In den abgeschiedenen Tiefen des Thüringer Waldes, fernab jeder Handelsstraße und umgeben von Fichten, die den Himmel verdunkelten, lag ein Ort, den kaum jemand beim Namen kannte. Die Einheimischen nannten ihn das eiserne Tal, ein finsteres Becken zwischen zwei steilen Granitwänden, in dem selbst das Echo zu sterben schien.
In diesem vergessenen Winkel der Welt begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Geschichte so düster, dass sie noch Generationen später in Flüstern weitergegeben wurde. Im Jahre 1895 lebten dort drei Brüder, Elias, Otto und Martin Schäfer. Ihre Familie hatte das Tal seit Jahrzehnten bewohnt, abgeschnitten von der Außenwelt, seit ihr Großvater, der ehemalige Prediger Esekiel Schäfer sich dorthin zurückgezogen hatte, um die Reinheit des Blutes zu bewahren, wie er sagte. Ezekiel war einst Pfarrer in einem Dorf bei Sul gewesen, doch seine Lehren
hatten selbst die tolerantesten Gemüter erschüttert. Er predigte, die Welt außerhalb der Berge sei vom Teufel verdorben durch Handel, Maschinen und die Vermischung der Völker. Nur im Abseits, fern von Versuchung, könne das wahre Gottesvolk bestehen. So zog er mit seiner Frau, seinen Kindern und einigen wenigen Habseligkeiten in die Berge.
Aus Fichtenstämmen errichtete er ein grobes zweistöckiges Haus. Ein rauchgeschwerzter Kamin ragte über den Baumwipfeln empor. Über die Jahre grub sich der Name, Tal des eisernen Schweigens, tief in das Gedächtnis jener, die in der Umgebung lebten. Man miet den Ort, nicht aus Furcht vor Räubern, sondern vor dem, was dort wuchs.
Eine Familie, deren Glaube keine Gnade kannte. Nach Ezekiels Tod übernahm sein Sohn Johann Schäfer das Regiment. Wie sein Vater predigte auch er. daß das Blut der Familie heilig sei und niemals mit Fremden vermischt werden dürfe. Er heiratete seine Cousine und aus dieser Verbindung gingen drei Söhne hervor. Elias, Otto und Martin. Die Menschen in den umliegenden Tälern wussten wenig über die Schäfers.

Ab und zu erschien einer der Brüder auf einem Markt in Ilmenau oder Schleusing, um Fälle und getrocknete Kräuter gegen Salz, Mehl und Schießpulver zu tauschen. Sie sprachen kaum, blickten niemandem in die Augen und verschwanden wieder in den Wäldern, bevor die Sonne unterging. Als der Winter kam, legte der Schnee die Welt still.
Wege versanken und das Tal wurde zu einem abgeschlossenen Königreich aus Eis. Niemand wußte, was dort geschah. Manchmal glaubten Jäger, Rauch über den Baumwipfeln zu sehen. Manchmal hörte man in stürmischen Nächten Stimmen, die im Wind sangen. Keine menschlichen Lieder, sondern etwas anderes, Unheimliches. Im Frühling des Jahres 1918 sollte sich jedoch das Schweigen brechen.
Ein junges Mädchen, kaum 16 Jahre alt, taumelte eines Morgens aus dem Wald in die Nähe von Schmiedefeld. Ihr Name war Elisabeth Schäfer und ihre Erscheinung ließ jeden, der sie sah, verstummen. Ihre Haut war fahl wie Asche, ihre Kleidung zerrissen und in ihren Augen lag etwas, das weder Schmerz noch Wahnsinn allein erklären konnte.
Der Förster Thomas Brechtel, der sie fand, brachte sie sofort ins Dorf. Sie zitterte, obwohl der Tag mild war, und flüsterte unzusammenhängende Worte von Brüdern, von Sünde, von Kindern, die im Boden schlafen. Niemand verstand sie, bis sie im Polizeiamt von Ilmenau vor Kommissar Heinrich Schwarz saß, einem Mann in den 50ern, der mehr an Krieg und Elend gesehen hatte, als er je hatte sehen wollen.
Schwarz hörte ihr stundenlang zu. Ihre Sätze waren zerbrochen, ihre Gedanken ein Labyrinth. Doch zwischen den Fragmenten erkannte er etwas Entsetzliches. Die Familie Schäfer lebte nach einem Glauben, der sich gegen jedes Göttliche und menschliche Gesetz richtete. Es war ein Glaube, der sich selbst verschlungen hatte, so wie das Tal das Licht verschlang.
Als Elisabeth endlich zusammenbrach, beschloß Schwarz, der Sache auf den Grund zu gehen. Was er fand, würde die Akten der thüringischen Polizei für immer beflecken und die Legende des eisernen Tals in Steinmeißeln. Kommissar Heinrich Schwarz war kein Mann, der sich leicht beeindrucken ließ. Er hatte als junger Soldat im Krieg gegen Frankreich gedient, Verwundete sterben und Städte brennen sehen.