.
Georg wartete im Salon, als sie hereinstürzte. „Was ist?“, fragte er. Sie konnte nicht sprechen. Er nahm ihr das Buch ab, blätterte darin, doch die Schrift war verschwunden. Nur die gepresste Blume lag noch zwischen den Seiten. „Du siehst Gespenster“, sagte er kühl. Doch in jener Nacht schlief er kein Auge. Am nächsten Tag ließ er alle alten Truhen und Bücher vom Dachboden entfernen und im Garten verbrennen.
Der Rauch stieg schwarz in den Himmel und die Bediensteten bekreuzigten sich. Elisabeth stand am Fenster, hielt Maria auf dem Arm und flüsterte: „Er verbrennt nicht nur Holz, er verbrennt sich selbst.“ Der Winter zog sich hin. Georg wurde immer unruhiger, redete manchmal im Schlaf, flüsterte die Namen der sieben Männer, als wolle er sie zählen.
Elisabeth begann, sich vor ihm zu fürchten. Sie verschloss nachts die Tür ihres Schlafzimmers und schlief mit dem Kind im Arm. Eines Morgens, als der Schnee zu schmelzen begann, fand man im Brunnen hinter der Scheune eine tote Krähe. Ihr Gefieder war schwarz wie Kohle, aber die Augen waren geöffnet, als sähen sie noch.
Der alte Knecht, der sie fand, sagte leise: „Ein Zeichen, ein Fluch liegt auf diesem Haus.“ Niemand widersprach ihm. Der Frühling des Jahres 1866 brachte kein Glück für das Gut Hohenfeld. Der Schnee war geschmolzen, aber die Erde blieb nass und schwer, und in der Luft hing ein Geruch von Moder, als würde der Winter nicht gehen wollen.
Die Knechte arbeiteten schweigend, die Ernte war schwach und das Vieh verendete ohne erkennbaren Grund. Manche sagten, der Hof sei verflucht, doch niemand sprach das laut aus, wenn der Freiherr in der Nähe war. Georg war nun nur noch ein Schatten seiner selbst. Er trank ununterbrochen, sprach mit niemandem und begann, sich vor Spiegeln zu fürchten.
Mehrmals befahl er, die großen Wandspiegel im Salon mit Tüchern zu verhängen. „Sie lügen“, sagte er. „Sie zeigen Dinge, die nicht da sind.“ Elisabeth beobachtete ihn mit einer Mischung aus Angst und Mitleid. Sie wusste, dass er nicht mehr derselbe war. In seinen Augen lag eine Dunkelheit, die kein Gebet erhellen konnte. Maria war nun fast ein Jahr alt.
Sie lief schon einige Schritte, lachte oft und sprach erste Worte. Doch Georg wich ihr aus. Wenn sie auf ihn zuging, drehte er sich um, als würde er sich vor ihr fürchten. Einmal, als sie seine Hand ergriff, starrte er sie an und flüsterte: „Deine Augen sind nicht die meinen.“ Elisabeth riss das Kind an sich und verließ den Raum.
Im Mai kam der Verwalter, um den Freiherrn auf offene Schulden hinzuweisen. „Die Händler aus Augsburg warten auf Bezahlung, Herr“, sagte er vorsichtig. Georg winkte ab. „Sie sollen warten. Ich habe Wichtigeres zu tun.“ Doch was er tat, wusste niemand. Er schloss sich oft im Arbeitszimmer ein, schrieb seitenlange Briefe, die er nie abschickte, und redete mit sich selbst.
Elisabeth fand eines dieser Schreiben später in der Feuerstelle, halb verbrannt. Die lesbaren Worte lauteten: „Das Blut vererbt mehr als Namen. Es vererbt Schuld.“ Im Juni erkrankte Maria schwer. Fieber, das nicht wich, und Schreie in der Nacht. Der Arzt kam wieder, diesmal besorgt. „Es ist nichts, was ich verstehe“, sagte er, „aber ich fürchte, das Kind trägt eine Bürde, die nicht von dieser Welt ist.“ Georg tobte.
„Unsinn. Heile sie, tu etwas.“ Doch der Arzt konnte nur die Schultern heben. Elisabeth wachte an Marias Bett, Tag und Nacht. Sie legte kalte Tücher auf ihre Stirn, sang alte Kirchenlieder, flüsterte: „Bleib bei mir, mein Engel.“ Nach drei Tagen sank das Fieber. Das Kind überlebte. Doch seitdem sah es anders aus.
Ernster, stiller, als hätte es etwas gesehen, was Kinder nicht sehen sollten. Im Juli begann Georg wieder nachts in die Scheune zu gehen. Er zündete Kerzen an, murmelte lateinische Worte, die niemand verstand. Die Knechte erzählten, sie hätten ihn dort sprechen hören, als würde er mit jemandem verhandeln. „Er ruft Geister“, sagte einer, „oder er bittet sie, ihm seinen Namen zurückzugeben.“
Eines Morgens fand Elisabeth auf dem Tisch im Salon das schwarze Buch. Es lag offen und auf der letzten Seite stand in großen, hastigen Buchstaben: „Ich weiß jetzt, wer es war.“ Es gab keine weiteren Worte. Sie schloss das Buch zitternd und versteckte es in der Truhe unter ihrem Bett.
In dieser Nacht träumte sie von sieben Männern, die im Kreis standen, schweigend mit leeren Augen. In der Mitte lag das Kind. Einer hob es hoch, doch es war nicht Maria. Es war etwas Anderes, etwas Altes, das aus der Dunkelheit geboren war. Sie wachte schreiend auf. Georg stand neben dem Bett, das Gesicht bleich, die Augen weit geöffnet. „Was hast du geträumt?“, fragte er. Sie schwieg.
Er beugte sich über sie, flüsterte: „Er hat es mir gesagt, der Gärtner. Er war es.“ Elisabeth verstand sofort. Er sprach von Peter Schenk, dem Mann, der verschwunden war. „Er ist tot, Georg“, sagte sie ruhig. „Tot?“ Er lachte leise. „Nein, nicht für mich, nicht für sie.“ Er deutete auf das schlafende Kind.
Von da an wagte Elisabeth nicht mehr nachts zu schlafen, wenn Georg im Haus war. Der August brachte schwüle Hitze über das Tal von Hohenfeld. Die Luft stand still und das Summen der Insekten vermischte sich mit dem Flüstern der Knechte, die sich nicht mehr trauten, nach Sonnenuntergang über den Hof zu gehen. Georg hatte sich vollständig in sich selbst zurückgezogen. Tagsüber sah man ihn kaum.
Nachts jedoch brannte Licht in seinem Arbeitszimmer oder in der alten Kapelle am Rande des Gutes. Manche behaupteten, sie hätten ihn dort auf den Knien gesehen, vor der Statue des Erzengels Michael, flüsternd und weinend. Andere schworen, sie hätten ihn lachen hören, wie ein Kind, das ein Geheimnis entdeckt hatte. Elisabeth lebte wie in einem fremden Haus.
Sie sprach kaum noch mit den Bediensteten, hielt sich von Georg fern und verbrachte jede wache Stunde mit Maria. Das Kind begann zu sprechen, aber ihre ersten Worte waren ungewöhnlich. Eines Morgens, als Elisabeth ihr Brot brach, sagte Maria mit klarer Stimme: „Mama, der Mann im Keller will nicht schlafen.“ Elisabeth erstarrte.
„Welcher Mann, mein Schatz?“ Das Kind lächelte nur. „Der mit dem Hut. Er redet mit Papa.“ Elisabeth rannte in den Keller, doch dort war nichts außer alten Fässern und Werkzeug. Trotzdem schwor sie, sie habe Schritte gehört, langsam, schwer, als folgten sie ihr. In dieser Nacht betete sie wieder, das erste Mal seit Jahren. „Heilige Maria, Mutter Gottes, beschütze mein Kind.“ Georg kam spät nach Hause.
Seine Kleidung roch nach Wachs und Erde. Er legte die Hände auf den Tisch, sah seine Frau an und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich weiß, dass du Angst hast. Aber du verstehst nicht. Ich tue das für uns.“
„Was tust du, Georg?“
„Ich bringe Ordnung in das Chaos. Ich hole zurück, was mir gehört.“
„Was dir gehört?“ Sie deutete auf das Kind. „Das ist kein Besitz, das ist deine Tochter.“ Er schwieg einen Moment, dann sagte er: „Sie ist nicht von mir.“ Elisabeth schloss die Augen. Sie wusste, dieser Satz war das Ende. In den folgenden Tagen verschlechterte sich Georgs Zustand rapide. Er sprach von Visionen, in denen die sieben Männer zurückkehrten.
„Sie kommen, um das Kind zu holen“, murmelte er. „Sie wollen ihren Anteil.“ Er befahl den Knechten, nachts Wachen aufzustellen, doch keiner wagte, sich dem Herrenhaus zu nähern. Eines Abends, kurz vor Mitternacht, wachte Elisabeth vom Geräusch eines Schreis auf. Sie sprang auf, nahm Maria aus dem Bett und eilte zum Flur. Unten im Salon sah sie ihren Mann.
Er stand vor dem Kamin, das schwarze Buch in der Hand, und rief: „Ich habe euch erlöst. Ihr schuldet mir Dank.“ Dann schleuderte er das Buch ins Feuer. Die Flammen loderten auf, als seien sie aus Öl. Elisabeth schrie: „Nein!“ Doch er drehte sich zu ihr um. In seinen Augen war kein Verstand mehr, nur Leere.
„Er ist fort“, sagte er. „Der Gärtner ist fort, aber er war hier. Ich habe ihn gesehen.“ Er trat näher, streckte die Hand nach Maria aus. „Gib sie mir. Ich muss wissen, ob sie…“
„Du wirst sie nie wieder berühren“, sagte Elisabeth, und ihre Stimme war fester als je zuvor. Er blieb stehen und für einen Moment sah es aus, als würde er weinen. Dann lachte er leise.
„Dann gehörst du zu ihnen?“ Er verließ den Raum und sie hörte, wie sich die Tür des Arbeitszimmers schloss. In jener Nacht schlief Elisabeth kein einziges Mal ein. Am Morgen war Georg verschwunden. Niemand wusste wohin. Seine Pferde standen noch im Stall. Seine Kleidung hing im Schrank.
Nur eines fand man auf dem Schreibtisch. Ein Blatt Papier, auf dem in großen krummen Buchstaben stand: „Ich habe bezahlt.“ Der Herbst kam und das Gut Hohenfeld verfiel. Rechnungen blieben unbezahlt, die Knechte verließen das Land und die Leute im Dorf erzählten, der Freiherr sei vom Teufel geholt worden. Elisabeth sagte nichts.
Sie wusste, dass er noch irgendwo war, nicht in dieser Welt, aber auch nicht in der anderen. Der Oktober brachte Sturm und Regen, als wollte der Himmel selbst die letzten Spuren des Hauses Hohenfeld fortwaschen. Die Fensterläden klapperten Tag und Nacht und das Dach tropfte an mehreren Stellen. Elisabeth kümmerte sich nicht darum.
Sie lebte nur noch für das Kind, das nun laufen, sprechen und lachen konnte, als sei es aus einer anderen, reineren Welt. Doch selbst das Lachen des Kindes schien manchmal die Schatten im Haus nicht vertreiben zu können. Nach Georgs Verschwinden hatte Elisabeth die Verwaltung des Gutes übernommen, so gut sie konnte. Sie verkaufte einige Ländereien, entließ Diener, die zu viel fragten, und begann selbst die Bücher zu führen.
Manchmal saß sie stundenlang in Georgs Arbeitszimmer, wo der Geruch von verbranntem Wachs und Wein noch in der Luft hing. Eines Abends, während der Regen gegen die Scheiben schlug, hörte sie Schritte auf dem Flur. Sie nahm eine Kerze, trat hinaus. Niemand war da. Doch am Ende des Ganges lag etwas, ein Stück verkohltes Papier, das eindeutig aus dem verbrannten Buch stammte.
Darauf stand nur ein Wort: „Zurück.“ Sie zitterte, nahm es und warf es ins Feuer. Doch in der Nacht träumte sie von Georg, wie er vor ihr stand, bleich und zerrissen, und sagte: „Du kannst nicht fliehen. Sie wollen, was ihres ist.“ Im November kam der Pfarrer von St. Georg, um sie zu besuchen. Er war ein alter Mann mit müden Augen.
„Man redet im Dorf, gnädige Frau“, sagte er. „Sie sagen, das Haus sei nicht mehr rein. Manche behaupten, sie sehen nachts Lichter auf den Feldern.“ Elisabeth senkte den Blick. „Lichter kann man nicht fürchten, Vater, nur Menschen.“ Der Pfarrer nickte langsam. „Dann beten Sie für Ihre Seele und für die des Herrn, wo immer er jetzt ist.“
Nach seinem Besuch verschlechterte sich alles. Die Nächte wurden ruhelos. Maria begann im Schlaf zu sprechen. „Mama, er steht im Garten“, sagte sie einmal mitten in der Dunkelheit. Elisabeth blickte hinaus und sah für einen Moment tatsächlich eine Gestalt im Nebel, reglos mit einem Hut.
Sie schloss die Fensterläden und sank auf die Knie. In den Tagen darauf wurde sie stiller. Sie aß kaum, sprach wenig. Die Bediensteten mieden sie aus Angst vor dem, was in ihren Augen lag. Nur das Kind blieb ihr Trost. Maria sprach mit einer Klarheit, die Elisabeth manchmal erschreckte. „Er kommt wieder, Mama, aber diesmal ist er traurig.“
Am ersten Advent läuteten die Glocken, während Schnee zu fallen begann. Elisabeth ging in die Kapelle des Hauses. Sie zündete Kerzen an und der Raum füllte sich mit warmem, flackerndem Licht. „Ich will, dass du betest, mein Kind“, sagte sie leise. Maria faltete die Hände. „Für Papa.“ Elisabeth nickte. „Ja, für Papa.“
In dieser Nacht, als das Haus still war, öffnete sich die Tür zur Kapelle von selbst. Ein Windzug löschte die Kerzen und aus der Dunkelheit ertönte ein leises Geräusch wie Schritte auf Stein, ganz nah. Elisabeth stand auf, nahm Maria auf den Arm und flüsterte: „Nicht zurücksehen.“ Sie eilte in ihr Zimmer, verschloss die Tür und draußen im Flur hörte sie das langsame, schwere Atmen eines Mannes.
Dann Stille. Am Morgen war nichts zu sehen. Nur der Schnee im Flur war zertreten, als sei jemand in der Nacht dort gestanden. Elisabeth wusste, dass die Vergangenheit nicht tot war. Sie lebte weiter in den Mauern, im Wind, im Blut. Der Winter des Jahres 1866 kam früh und brachte mit ihm eine eisige Ruhe, die das Land in Schweigen hüllte.
Das Gut Hohenfeld stand verlassen wie ein Grabmal. Nur drei Knechte waren geblieben, zu alt oder zu arm, um fortzugehen. Sie mieden das Haupthaus, wagten es kaum, nach Einbruch der Dunkelheit Feuer zu machen. Elisabeth lebte nun fast völlig abgeschieden.
Sie sprach mit niemandem, ging nur sonntags in die Kapelle, stets in Schwarz gekleidet. Maria, kaum zwei Jahre alt, folgte ihr überall hin. Ein stilles, ernstes Kind mit dunklen Augen, die alles zu sehen schienen. In jenen Monaten begann das Mädchen Fragen zu stellen, die kein Kind stellen sollte. „Mama, warum reden die Leute im Dorf nicht mit uns?“
„Weil sie Angst haben, mein Engel.“
„Vor wem?“
„Vor dem, was sie nicht verstehen.“ Doch in Wahrheit war es Elisabeth selbst, die Angst hatte vor dem, was sie verstand. Sie hatte gelernt, die Schritte in der Nacht zu erkennen, das Knarren der Dielen, das leise Flüstern im Kamin. Manchmal schien es, als atme das Haus, als lebe es von ihrer Furcht.
Eines Abends, als der Schnee lautlos fiel, fand sie im Kinderzimmer etwas Merkwürdiges. Auf dem Boden waren Kreise aus Asche gezogen, sorgfältig, präzise, als habe jemand ein Zeichen hinterlassen. In der Mitte lag ein kleiner verkohlter Holzsplitter, eindeutig aus dem verbrannten Buch. Sie warf ihn ins Feuer, doch er brannte nicht. In dieser Nacht träumte sie von Georg.
Er stand auf dem Feld vor dem Haus, barfuß im Schnee, die Hände blutig, die Augen leer. „Du hast mich vergessen“, sagte er. „Aber ich vergesse nicht.“ Dann drehte er sich um und verschwand im Nebel. Am nächsten Morgen schrie Maria im Schlaf. Elisabeth weckte sie, doch das Kind weinte nur und sagte: „Papa war hier, er wollte mich mitnehmen.“
Von da an wich Elisabeth nicht mehr von ihrer Seite. Sie ließ Kerzen in jedem Raum brennen, trug ein Kreuz aus Silber um den Hals, das sie nie ablegte. Der Pfarrer kam noch einmal, brachte Weihwasser und segnete das Haus, doch selbst er sah bleich aus, als er ging. „Es ist nicht der Ort, der sündigt“, sagte er.
„Es sind die Herzen, die ihn nicht loslassen.“ Der Januar brachte Sturm und Kälte. In einer Nacht, als das Heulen des Windes wie Stimmen klang, stand Elisabeth am Fenster und sah hinaus. Auf dem verschneiten Feld stand eine Gestalt, unbeweglich, schwarz, ohne Gesicht. Sie schloss die Augen, betete und als sie wieder hinsah, war sie verschwunden.
Doch am nächsten Tag fand man im Schnee vor dem Haus Fußspuren, bloße Füße, tief im Eis. Maria begann krank zu werden. Fieber, Husten, Schwäche. Der Arzt aus dem Dorf kam, sah das Kind an und sagte leise: „Ich kann nichts tun.“ Elisabeth verbrachte Tage an ihrem Bett, hielt ihre kleine Hand, flüsterte Gebete, die sie längst vergessen hatte.
„Gib sie mir nicht weg“, bat sie in die Dunkelheit. „Nimm alles, nur nicht sie.“ In jener Nacht, als der Wind an den Mauern riss, hörte sie eine Stimme, leise, vertraut, direkt neben ihrem Ohr: „Du hast mich verraten, Elisabeth.“ Sie fuhr herum. Niemand war da. Nur der Kerzenschein zitterte. Dann sah sie es. Auf dem Spiegel gegenüber stand in beschlagener Schrift ein Wort: „Schuld.“
Sie kniete nieder und begann zu weinen. „Ja“, flüsterte sie. „Ich bin schuldig.“
„Er nicht.“ Das Kind schlief ruhig weiter, während draußen der Sturm tobte, und in der Ferne, über den Hügeln, läuteten die Glocken von St. Georg dumpf, als klängen sie unter der Erde. Der Februar des Jahres 1866 war von einer bleiernen Stille erfüllt.
Der Schnee hatte sich in graue, harte Krusten verwandelt und der Wind blies kalt aus den Bergen wie ein letzter Atemzug des Winters. Das Gut Hohenfeld war kaum noch bewohnt. Nur das Echo der Vergangenheit wanderte durch die Flure. Elisabeth bewegte sich wie ein Geist durch die Zimmer, die Kerze in der Hand, die Augen tief eingesunken. Maria lag im Bett, das Gesicht fiebrig, der Atem flach.
Das Kind sprach im Halbschlaf, Worte, die nicht wie ihre klangen. „Er ist hier, Mama. Er steht am Tor.“ Elisabeth wagte nicht hinauszusehen. Sie wusste, was sie sehen würde. In der dritten Nacht des Monats erwachte sie von einem Geräusch. Schritte auf dem Flur, schwer, langsam, vertraut. Sie stand auf, nahm das Kruzifix, das über dem Bett hing und öffnete die Tür.
Der Flur war leer, doch auf dem Boden lagen nasse Spuren, nackte Fußabdrücke, die zum Arbeitszimmer führten. Sie folgte ihnen, das Herz klopfend. Die Tür stand offen. Drinnen flackerte eine einzelne Kerze und auf dem Schreibtisch lag das schwarze Buch – unversehrt, kein Staub, keine Brandspuren, als wäre es nie verbrannt.
Sie trat näher, zögernd, und las die erste Zeile. „Ich bin nicht fort.“ Die Schrift war Georgs. Sie schlug um. Auf der nächsten Seite stand: „Blut ist Erinnerung. Sie wird sich wiederholen.“ Ein Windstoß erlosch die Kerze. Elisabeth schrie, griff nach dem Kind, das inzwischen aufgewacht war und weinte.
Sie rannte mit Maria in die Kapelle, schloss die Tür und kniete nieder. „Heilige Mutter, hilf uns“, flüsterte sie. Doch dann hörte sie eine andere Stimme, nicht laut, aber nah, in ihr selbst. „Es war nie Gottes Wille, Elisabeth, nur deiner.“ Da wusste sie, dass es keinen Ausweg gab. Die Schuld war in sie eingewachsen wie Wurzeln, die kein Feuer mehr verbrennen konnte.
Sie blickte auf ihre Tochter, streichelte ihr Haar und in ihren Augen lag die ganze Müdigkeit der Welt. „Du wirst leben, mein Kind“, sagte sie leise. „Nicht hier, nicht in diesem Haus. Ich lasse dich frei.“ Am Morgen fand man die kleine Maria schlafend in der Kapelle, in Decken gehüllt. Elisabeth lag daneben, leblos, das Kruzifix in den Händen, ein leises Lächeln auf den Lippen.
Auf der letzten Seite des Buches, das neben ihr lag, stand eine neue Zeile. Niemand wusste, wer sie geschrieben hatte: „Die Schuld endet nie, sie wandert nur weiter.“ Die Verwandten aus München holten das Kind, gaben es in die Obhut eines Klosters. Man sagte, sie sei still und klug gewesen. Doch in der Nacht habe sie manchmal im Schlaf die Namen geflüstert, die niemand kannte. Vom Gut Hohenfeld blieb wenig übrig.
Das Haus verfiel, das Land wurde verkauft und die Dorfbewohner mieden den Weg, der dorthin führte. Sie sagten: „An stillen Abenden könne man in der Kapelle eine Frau singen hören, ein Wiegenlied, so sanft, dass selbst der Wind innehielt.“ So endete die Geschichte des Freiherrn Georg von Hohenfeld, seiner Frau Elisabeth und der sieben Männer, die er zu Werkzeugen seiner Verzweiflung gemacht hatte.
Doch vielleicht in irgendeinem Winkel der Welt ging die Schuld weiter, leise, unsichtbar, von Blut zu Blut.