Der Herbst des Jahres 1890 liegt schwer über dem abgelegenen Tal, das die Menschen in der Umgebung nur das Dunkelgrundtal nennen. Ein entlegenes Stück Land in den tief eingeschnittenen Wäldern des südlichen Schwarzwaldes. Dort hängt der Nebel nicht einfach in der Luft.
Er ruht wie ein Urteil über allem Lebenden, drückt auf die Dächer der Bauernhöfe und verschluckt jeden Laut, bis selbst das Knacken eines Astes klingt, als wolle der Waldes geheim halten. Im kleinen Büro des Bezirksrichters Elias Thorn, einem Mann, der einst als akribischer Schreiber in Freiburg begann, liegt ein einzelnes Dokument auf einem wackeligen Holztisch. Zwischen Grundbuchauszügen, Grenzstreitigkeiten und Klageschriften rag dieses Blatt heraus, als gehörte es nicht zu den gewöhnlichen Dingen, mit denen Thorn seinen Alltag verbringt. Es ist ein Volkszählungsbericht,
handschriftlich verfasst von einem jungen Beamten namens Abel Frei. Nichts an einem Volkszählungsbericht sollte eigentlich bemerkenswert sein. Doch Thorn hat ihn dreimal gelesen und jedes Mal wächst das Unbehagen in ihm wie eine kalte Hand auf seiner Wirbelsäule. Der Bericht beschreibt ein Anwesen tief im Dunkelgrundtal, so versteckt zwischen mächtigen Tannen und mit Moos überzogenen Felsen, dass selbst reisende Pfarrer den Weg dorthin meiden.
Die Familie, die dort lebt, die Rodenbacher Brüder, verweigerte frei den Zutritt. Vier Männer standen damals im Türrahmen, Schulter an Schulter, unbeweglich wie eine Wand. Sie gaben ihre Namen an Silas, Malachias, Hezekiel und Jubal Rodenbacher. Doch ihre Augen, so schriebfrei, waren leer wie ausgeglühte Kohlen und sie sprachen nacheinander in einem Tonfall, der eher nach einstudiertem Vortrag wirkte als nach natürlicher Sprache. Frei konnte die Zahl der Bewohner nicht bestätigen, ein Versäumnis, das seine berufliche
Gewissenhaftigkeit verletzte. Dann beschrieb er, was Thorn dazu brachte, das Dokument mit roter Tinte zu markieren. Ein blasses Gesicht im Dachfenster, eine Gestalt, die im nächsten Augenblick verschwand, als einer der Brüder einen Schritt zur Seite machte. Nur ein kurzer Blick, kaum wahrnehmbar im Nebel, doch genug, um den jungen Beamten noch Tage später in seinen Träumen zu verfolgen.
Thorn legt den Bericht beiseite und greift zu einem anderen Dokument, einem Handelsbuch des Krämerladens aus dem Dorf St. Ulrich, dem nächstgelegenen Ort. Der Besitzer, ein gewisser Herr Jesop, hatte über die Jahre die Einkäufe der Rodenbachers notiert. Zweimal jährlich kamen sie, immer im Herbst, immer schweigsam.

Sie brachten kunstvoll geschnitzte Holzarbeiten, markelloses Gemüse, Äpfel ohne jeden Fleck, eine Perfektion, die Jesshob unheimlich fand. Doch es war nicht die Warenqualität, die Thorn beschäftigt. Es waren die Mengen bestimmter Einkäufe, Lauge in unnatürlich großen Mengen, genug, um Böden bis auf das nackte Holz auszubrennen. Schweres Eisen, dicke Bolzen, Lampenöl in halben Fässern, Dinge, die nicht recht zu vier Männern passten, die angeblich allein und zurückgezogen lebten.
Und im gesamten Dunkelgrundtal existiert seit Jahren kein einziger Wolf mehr. Trotzdem kauften die Rodenbachers Bolzen, wie man sie nutzt, um Stelle gegen Raubtiere zu verriegeln. Für wen? Für was? Murmelt Thorn jedes Mal, wenn sein Blick über die Einträge gleitet, als hätte der Wald selbst etwas verschluckt, was nie ans Licht kommen sollte.
Der Richter entzündet eine Öllampe, denn der schwarze Nebel, der sich über den Schwarzwald legt, verschluckt den Tag oft schon am frühen Nachmittag. Dann öffnet Thorn ein dünnes Dossier, das nur ein einziges Schriftstück enthält. Die Ungelenke, aber mit sichtbarer Beklemmung verfasste Notiz eines reisenden Predigers. Er hatte die Rodenbachers aufsuchen wollen, um Seelenfrieden zu schenken.
Die Brüder empfingen ihn höflich und gleichzeitig abweisend. Eine Höflichkeit, die wie ein Warnsignal wirkte. Der Prediger schrieb: “Das Haus habe eine gottlose Kälte ausgestrahlt, als würde etwas darin warten, etwas, dass ich nicht zeigen durfte.” Er beschrieb, wie die vier Brüder sich bewegten, gleichzeitig, spiegelbildlich, ohne einander anzusehen, wie Glieder eines einzigen Körpers.