Der Klang. Ein schneidender Wind fegte durch die kahen Buchen und Eichen der norddeutschen Landschaft, ließ morsches ge ächtzen und irgendwo in der Ferne prasselten vereinzelte Regentropfen auf verrostetes Metall. Es war der 18. März des Jahres 1834, ein Mittwochmorgen, an dem der Himmel über der Handelsstadt Lübeckbleiern hing und ein nahendes Unwetter ankündigte.
Der Hafen sonst voller Stimmen, Hufgetrappel und Rufen der Fischer, wirkte unnatürlich still. Selbst die Möwen schienen tiefer zu fliegen, als fürchteten sie die Luft. In dieser seltsamen Stille erhielt der Stadtvogt Johannfriedrich Mertens einen Brief ohne Absender.
Der Umschlag war mit dunklem Wachs versiegelt, die Handschrift darauf zittrig, als sei sie von jemandem mit schwacher Hand oder in großer Eile geschrieben worden. Im Innern fand der Fogt nur einen Satz: “Die Kinder weinen unter dem Boden der von Reichenbachs.” Der Name ließ ihn unwillkürlich aufmerken. Das Gut Reichenbach, etwa 7 km außerhalb der Stadt bei jedem Lübecker bekannt.
Die Besitzer Albrecht von Reichenbach und seine Gattin Elisabeth von Reichenbach galten seit Jahren als Innbegriff christlicher Wohltätigkeit. Der Adlige war aus einer altbürgerlichen Hamburger Kaufmannsfamilie hervorgegangen, die in preußischen Kreisen Einfluss gewonnen hatte und seine Frau entstammte einem angesehenen schlesischen Ärztegeschlecht.
Seit 181 führten sie auf ihrem Gut ein Weisenhaus, das unzählige Kinder aufgenommen hatte, vor allem Opfer von Hungerwintern, Soluchen und den Unruhen nach den napoleonischen Kriegen. Ihre Stiftung, Licht für die Klein stand unter dem Schutz der örtlichen Kirchengemeinde und genoss hohes Ansehen.
Bei jeder Ratsversammlung wurden die Reichenbachs als Musterbild christlicher Nächsten Liebe gepriesen. unantastbar, sagte man oft hinter vorgehaltener Hand, denn sie hatten sowohl die Gunst der Kirche als auch der Hansiatischen Kaufmannsgilde. Doch Mertens, seit sechs Monaten neuem Amt und zuvor in Berlin tätig, verspürte von Anfang an ein leises Misstrauen. Die Zahlen stimmten nie ganz, hatte er bereits im vergangenen Winter in sein Tagebuch notiert.
Die Reichenbachs gaben an, 73 Weisenkinder zu betreuen. Doch bei öffentlichen Feiern zeigte man nie mehr als 15. Die übrigen waren angeblich krank, verlegt oder für einige Zeit auf Außenhöfen untergebracht. All das klang immer zu glatt, zu einstudiert. Der Stadtvogt wusste, die Nachricht, die er nun in der Hand hielt, war kein Gerücht, kein beiläufiger Hinweis.
Sie war eine Warnung und sie klang wie ein Echo dessen, was er längst befürchtet hatte. Am folgenden Morgen, dem März nutzte Mertens die Abwesenheit von Albrecht von Reichenbach. Dieser befand sich angeblich geschäftlich in Danzig, um Handelsverträge mit Getreideimporteuren zu erneuern.
Der Vogt erschien auf dem Gut in Begleitung von drei Stadtwachen und einer rechtlich bestätigten Inspektionsanordnung, unterschrieben von Richter Heinrich Ortmann, einem jungen Magistrat aus Mecklenburg, der wie Mertens nicht in die lokalen Verflechtungen eingebunden war. Geräusche, Hufe auf matschigem Weg, das Knarren eines schweren Eisentores, dahinter gedämpftes Kinderlachen.
Oder war es doch etwas anderes? Die Luft roch nach feuchtem Holz, kalter Erde und dem scharfen Rauch einer Küche, die bereits seit Morgengrauen brannte. Elisabeth von Reichenbach empfing höflichen, beinahe ätherischen Lächeln. Die hochgewachsene Frau war dafür bekannt, immer markellos aufzutreten, selbst an regnerischen Tagen. Ihr dunkles Haar war streng zu einem Knoten gebunden, ihr Kleid schlicht, aber von ausgesuchter Qualität.
Ein typisches Merkmal der Norddeutschen Oberschicht dieser Zeit. Natürlich dürfen Sie alles sehen sagte sie ohne sichtbare Regung. Unser Heim hat keine Geheimnisse. Die Inspektion zog sich über vier Stunden hin. Die Schlafseele wirkten makellos. Betten ordentlich gefaltet, kleine Holzspielzeuge fein säuberlich aufgereiht, Schulmaterialien auf Tischen sortiert.
Alles sah aus wie in einem Musterheim, fast zu perfekt, unnatürlich ruhig. Kein Wein, kein Streit, kein Lachen. Mertens spürte ein Ziehen im Magen. Als sie schon fast gehen wollten, geschah es. Eine junge Küchehilfe, Caroline Bäcker, kaum 14 Jahre alt und erst seit wenigen Monaten im Dienst, näherte sich unauffällig dem Stadtfogt. Ihre Hände zitterten, als sie den Kopf senkte und flüsterte.