Teil 1-Der makabre Fall der Schwestern von Kalders – Sie alterten nie (1871, Berlin)

Der Juli des Jahres 1871 brannte mit einer Glut über Berlin, die selbst die geduldigsten Bürger in Verzweiflung trieb. Die Luft flimmerte über den Pflastersteinen der Friedrichstraße und der Staub klebte an den feuchten Gesichtern der Passanten. Dr.

Rudolf Montauer, ein Mann mittleren Alters mit einem scharf geschnittenen Gesicht und grauen Schläfen, ging mit seinem abgewetzten Lederkoffer unter dem Arm durch die enge Straße. Er wischte sich mit einem bereits durchweichten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Seit mehr als zwei Jahrzehnten hatte er als Arzt in der Umgebung des Gendarmenmarkts praktiziert. Ein Mann, den sowohl arme Arbeiter als auch wohlhabende Kaufleute um Rat baten.

Doch kein Patient hatte ihn je so beunruhigt wie die Familie von Kaldas. Ihr Anwesen lag am Rande von Charlottenburg, hinter hohen Steinmauern, die das Licht der Sonne wie Spiegel zurückwarfen. Rudolf trat durch das eiserne Tor, das sich knarrend öffnete und betrat den Innenhof. In der Mitte pletscherte ein Brunnen aus kobaltblauen Fliesen und der Duft von Lindenblüten mischte sich mit der kühlen Feuchtigkeit des Wassers. Herr Doktor, bitte kommen Sie herein.

Er klang eine tiefe Stimme. Es war Friedrich, der alte Hausverwalter, dessen Gesicht so wettergegerbt war wie die Türrahmen des Hauses. Herr von Kaldas erwartet sie im Salon. Rudolf nickte und folgte ihm durch einen langen Flur, geschmückt mit schweren Teppichen aus dem Orient und Gemälden von preußischen Offizieren.

Die Luft roch nach Bienenwachs und altem Holz. und nach etwas anderem, einem kaum wahrnehmbaren metallischen Unterton. Im Salon stand Herr von Kaldas, ein Mann von etwa 50 Jahren, groß, Hager, das schwarze Haar von ersten grauen Strähnen durchzogen. Seine Augen, ein kühles, durchdringendes Blau, wirkten erschöpft, als er sich umdrehte. Dr.

Montauer, danke, dass Sie so rasch gekommen sind. Natürlich, Herr von Kaldas. Was ist geschehen? Es geht um meine Töchter, Liselotte und Anna. Rudolf legte den Koffer auf den Tisch. Sind Sie krank? Nein, zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne. Der Mann zögerte, bevor er fortfuhr. Sie haben aufgehört zu wachsen. Rudolf runzelte die Stirn.

Aufgehört zu wachsen? Wie meinen Sie das? Liselotte ist sieh, Anna. Aber seit drei Jahren kein Unterschied, kein Millimeter, kein neues Zeichen der Reife. Sie sehen noch immer aus wie damals, als sie 14 und 13 waren. Es ist, als hätte die Zeit sie vergessen. Dem Arzt lief ein Schauer über den Rücken, trotz der Hitze.

Er hatte schon von Störungen der Drüsen gehört, die die Entwicklung hemmen konnten, doch drei Jahre ohne jede Veränderung. Das war unnatürlich. Ich möchte sie sehen”, sagte er schließlich. Von Kaldas nickte und führte ihn über eine Marmortreppe hinauf in den zweiten Stock. Der Klang ihrer Schritte halte dumpf zwischen den hohen Wänden. Sie blieben vor einer schweren Tür aus dunklem Eichenholz stehen. “Liselotte, Anna, der Doktor ist hier.

” Die Tür öffnete sich langsam. Sonnenlicht fiel durch feine Gardinen, tanzte über die Gesichter zweier junger Mädchen, die nebeneinander am Fenster saßen und stickten. Als sie aufblickten, blieb Rudolfs Atem stehen. Sie waren schön, fast überirdisch, doch auf eine beunruhigende Weise.

Ihre Jugend war wie eingefroren, als hätte ein unsichtbarer Künstler beschlossen, sie für immer in diesem Zustand festzuhalten. Guten Tag, Herr Doktor”, sagte Liselotte leise. “Ihre Stimme klang klar, aber seltsam fern. Ich nehme an, sie sind hier, um unser Rätsel zu untersuchen.” Rudolf trat näher, zog einen Stuhl heran und begann behutsam, ihre Pulse zu prüfen, die Lungen abzuhören, ihre Größe und ihr Gewicht zu messen. Alles schien normal, zu normal.

Als er seine Aufzeichnungen von vor drei Jahren mit den heutigen Zahlen verglich, spürte er, wie sich ihm der Magen zusammenzog. Nicht eine einzige Abweichung, nicht 1 g, nicht 1 mm. In jener Nacht, zurück in seinem kleinen Arbeitszimmer in der Dorothenstraße, saß Rudolf lange wach. Die Gaslampe flackerte, während er in sein Tagebuch schrieb: 4. Juli 1871.

Heute habe ich etwas erlebt, das jeder Logik spottet. Die Töchter des Herrn von Kalders scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. Ich spüre, dass hinter diesem Phänomen etwas Dunkleres lauert, etwas, das kein Lehrbuch erklären kann. Er legte den Füllfederhalter beiseite, doch der Gedanke ließ ihn nicht los.

Wenn es keine Krankheit war, was dann? Am nächsten Morgen verließ Dr. Rudolf Montauer seine Praxis. noch vor Sonnenaufgang. Der Himmel über Berlin war milchig grau und ein feiner Nebel lag über den Straßen, der das Kopfsteinpflaster feucht und rutschig machte. Er hatte kaum geschlafen. Das Bild der unbeweglichen Gesichter von Liselotte und Anna ließ ihn nicht los.

Er beschloss, erneut zur Villa von Kaldas zu gehen, diesmal unangemeldet. Als er durch das schmiedeeiserne Tor trat, hörte er das ferne Schlagen einer Kirchtummglocke. Der alte Verwalter Friedrich erschien überrascht in der Tür. Herr Doktor, ich wusste nicht, dass Sie erwartet werden. Ich weiß, Friedrich, antwortete Rudolf knapp. Aber ich muss mit ihrem Herrn sprechen. Es ist dringend.

Der alte Mann zögerte kurz, dann nickte er. Er ist im Arbeitszimmer. Folgen Sie mir. Im großen Salon brannten noch die Gaslampen, obwohl der Morgen bereits hell genug war. Der schwere Duft von Zigarrenrauch hing in der Luft. Herr von Kalders saß an einem massiven Schreibtisch, Aktenblätter und Geschäftsbücher vor sich. Als er Rudolf sah, verengten sich seine Augen. Dr.

Monauer, sie überraschen mich. Ich hatte sie nicht wieder erwartet. Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeit. begann Rudolf ruhig. Aber ich kann die Sache nicht einfach ignorieren. Ich brauche Antworten. Haben Sie ihren Töchtern irgendeine Art von Behandlung verabreicht? Ein Elixier, eine besondere Medizin? Von Kal das Gesicht wurde bleich.

Dann zog er sich langsam zurück, lehnte sich gegen die Wand. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Doch, das wissen Sie. Rudolf machte einen Schritt vorwärts. Sie sagten: “Die Mädchen hätten seit drei Jahren keine Veränderung gezeigt. Kein Körper kann so reagieren, es sei denn, etwas hat eingegriffen. Bitte, Herr von Kaldas, sagen Sie mir, was Sie getan haben.” Da krachte plötzlich ein Schrei durch das Haus.

Ein gellender, weiblicher Schrei, der die Luft zerschnitt. Beide Männer stürzten zur Treppe. Oben im Flur kniete Anna auf dem Boden, die Hände an den Schläfen. Ihr Körper bebte. “Es tut weh. Es tut so weh!”, schrie sie. Liselotte war bei ihr, Tränen in den Augen und versuchte sie zu halten. “She! Es geht gleich vorbei, Schwester, gleich vorbei.

” Rudolf kniete neben dem Mädchen, tastete ihren Puls. Er raste unkontrolliert. Die Haut brannte heiß, die Augen blickten glasig. “Wie lange dauert das schon?” “Seit Monaten”, flüsterte Liselotte. “Es kommt und geht. Zuerst nur selten, jetzt fast jeden Tag.

” “Un Sie? Haben Sie auch solche Anfälle?” Diese Lotte nickte zögernd. “Aber anders. Ich verliere Erinnerung. Manchmal wache ich auf und weiß nicht, wer ich bin. Rudolf fühlte, wie sich Kälte in seinem Inneren ausbreitete. Das war keine Krankheit. Das war das Ergebnis von etwas, einem Eingriff, einem Experiment. Er richtete sich auf und wandte sich an den Vater. Wir müssen reden, sofort.

Im Arbeitszimmer schloos von Kaldas die Tür und blieb mit gesenktem Kopf stehen. Minutenlang herrschte Schweigen. Schließlich sprach er mit brüchiger Stimme: “Nach dem Tod meiner Frau war ich verzweifelt. Die Mädchen waren alles, was mir blieb.” Und dann kam ein Mann. Ein Mann? Er nannte sich Graf von Montalberg.

Er sagte, er gehöre einer Gesellschaft an, einer Bruderschaft, die die Grenzen der Wissenschaft erweitern wolle. Sie könnten Krankheiten aufhalten, das Altern selbst besiegen. Ich hielt es für Wahnsinn, bis ich sah, was sie zeigten. Rudolf trat näher. Was zeigten sie ihn? Einen Mann, der 90 war, aber aussah wie 40. Eine Frau, die nach einer totbringenden Krankheit wieder gesund war.

Sie sagten, sie hätten eine Maschine entwickelt, ein Werk einer genialen Erfinderin namens Leonore Ibner. “Ibner?” wiederholte Rudolf. Der Name war ihm unbekannt. Sie boten mir an, die Maschine für meine Töchter einzusetzen. Ich wollte glauben, dass es Hoffnung war, kein Wahnsinn. Und es funktionierte. Sie hörten auf zu altern, aber er brach ab, sein Blick leer.

Aber was? Sie sagten: “Die Maschine brauche eine Quelle, eine lebendige Quelle, jemanden junges, gesundes. Ich seine Stimme versagte. Ich brachte Ihnen einen Jungen von den Docs, einen weisen. Niemand hätte ihn vermisst.” Rudolf wich zurück, als hätte ihn jemand geschlagen.

Um Himmels Willen, was haben Sie getan? Ich weiß es nicht mehr. Ich wollte nur, daß meine Töchter leben. Jetzt höre ich nachts seine Stimme. Ich sehe sein Gesicht in meinen Träumen. Rudolf stand wie erstarrt. Diese Maschine, sie ist hier, nicht wahr? Von Kaldas nickte kaum merklich. Im Keller. Dann bringen Sie mich hin jetzt.

Sie öffneten eine verborgene Tür hinter dem Bücherregal. Eine enge Steintreppe führte hinab in die Dunkelheit. Der Geruch von Metall und Öl wurde stärker, je tiefer sie kam. Als Kaldas eine Gaslampe entzündete, enthüllte ihr Schein etwas, dass Rudolf für einen Moment das Herz aussetzen ließ.

Eine gewaltige Apparatur aus Messing, Glas und Kupfer, voll von Schläuchen, Zahnrädern und Kolben, die ein pulsierendes bernsteinfarbenes Licht ausstrahlten und im Zentrum eine Glasröhre, groß genug für einen Menschen. Rudolf Rad näher drinnen schwebte ein Junge, vielleicht 12 Jahre alt, blass, die Augen geschlossen, das dunkle Haar wie ein Schleier um sein Gesicht und er atmete.

“Mein Gott”, flüsterte Rudolf. Er lebt. Von Kalders Stimme klang wie aus weiter Ferne. Sie nennen ihn den steinernen Prinzen. Seine Lebenskraft hält die Maschine am Laufen und die Maschine erhält meine Töchter. Rudolf drehte sich um, bleich, die Hände zitternd. Das ist kein Fortschritt, das ist Wahnsinn.

Sie zapfen einem Kind das Leben ab. Ich weiß, schrie von Kaldas, aber wenn ich sie abschalte, sterben meine Töchter. Was soll ich tun? Sie müssen die Wahrheit suchen, sagte Rudolf hart. Und ich werde Ihnen helfen, selbst wenn es uns beide ins Verderben stürzt. Die folgende Nacht lag schwer über der Stadt.

Ein dünner Regen hatte begonnen, die Dächer zu ticken und die Spray roch nach nassem Stein und Kohleasche. Dr. Rudolf Montauer saß an seinem Schreibtisch, das Fenster geöffnet, damit die stickige Gashitze entweichen konnte. Doch die Kühle brachte keine Ruhe. Vor seinem inneren Auge sah er immer wieder das blasse Gesicht des Jungen im Glaszylinder, das sanfte Heben und Senken des Brustkorbs, als wäre es der Blasebalk einer Schmiede, der die schreckliche Maschine am Leben hielt. Gegen Mitternacht stand er abrupt auf.

Wenn es eine Wahrheit gab, lag sie nicht in Theorien, sondern in der Herkunft dieses Werkes. Leonore Ibiner. Der Name formte sich auf seiner Zunge wie ein Bandspruch. Er hatte den Verwalter Friedrich vorsichtig befragt und nebenbei den Poststempel auf einem abgestellten Kistenhaufen im Hinterflur der Villa bemerkt. Moabat.

Ein Lieferant für Glas war, Messingringe, Isolatoren, Rechnungen auf den Namen L. Ibner. Es war ein Faden, so fein wie Spinnseide, aber ein Faden. Rudolf warf sich den Mantel über, nahm den Koffer, steckte die kleine Taschenlampe und ein flaches Brecheisen ein und verließ die Dorothenstraße. Die Stadt schlief nicht. Berlin atmete auch in jenen späten Stunden.

In den Hinterhöfen flackerte Kohlenfeuer und aus den Kneipen an der Friedrichstraße drang ein müdes Murmeln. Der Droschkenkutscher, den er anhielt, sah ihn skeptisch an, als er Moabit, Turmstraße und dann weiter bis an die Spray nannte. Doch Münzen haben ihre eigene Logik und bald rollte der Wagen über das nasse Pflaster vorbei an Fabrikschloten und Ziegellagerplätzen, die wie dunkle Zähne aus dem Boden ragten.

Das Haus, das er suchte, war ein dreigeschossiger Backsteinbau mit blinden Fenstern und einem geschlossenen Tor, dessen Farbe wie abgeblättertes Moos wirkte. Kein Schild, kein Name, nur eine schmale Klingel, die seit Jahren niemand berührt zu haben schien. Rudolf tastete den Rahmen ab, fand eine lose Stelle, setzte den flachen Eisenkeil an und mit einem knirschenden Seufzer gab das Tor nach.

Drinnen roch es nach Staub, Eisen und dem langen Atem verlassener Zimmer. Er entzündete die Taschenlampe. Der Lichtkegel riß Fetzen aus der Dunkelheit. Verhängte Möbel, eine umgestürzte Staffelei, Kisten mit Glasröhren, Zettel, die sich wie welkes Laub über den Boden verteilt hatten. Auf einer Kommode lag ein Kinderkreisel aus Holz, die Farben verblasst.

Ein leiser Stich fuhr ihm durchs Herz. Hier hatte ein Kind gelebt, gespielt, gelacht. War es der Junge gewesen? Die Treppe hinauf zum zweiten Stock knarrte unter seinem Gewicht. Oben eine Wohnstube mit Büchern in deutschen, französischen und lateinischen Titeln. Medizinische Abhandlung, Traktate über Elektrizität, über Galvanismus, über das Geheimnis des Lebens.

Zwischen zwei Bänden lag eine Fotografie, eine Frau mit strengem Blick, das Haar zu einem schlichten Knoten gebunden, den Schimmer eines unruhigen Feuers in den Augen. Auf der Rückseite stand in sauberer Handschrift L Iber, aufgenommen im Atelier JS Uranienburger Straße.

Er strich mit dem Daumen über die Buchstaben, als könnte er darüber eine Spur von Wärme fühlen. Der dritte Stock war das Herz des Ortes, ein Labor hochgezogen wie ein Kirchenschiff, die Decke von Balken durchzogen, an denen Rollen, Flaschenzüge und Dräte hing. Auf den Arbeitstischen lagen feingravierte Messingringe, Zahnradsegmente, kleine Glaskolben mit bernsteinfarbenen Rückständen.

An der Wand sah er Diagramme mit Kreide direkt aufs Kalkputz gezeichnet, Schwingungskurven, Feldlinien, ein Kreis und darin ein menschlicher Körper umgeben von Notizen. Seine Taschenlampe flackerte über Wörter, die ihm kalt über den Rücken liefen. Zellrhythmus, Gedächtnisfracht, Ankoppelung und mittig wie ein Altar lag ein flaches in schwarzes Ledergebundenes Buch. Auf dem Deckel die initialen Liol in stumpfem Gold.

Rudolfs Finger zögerten, ehe sie die erste Seite aufschlugen. 15. März, 1867. Tom hat erneut Fieber. Die Ärzte schütteln die Köpfe. Sechs Monate, sagen sie, sofern die Gnade Gottes mit uns ist. Ich habe die Nase voll von Gnaden, die nicht kommen. Die Schrift war klar, doch zwischen den Zeilen lag ein Zittern, das nicht vom Stift kam. Rudolf blätterte weiter. 2. April.

Der Körper hat ein inneres Schwingen. Zellen sterben nicht einfach. Sie folgen einem Takt. Wenn ich den Takt erreiche, kann ich halten oder wenden. Das ist keine Alchemie, es ist Geometrie auf Fleisch. Erg langsam die Luft ein. Die Nüchternheit der Worte war beängstigender als jede hochfliegende Fantasie. Noch ein Blatt. 20. Juni.

Prototyp 1. Galvanische Zellen unzureichend. Ich brauche eine Quelle, die sich selbst erhält, eine, die nicht nachläßt, wenn die Nacht kommt. Die Seiten rochen nach Staub und Tinte. Eine Ecke war von Feuchtigkeit wellig. Dann veränderte sich die Schrift: Ein unsichtbarer Riss ging hindurch. 10. Februar, 1868.

Männer waren da. Sie nennen sich die Stügische Bruderschaft. Sie wissen von mir. Ich habe nicht gefragt woher. Sie bieten Mittel, Räume, Metall vom Besten. Ich habe nein gesagt. Tom ist kein Experiment für ihre Eitelkeit. Rudolf legte die Hand auf das Papier, als könne er die Wärme einer vergangenen Entscheidung spüren. Weiter. 15.

Februar. Sie kamen wieder. Diesmal nahmen sie, was ihnen gefiel. Skizen, Modelle, Tom. Ich habe geschrien, ich habe geblutet. Ich habe nichts zurückbekommen als Stille. In der Stille lernte ich, sie wollen nicht heilen, sie wollen herrschen. Der Arzt blinzelte und die Buchstaben tanzten kurz im Licht der Lampe. Es ging weiter, dunkler.

  1. März. Sie haben mich gezwungen, für sie zu arbeiten. Ich sah Tom durch Glas, umgeben von meinem eigenen Entwurf. Sie nennen ihn den steinernen Prinzen. Ich werde, während ich gehorche, einen zweiten Weg bauen, einen Abschaltmeismus. nicht um zu töten, sondern um zu lösen, um den Takt zurückzugeben, ohne das Herz zu zerreißen. Die Finger Rudolfs krampften sich um den Buchrücken. Dort stand eine Skizze.

Knapp, genau. Ein Kasten von der Größe eines Buches, ein Zifferblatt, drei kleine Rädchen, die an Orgelregister erinnerten, daneben Anweisungen in kurzen Zeilen und ein letzter Absatz, der wie ein Druck auf seine Brust wirkte. April. Sie wittern es. Ich kann das Gerät nicht hier lassen. Ich vergrabe es, wo Tom lachte, bevor die Krankheit kam.

Im Tiergarten, beim Entich, unter der alten Eiche, mit der gespaltenen Wurzel. Wer dies findet, möge der Reihenfolge gehorchen. Erst den Kern koppeln, dann das Zifferblatt dreimal im Uhrzeigersinn. Keine Hast. Sechs Stunden sinken wie Abendglocken. Die Verbundenen wachen mit Schmerz. Gib ihnen Wasser, Brühe, Licht und halte die Hand.

Und Tom, wenn du mich hörst, ich habe nie aufgehört. Rudolf ließ die Lampe sinken und schloss die Augen. Der Regen draußen hatte nachgelassen. Irgendwo schlug eine Uhr die Stunde, deren Zahl er nicht wissen wollte. Der Tiergarten. Er sah die Wege vor sich, die dunklen Alleen, das schwache Leuchten der Laternen zwischen Büschen und Statuen, den Entich, an dem Kinder Brotkrumen warfen, eine Eiche mit gespaltenen Wurzeln.

Er nahm das Notizbuch, wickelte es in sein Taschentuch, steckte es tief in die Manteltasche. Beim Hinausgehen blieb er an der Türschwelle stehen. Etwas im Labor hatte sein Ohr erreicht. Ein kaum hörbares Summen wie das Nachklingen einer Stimmgabel. Er drehte sich um, die Diagrammwand. Zwischen den Kreidestrichen schimmerte eine eingelassene Messingplakette, die er vorher übersehen hatte.

Er trat näher. Graviert stand dort. Gerät Ibener, Prototyp 1, Eigentum der stügischen Bruderschaft. darunter eine Nummer, abgekratzt, aber lesbar in Resten. Das Summen kam nicht von Metall, es kam aus ihm selbst, aus seinem Entschluss. Auf der Straße empfing ihn eine Luft, die nach Regen, Koksstaub und der schwachen Süße von Linden roch.

Er ging zu Fuß, als müß jeder Schritt die Worte in ihm festklopfen. Über die Invaliden Straße, vorbei an schlafenden Werkhöfen, weiter die breite Allee entlang, Richtung Brandenburger Tor. In der Ferne stand es wie eine dunkle Silhouette gegen den heckigen Himmel und dahinter lag der Park, der Tiergarten, ein schwarzes Meer aus Baumkronen.

Die Laternen warfen kreisrunde Inseln von Licht auf den Kies. Ein paar späte Spaziergänger huschten vorüber, ihre Schritte gedämpft, stimmen flüsternd wie geflügeltes. Rudolf nahm den Seitenweg zum Ententeich, geführt von Erinnerung und Intuition, und bald hörte er das leise pletschern von Wasser, das sich gegen einen Holzsteg legte. Da stand sie.

Eine Eiche so breit, daß drei Männer ihre Arme hätten ausstrecken müssen, um den Stamm zu umfassen. An der Basis hatte eine Wurzel einen Spalt, als hätte ein Donnerkeil eins dort seine Zunge hineingesenkt. Er kniete, schob das feuchte Laub beiseite, roch den süßen Moder des Waldbodens, spürte, wie kalte Erde unter seinen Fingern nachgab. Seine Hände schlugen auf Stein, dann auf Metall.

etwas rechtes, glattes, ein Kasten, versiegelt mit dunkler Wachsnaht. Er hob ihn hoch, das Herz klopfte ihm in den Schläfen. Das Siegel war fest. Sein Taschenmesser glitt unter die Wachsader wie unter eine alte Narbe. Mit einem leisen Knacken brach der Verschluss.

Drinnen lag in Samt gebettet ein Gerät, genauso wie die Skizze es gezeigt hatte. Die Größe eines Buches, ein rundes Zifferblatt, drei filigrane Rädchen, Drähte, die wie Adern glänzten. Daneben ein zusammengefalteter Brief, brüchig an den Kanten. Er öffnete die Blätter. Die Schrift war dieselbe ruhige Hand. An den, der dies findet.

Koppel das Gerät an den Kern. Du wirst ihn erkennen, an den ringförmigen Magnetfeldern. Drehe dann das Zifferblatt dreimal im Uhrzeigersinn. Warte sechs Stunden. Gib währenddessen Wärme, Wasser, Brühe, Mondsaft, nur tropfenweise. Dann löse die Glastür am Lebensbehälter. Lass Tom frei. Er wird schwach sein, aber atmen. Er muss atmen.

Wenn er fragt, sag ihm, ich sei nie fort gewesen, nur gefangen zwischen Mut und Schuld. Rudolf bemerkte, wie seine Hände zitterten. Er schlug den Mantel enger um den Körper und blickte über den Teich. Ein Schwann zog ruhig eine Linie durchs dunkle Wasser und irgendwo im Gebüsch raschelte es. Die Stadt schien für einen Moment nicht zu existieren.

Kein Reich, keine Bruderschaften, keine Gerichte, nur ein Mann, ein Gerät und ein Name, der auf seiner Zunge brannte. Als er den Kasten schloß, hörte er hinter sich Schritte. Eine Laterne flammte auf und gelbes Licht netzte den Stamm der Eiche. Ein Nachtwächter blieb stehen, musterte den Arzt und den Erdklumpen an dessen Knien. Später Spaziergang her.

Rudolf zwang ein Lächeln hervor. Ich suche nur die Luft nach dem Regen. Und als der Wächter weiterging, schulterte Rudolf seinen Koffer, klemmte die Kiste unter den Arm und sagte in die kühle, duftende Dunkelheit: “Halt aus, Junge, wir kommen.” Der Wind strich durch die Blätter und es klang für einen Herzschlag lang, wie eine Antwort.

Der Morgen über Berlin brach mit einem hellen kalten Licht an. Dunst lag über den Dächern und die Luft roch nach feuchter Kohle und nassem Stein. Als Rudolf Montauer die Friedrichstraße hinunterging, trug er die Metallkiste eng an seine Brust gepresst, verborgen unter dem Mantel. Niemand durfte sehen, was er in Händen hielt.

Nicht die neugierigen Straßenjungen, die um die Zeitungsstände liefen, nicht die Droschkenfahrer, die mit ihren Pferden fluchten und erst recht nicht die Augen jener unsichtbaren Gesellschaft, die überall zu sein schien. Er hatte kaum geschlafen und das Pochen in seinen Schläfen war schwerer als das Gewicht der Kiste.

Die Worte der Erfinderin Leonore Ibener halten in ihm wieder: “Drehe das Zifferblatt dreimal im Uhrzeigersinn. Warte sechs Stunden. Gib Wasser, Brühe, Licht. Laß ihn atmen. Es klang einfach, zu einfach für etwas, das zwischen Leben und Tod balancierte. Am Nachmittag stand er wieder vor dem Tor der Villa von Kaldas.

Der Himmel hatte sich verdunkelt, graue Wolken zogen über den Tiergarten und die Luft versprach Regen. Der alte Verwalter Friedrich öffnete, sein Gesicht Aschfahl. Herr Doktor, Gott sei Dank. Die Fräulein, sie sind schlechter geworden. Wo ist Herr von Kaldas? Im Salon. Seit dem Morgengrauen hat er nicht gesprochen, nur die Treppe auf und abgegangen. Rudolf eilte hinein.

Im oberen Stock, in dem eins, der Duft von Flieder und Seife geherrscht hatte, lag nun der schwere Geruch von Angst und Ozon, als hätte sich Elektrizität in der Luft verfangen. Liselotte lag auf ihrem Bett, das Gesicht schweißnass, die Lippen bleich. Ihre Schwester saß daneben, die Hände verkrampft, flüsterte Gebete, die halb vergessene Fragmente aus Kindertagen waren. “Herr Doktor”, flehte Anna, “bitte tun Sie etwas, sie stirbt.

” Rudolf prüfte den Puls, hörte das Herz. Der Schlag war unregelmäßig, flackernd, als würde eine fremde Kraft ihn stören. “Die Maschine unten, sie beginnt zu versagen”, murmelte er. Wenn sie ganz zusammenbricht, sterben beide. Wir müssen jetzt handeln. Er fand von Kaldas im Arbeitszimmer eine Flasche Wein, halb leer neben sich.

Seine Augen waren rot, die Stimme rau. Ich habe getan, was ich konnte. Vielleicht ist es Strafe, Doktor. Vielleicht wollte Gott mir nur zeigen, wie tör es ist, den Tod zu betrügen. Rudolf legte die Kiste auf den Tisch. Nein, dies hier ist der Weg zurück. Leonore Ibena hat vorgesorgt. Sie hat eine Möglichkeit geschaffen, das Gerät abzuschalten, ohne die Opfer zu töten.

Von Kaldas starrte die Kiste an, als wäre sie eine Schlange. Und wenn Sie sich irren, dann sind sie ohnehin verloren, erwiderte Rudolf leise. Aber ich glaube ihr, ich habe ihre Aufzeichnungen gesehen. Ich weiß, was sie opferte. Langsam, mechanisch stand der Haus her auf. Dann tun sie, was Sie müssen. Ich habe keine Kraft mehr zu beten.

Der Weg in den Keller war eng und feucht. Die Stufen führten tief hinab und mit jedem Schritt wurde die Luft schwerer, metallischer. Das Summen, das Rudolf beim letzten Mal gehört hatte, war stärker geworden. Unruhig, flackernd, wie das Atmenes sterbenden Tieres. Als die Flamme der Gaslampe die Wände erhälte, sah er, dass die Glasröhren Risse hatten.

Das bernsteinfarbene Licht pulsierte unregelmäßig und aus den Kupferschläuchen tropfte eine dunkle Flüssigkeit, die im Lampenschein schimmerte. “Die Maschine stirbt”, sagte Rudolf leise oder “Oder sie tötet”, murmelte von Kaldas. Der Arzt stellte die Metallkiste auf einen kleinen Arbeitstisch, öffnete sie behutsam und nahm das Gerät heraus. Es war erstaunlich fein gearbeitet, ein Werk zwischen Urmacherkunst und Anatomie.

Zahnräder, die kaum größer als ein Stecknadelkopf waren, Dräte, die sich wie Nervenfasern verzweigten. “Das ist also ihre Rettung”, sagte von Kalders tonlos, “Ihre einzige.” Rudolf kniete am zentralen Zylinder nieder, dem Kern, wie Leonore ihn genannt hatte. Das Glas vibrierte leicht und durch das trübe Fluid sah er den Körper des Jungen.

Noch immer bewegte sich dessen Brust, kaum wahrnehmbar, doch rhythmisch. Rudolf schloß für einen Moment die Augen. Halte durch, Tom, nur noch wenig. Dann suchte er die Anschlussstellen. Drei kleine Kupferterminals, genau wie in den Zeichnungen. Mit zittrigen Fingern verband er das Gerät mit dem Mechanismus.

Ein kurzer, heller Schlag fuhr durch die Luft, wie das Zischen eines elektrischen Funkens und das bernsteinfarbene Leuchten erlosch beinah. “Was geschieht?”, rief von Kaldas. Es beginnt, jetzt darf nichts unterbrochen werden. Rudolf drehte das Zifferblatt einmal, ein leises Klicken, zweimal ein höheres, vibrierendes Surn. Beim dritten Mal begann das Gerät zu singen. Kein Geräusch im eigentlichen Sinn, eher ein Schwingen, das in den Knochen vibrierte.

Langsam veränderte sich das Licht in der Kammer. Das unruhige Flackern wich einer ruhigen, wellenartigen Bewegung, als atmete das Metall selbst. Die Maschine schien sich zu beruhigen, zu sinken in eine Art Schlaf. “Es läuft”, sagte Rudolf Heiser. “Schunden, danach wird alles still sein und bis dahin? Wir müssen ihn befreien.

” Er zog an dem Ventilhebel am Fuß der Glasröhre. Das Fluid begann zu sinken, sich in Schläuchen zu verlieren, die in die Tiefe des Kellers führten. Ein zischender Laut. Dann öffnete sich die Tür des Behälters mit einem dumpfen Knacken. Der Junge fiel fast heraus. Rudolf fing ihn auf, fühlte die kalte, glatte Haut unter seinen Händen. Kein Gewicht, kein Leben.

Doch als er den Kopf des Knaben leicht anhob, spürte er einen schwachen Puls. “Er lebt”, flüsterte er. Er lebt wirklich. Von Kaldas sank an der Wand nieder. Tränen liefen über sein Gesicht. Dann hat sie es geschafft. Leonor hat uns erlöst. Rudolf legte den Jungen auf eine Decke, rieb ihm die Arme, das Gesicht, seine Lippen öffneten sich leicht, ein schwaches Keuchen entwich. Wasser sagte der Arzt knapp.

Friedrich, der schweigend im Hintergrund gestanden hatte, rannte los. Rudolf legte seine Hand an den Hals des Kindes, fühlte das Flimmern eines Herzschlags. “Komm schon, mein Junge”, murmelte er. “Deine Mutter hat dich nicht aufgegeben, wir auch nicht.” Nach einer Weile schlug der Knabe die Augen auf, grau, fast farblos, aber lebendig. Sein Blick irrte Raum, bis er Rudolf fand.

“Wo bin ich?” In Sicherheit, antwortete Rudolf leise. Du bist frei, Tom. Der Junge blinzelte. Frei. Dann sah er auf seine Hände, als erkenne er sie nicht. “Ich habe alles gespürt”, flüsterte er. “Alles, was sie mir genommen haben und ihre Stimm. Ruh dich aus!” Rudolf legte ihm eine Hand auf die Stirn. “Du mußt dich erholen.

” Doch Tom schüttelte schwach den Kopf. Nein, sie wissen es. Die Bruderschaft. Sie spüren, wenn die Maschine schweigt. Sie kommen. Von Kaldas sah den Arzt entsetzt an. Ist das möglich? Rudolf nickte langsam. Wenn diese Leute so weit gehen, um den Tod selbst zu betrügen, dann werden sie alles tun, um ihn wieder zu beherrschen.

Das ferne Donnergrollen des Himmels mischte sich mit dem Flackern der Gaslampe. Draußen begann der Regen zu fallen und irgendwo in der Ferne, hinter den Mauern der Stadt erklang das leise Hufschlagen einer Kutsche, die sich näherte. Der Regen legte eine dünne, silbrig schimmernde Haut über die Steine im Hof, als ob die Stadt sich für das Kommende wappnen wollte.

Im Keller sank das Summen der Maschine zu einem tiefen, friedlichen Atem und dennoch spannte sich in Rudolfs Nacken jeder Muskel wie eine Seite. Toms Warnung halte in ihm nach wie ein Glockenschlag, der nicht verhalte. Friedrich, sagte er knapp, heiße Decken, eine Kanne mit heißem Wasser, Brühe. Alles, was der Vorrat hergibt.

Der Verwalter nickte und verschwand, die Schritte hastig und doch erstaunlich leise für einen Mann seines Alters. Von Kalders stand dicht neben dem Jungen, als wolle er ihn mit dem Blick festhalten, damit ihn nicht noch einmal eine unsichtbare Hand entführ. Oben krachte etwas, ein dumpfer Laut wie von einem Fensterladen, den der Wind aufriss.

Dann folgte ein erstickter Schrei. Rudolf fuhr herum. “Sie sind da”, sagte Tom tonlos. “Sie tragen Porzellanmasken und reden, als wären ihre Zungen nicht aus Fleisch. Wir bringen die Mädchen hinaus”, entschied Rudolf. “Die Diensttreppe im Westflügel führt direkt zu den Stallungen, nicht den Haupteingang. Dort warten sie. Von Kalders nickte mechanisch.

Die Kutsche steht bereit. Zwei Pferde. Der Kutscher ist treu. Dann wird er heute Nacht auf die Probe gestellt. Sie trugen Tom zu zweit die Stufen hinauf. Der Junge war leicht wie eine Erinnerung und zitterte unter den Decken, die Friedrich ihm über die Schultern gelegt hatte. Als sie den oberen Flur erreichten, schlug ihnen kalte Luft entgegen. Das Fenster am Ende war zerborsten.

Glasscherben glitzerten wie gefrorener Regen auf dem Läufer. Drei dunkle Gestalten kletterten über den Balkon, nass bis auf die Knochen, die Gesichter hinter lackweißen Masken verborgen. Auf jeder Maske lag ein gemaltes, ungerührtes Lächeln. “Zurück!” rief Rudolf durchs Zimmer. Er riss die Tür der Schwestern auf. Lisel Lotte fuhr erschrocken auf. Anna kauerte im Stuhl, den Blick leer und doch unruhig.

“Aufstehen, wir müssen fort”, sagte Rudolf ohne Umschweife. “Jetzt keine Fragen.” Die Dienstmädchen eilten herbei, halfen den jungen Frauen, Kleider um die Schultern, Tücher über die Haare. Hinter ihnen splitterte Holz. “I Flur hatte jemand die Garderobe umgestoßen. “Geht voraus”, befahl Rudolf.

Friedrich, du mit den Damen, Herr von Kaldas, nimm Anna, ich halte sie auf. Aber Doktor, geht. Seine Stimme schnitt scharf durch die Panik. Als die Gruppe im Schatten der Diensttreppe verschwand, griff Rudolf nach einer Kerosinlampe auf dem Sideboard. Das Glas warm, die Flamme tanzte, die erste Gestalt im Flur trat ins Licht. Ein langer Mantel tropfte dunkel auf den Teppich.

Dr. Mondtauer sagte eine gedämpfte Stimme hinter der Maske. Sie greifen in Dinge ein, die größer sind als ihr kleines Herz. “Wenn ihr Herz so groß ist, warum versteckt ihr euer Gesicht?”, entgegnete Rudolf und schleuderte die Lampe. Sie traf den Mantel. Kerosin spritzte. Flamme schlug hoch. Ein erstickter Laut. Der Mann taumelte zurück und riss die beiden anderen mit.

Der Flur füllte sich mit Rauch und beißendem Geruch. Rudolf rannte, die Diensttreppe war eng und schraubte sich im Halbdunkel hinab. Er hörte das hastige Rascheln von Röcken, das Klirren von Geschirr, das irgendwer in der Eile gestreift hatte und über allem das schnelle, kontrollierte Atmen von Friedrich, der so alt er war, die Gruppe mit strenger Ruhe führte.

Unten schlug eine Tür gegen Stein. Kalte Nachtluft wehte ihnen entgegen, gemischt mit dem warmen Dunst der Pferde. Die Stallungen rochen nach Heu, Leder und Regen. Der Kutscher, ein kräftiger Mann mit breiten Schultern, hatte bereits angespannt. Die Pferde traten unruhig, als wüssten sie, dass mehr als eine gewöhnliche Fahrt bevorstand.

“Wohin, Herr?” “Zum Gendarmenmarkt”, sagte Rudolf schnell. Dann schneiden wir durch die Linden. Unter Menschenaugen sind wir sicherer. Man half den Frauen in die Kutsche, legte Tom zwischen Decken auf die Bank, wo Liselotte sogleich seine Hand ergriff. “Er ist kalt”, flüsterte sie. “Zu kalt.” “Er wird wärmer”, erwiderte Rudolf. “Drücke seine Finger, sprich mit ihm.

” Sie tat es, flüsterte Worte, die halb Trost, halb Bitte waren. Der Schlagbaum am Hof ging auf, der Kutscher knallte die Zügel. Räder sprangen über nasse Pflastersteine und die Kutsche tauchte in die schmale Straße hinaus. Hinter ihnen brach ein Fenster. Maskierte Schatten stürzten in den Hof.

Durch den Rückschlitz der Kutschentür sah Rudolf einen von ihnen sich an den brennenden Mantel schlagen, während ein anderer ruhig eine Pistole hob. “Kopf runter!” rief Rudolf und riss Liselotte und Tom tiefer in die Bank. Ein dumpfer Schlag traf das Holz der Kutsche. Ein Splitterregen ging nieder. Die Pferde warfen die Köpfe. Der Kutscher fluchte, hielt sie aber im Zaum. Berlin raste an ihnen vorüber.

Häuserfronten wie dunkle Kulissen, in denen hier und da ein Gitter aus Licht steckte. Nasse Dächer, die spiegelten, was der Himmel an bleichem Glanz hergab. Als sie die breitere Chaussée erreichten, beruhigte sich der Lauf, doch im Rücken der Kutsche halten Hufe. “Sie folgen”, sagte der Kutscher zwischen den Zähnen. “Zwei, vielleicht drei.

” Rudolf öffnete die kleine Luke nach vorn. Halten Sie Kurs, am Marktplatz biegen wir scharf in einen Hof. Ich locke Sie ab. Das verbiete ich. Prste von Kaldas hervor. Sie sind kein Kämpfer, Doktor. Heute Nacht sind wir alle das, was wir sein müssen. Sie passierten den stillen Platz. Die Statuen standen wie schlafende Zeugen. An der Ecke sprang Rudolf von der noch rollenden Kutsche, landete hart. Wie ein Messerstich, schoss Schmerz durchs Knie.

Doch er lief durch einen schmalen Durchgang vorbei an einem Brunnen, dessen Wasser über den Rand schlug, über einen Hof, der nach Seife und Lauge roch. Hinter ihm prallten Schritte, gleichmäßig, trainiert, ein Schuss. Die Kugel zerriss den Ärmel seines Mantels. Die Haut darunter brannte.

Er stürzte hinter die Brunnenustrade, rang nach Atem. Eine Stimme, ruhig wie eine Klinge näherte sich. Doktor, sie kennen den Preis. Geben Sie uns den Kasten und den Jungen und Berlin wird sie vergessen. Weigern Sie sich und Berlin wird sie als Irren erinnern, der ein Haus in Brand setzte und Kinder entführte. Ich habe nichts rief Rudolf und wusste, dass es nur zur Hälfte gelogen war.

Der Abschaltkasten lag sicher in der Kutsche, doch das Tagebuch Ibeners steckte in seiner inneren Tasche und war, wenn möglich noch gefährlicher. Die Schatten traten in den Hof, zwei Masken, zwei Waffen, ein dritter Mann ohne Waffe, aber mit einer Bewegung, die verriet, dass er den Raum las wie eine Partitur.

Rudolf tastete blind nach einer losen Pflasterkante, fand eine, hob sie an. In diesem Moment flog etwas aus dem Dunkel des oberen Fensters herab. Ein eiserner Stab, der klirrend zwischen die Verfolger schlug. Weg von ihm! Rief eine junge rauhe Stimme. Rudolf sah auf. Auf der niedrigen Fensterbank stand Tom, blassß, schwankend, in eine Decke gewickelt, die ihm wie ein improvisierter Umhang an den Schultern hing. In der rechten Hand hielt er einen zweiten Stab.

Seine Augen waren ruhig, viel zu ruhig für einen Knaben und doch glomm darin etwas wie gereifte Wut. “Lasst ihn, ich bin der, den ihr wollt.” Tom! Rief Rudolf entsetzt. Zurück! Der Junge schüttelte den Kopf. Meine Mutter hat mich nicht befreit, damit ich hinter Holz bleibe. Er sprang. Der Aufprall raubte ihm fast den Atem, aber er stand.

Der unbewaffnete Mann trat vor, zog jetzt doch ein Messer, lang und schlank wie ein Brieföffner. “Das ist der Prinz”, sagte er leise, fast erfurchtsvoll. Er sollte schlafen, nicht sprechen. Er sollte leben, entgegnete Tom und bewegte den Eisenstab mit einer überraschend sauberen, kreisenden Geste, als hätte er in irgendeinem früheren Leben in Hofgassen spielen und Zielen gelernt.

Das Messer fuhr vor, Tom blockte, der Stahl schlug Funken. Rudolf nutzte den Moment, warf den Pflasterstein nach dem zweiten maskierten, traf ihn an der Schulter. Ein Schuss riß die Nacht, zersplitterte eine Fensterscheibe, Stimmen schrien hinter den Mauern. “Genug”, sagte der Unbewaffnete und etwas in seiner Stimme ließ die Luft frieren.

“Wir nehmen, was uns gehört.” Da fielen Schritte in die Gasse. Schwer und koordiniert. Polizei, stehen bleiben. Eine Laterne flammte. Zwei Uniformen traten in den Hof. Revolver im Anschlag. An ihrer Spitze ein älterer Mann mit kantigem Gesicht und Wachsamkeit, die wie Stahl in seinen Pupillen lag.

Kommissar Rodrigo Wagner, stellte er sich vor, als sei die Höflichkeit selbst in der Jagdpflicht. Niemand bewegt sich. Die Maskierten wägten ab. Der Messerträger ließ die Klinge sinken, hob dann beide Hände, die Handflächen leer wie gelöschte Seiten, doch seine Stimme blieb weich. Kommissar, sie spielen in einem Stück mit. dessen Text sie nicht kennen.

“Mag sein”, erwiderte Wagner, “aber ich kümmere mich um die Bühne.” Er gab seinen Männern ein Zeichen. Die maskierten wichen im Schatten zurück, glitten wie Wasser aus dem Hof, nicht fliehend, sondern verlegend, als setzten sie einen Zug in einem Spiel, das länger dauerte als eine Nacht. Rudolf sank an den Brunnen Tom stand noch, doch sein Atem ging stockend.

Seine Lippen waren bläulich. Liselotte und Anna, die die Kutsche um die Ecke anhalten lassen hatten, liefen heran. Liselotte legte Tom die Hand an die Wange. “Wir haben dich”, flüsterte sie. “Wir lassen dich nicht fallen.” Der Kommissar betrachtete die Gruppe, dann die geborstenen Fensterscheiben, den brennenden Mantelrest, die Spuren von Blut.

“Jemand hat mich gewarnt”, sagte er langsam. “Ein anonymer Zettel. Ein Verbrechen werde heute Nacht sichtbar sein, wenn ich Mut hätte hinzusehen. Ich habe hingesehen und was ich sehe, riecht nach mehr als Diebstahl und Ruhestörung. Rudolf nickte matt. Es gibt Aufzeichnung, Orte, Namen. Bruderschaft, die glaubt, der Tod sei nur ein schlechter Buchhalter. Wenn Sie wirklich hinschauen wollen, Kommissar, dann nicht allein.

Wagner zog die Brauen zusammen, doch in seinen Augen blitzte etwas auf, das nicht nur Pflicht war. Morgen bei Tageslicht reden wir. Heute Nacht bringt ihr den Jungen an einen Ort mit warm Bett und unbestechlichen Wänden. Er klopfte mit dem Knöchel gegen den Brunnenrand, als markiere er eine neue Taktlinie.

Und wenn Sie euch folgen, werden Sie feststellen, daß Berlin mehr Augen hat als ihre Maskenlöcher. Der Regen setzte wieder ein, feiner nun, fast zärtlich, als wolle er Löcher in der Nacht stopfen. Die Kutsche schloss ihre Tür, die Pferde zogen an. Im Innern saß Tom zwischen Schwestern und Decken, der Atem flach, die Augen halb geschlossen. “Es ist noch nicht vorbei”, murmelte er. Ich weiß, sagte Rudolf.

Und doch heute Nacht haben wir derzeit einen Zoll abgerungen. Die Sonne über Berlin war bleich, als würde sie selbst das Licht scheuen, dass diese Stadt an jenem Morgen brauchte. Dunst lag über den Dächern, aus den Schornsteinen quoll Rauch und die Spray glänzte wie eine Zinnplatte unter dem grauen Himmel. Die Nacht war vergangen, aber sie hatte Spuren hinterlassen, im Pflaster, in den Gesichtern derer, die sie überlebt hatten. In einer kleinen Wohnung in der Dorothenstraße, in der Nähe der alten Bibliothek saß Dr. Rudolf Montauer an

einem schmalen Holztisch. Vor ihm stand eine dampfende schale Brühe, doch sie war längst erkaltet. Auf dem Sofa am Fenster lag Tom in Decken gehüllt, das Gesicht bleich, aber friedlich. Sein Atem ging ruhig, der Puls war gleichmäßig. Neben ihm schlief Liselotte, die Hand des Jungen in der ihren Anna hatte sich auf einen Stuhl zusammengerollt, die Wangen von Tränen und Müdigkeit gezeichnet. Rudolf schrieb.

Seine Schrift war knapp, sachlich, doch in den Zeilen vibrierte etwas, das selbst er nicht mehr verbergen konnte. 11. Juli 1871. Der Junge lebt. Der Mechanismus ist abgeschaltet. Die Energie des Kerns versiegt, aber sein Körper scheint sich zu erholen. Die Töchter von Kaldas zeigen Besserung.

Puls, Temperatur, Hautfarbe. Alles normalisiert sich. Die Symptome der Erstarrung weichen. Ich sollte froh sein, doch ich bin es nicht. Denn jede Heilung verlangt einen Preis, und ich fürchte, wir haben ihn noch nicht bezahlt. Ein leises Klopfen unterbrach ihn. Er hob den Kopf. Die Schritte auf der Treppe waren ruhig, gemessen.

Die Tür öffnete sich und Kommissar Wagner trat ein. Der Mann sah aus, als hätte er die Nacht ohne Schlaf verbracht. Der Mantel feucht vom Nebel, die Stiefel staubig, die Augen schmal vor Anstrengung. Guten Morgen, Doktor”, sagte er knapp. “Ich hoffe, Sie haben sich nicht zu sicher gefühlt.” Rudolf erhob sich.

“Ich habe gelernt, dass Sicherheit ein Wort ist, dass sich nur Beamte leisten können, Kommissar.” Wagner nickte leicht. Dann verstehen wir uns. Die Bruderschaft hat Spuren hinterlassen. Im Keller der Villa fand man verbrannte Stoffreste, Blut und ein Wappen aus Messing, eine Schlange, die sich selbst verschlingt.

Das Symbol der Ewigkeit, murmelte Rudolf. Oder des Wahnsinns erwiderte Wagner. Sie haben eine Organisation gegen sich, die tief in die Verwaltung greift. Einige meiner eigenen Männer raten mir, die Finger davon zu lassen. Ich bin nicht geneigt, auf sie zu hören. Er trat ans Fenster, betrachtete die Straße und der Junge, er ist stabil, aber Rudolf zögerte.

Er erinnert sich an alles, an die Maschine, an die Stimmen. Er hat Worte gehört, als ob jemand aus der Ferne durch ihn gesprochen hätte. Wessen Worte? Er sagt, sie hätten ihn den Anker genannt, daß sie ihn gebraucht hätten, um eine Verbindung zu etwas jenseits der Materie zu halten. Etwas, das sie nicht verstanden oder zu gut verstanden haben.

Wagner wandte sich um und sie glauben ihm: Ich bin Arzt, kein Priester. Ich glaube an das, was ich sehe, aber ich sehe Dinge, die kein Arzt erklären kann. In diesem Moment regte sich Tom. Er öffnete die Augen, blickte zum Fenster, dann zu den beiden Männern. “Sie sind schon hier”, flüsterte er. “Wer?”, fragte Wagner scharf. “Die, die noch glauben, dass ich ihnen gehöre.

” Ein kalter Windstoß drang durch den Spalt der Tür, obwohl sie geschlossen war. Anna richtete sich auf, Lisel Lotte erwachte, sah den Jungen an. Sein Blick war seltsam klar. Zu klar. Tom, fragte sie vorsichtig, doch er antwortete nicht. Seine Pupillen weiteten sich und in seiner Stimme lag plötzlich ein anderer Ton, tief und fremd. Ihr hättet die Tür nicht öffnen sollen. Ein Schlag, als würde das Glas zerspringen, riss durch die Stube.

Die Gaslampe flackerte und das Licht flutete kurz wie ein Sturm. Wagner riß die Pistole aus der Halfter, doch es gab nichts zu sehen, nur den Jungen, der sich wand, als ob er gegen Fesseln kämpfte, die niemand sehen konnte. Zurück rief Rudolf, er wird ein zweiter Schlag, diesmal aus dem Innern der Wände.

Das Holz ächzte, das Tintenfass zersprang und schwarze Tropfen liefen über das Papier. Dann, so plötzlich wie es begonnen hatte, war alles still. Tom lag wieder ruhig da. Der Atem flach. Rudolf beugte sich über ihn, prüfte den Puls. Er lebt. Wagner senkte langsam die Waffe. Was in Gottes Namen war das? Kein Gott, Kommissar, sagte Rudolf Düster. Etwas Menschlicheres, etwas, das aus der Maschine geblieben ist.

Er griff nach seiner Notizmappe, zog eben das Tagebuch hervor. Sie hat es erwähnt zwischen den Zeilen. Der Anker trägt die Schwingung weiter, selbst wenn der Kreis gebrochen ist. Ich dachte, sie meinte einen elektrischen Restimpuls. Jetzt fürchte ich, sie meinte ein Bewusstsein. Wagner blinzelte. Sie meinen, der Junge ist besessen? nicht im theologischen Sinne, aber vielleicht gebunden, ein Rest dessen, was sie zu berühren versuchten. Ein Echo. Die Tür öffnete sich erneut.

Friedrich trat ein, blass, das Gesicht versteinert. Herr Doktor, draußen steht eine Kutsche, schwarz, ohne Wappen. Drei Männer in Mänteln. Sie haben nicht geläutet. Sie warten einfach. Wagner trat sofort ans Fenster. Unten auf der Straße stand tatsächlich eine Kutsche, glänzend nass vom Regen, die Pferde regungslos. Die Männer trugen Hüte tief ins Gesicht gezogen.

Einer hob den Blick und selbst auf diese Entfernung glaubte Rudolf das blasse Oval einer Maske zu erkennen. “Sie wissen, wo wir sind”, sagte der Kommissar leise. “Wir müssen fort.” “Wohin?”, fragte Rudolf. An einen Ort, an dem Selbst Schatten sich verirren, in die Archive der Polizei, Unterde Stein. Rudolf nickte und der Junge, er kommt mit.

Sie packten hastig das Nötigste: Medikamente, das Tagebuch, den Kasten, eine Decke. Liselotte und Anna halfen wortlos. Als sie die Treppe hinabstiegen, fiel Rudolfs Blick noch einmal auf das halb verglaste Fenster. Der Regen tropfte langsam daran hinab, aber mitten im Glas schien eine Spur, als hätte jemand von außen mit dem Finger ein Symbol gezogen, eine sich verschlingende Schlange.

Er sagte kein Wort, doch als er an Wagner vorbeiging, trafen sich ihre Blicke und sie wussten beide: “Das Spiel hatte erst begonnen.” Das Polizeipräsidium an der Alexanderstraße ragte wie ein düsterer Backsteinblock gegen den bleichen Vormittag. Der Hof halte vom Hufschlag der Dienstpferde. Der Geruch nach nassem Leder und kaltem Kaffee mischte sich mit Kohlenrauch, der aus den Schloten stieg.

Kommissar Rodrigo Wagner führte die kleine Gruppe durch einen Seiteneingang an einem schläfrig reinblickenden Pförtner vorbei, dessen Blick jedoch scharf genug blieb, jedes Gesicht zu memorieren. Die Stufen hinab in die Kellergewölbe waren ausgetreten, der Stein feucht und von der Decke hingehte wie alte Lianen.

“Hier unten verliert selbst der Ehrgeiz den Weg”, sagte Wagner lakonisch und schloss zweimal die schwere Eisentür hinter ihnen ab. Ein Raum mit niedriger Decke öffnete sich, vollgestellt mit Schränken aus Eiche, die muffig nach Papier und Tinte rochen. Eine Gasflamme knisterte. Ihr Licht ließ Messingknöpfe an Karikästen matt aufblinken. Das ist das Aktenarchiv.

Keine Fenster, nur eine Luke für Luft. Wer uns hier finden will, muss wissen, wonach er sucht. Tom lag auf einer schmalen Liege, die man in eine Nische gerückt hatte. Liselotte saß neben ihm, wärmte seine Hände in ihren. Anna starrte in die Flamme, als könnte sie darin Antworten lesen.

Der Junge war bleich, doch seine Augen trugen diese seltsam gesetzte Klarheit, die Rudolf schon in der Nacht bemerkt hatte. Als Wagner auf ihn zuging, hob Tom den Kopf, als lausche er auf einen Ton, den nur er hören konnte. Du sagtest, es gibt Orte, begann der Kommissar ohne Umschweife. Verstecke Archive.

Wir brauchen Tatsachen, Namen, Papiere, die einem Richter die Luft abdrehen, bevor ein Advokat sie wieder aufbläst. Tom atmete flach. “Zwei Orte”, flüsterte er. Der eine liegt hier in der Stadt unter der alten Synagoge in der Spandauer Vorstadt, nahe der Uranienburger Straße, hinter einer Wand in einem ehemaligen Waschhaus, wo das Grundwasser den Putzfleckig macht. Der andere liegt draußen zwischen Kiefern und Sand.

Kloster Lehin. Offiziell verlassen, in Wirklichkeit ein Schachbrett ohne Zuschauer. Seine Stimme fiel zu einem Hauch. Hier in der Stadt verstecken sie Buchführung, Namen, Zahlungen. In Lenin verstecken sie Schande. Wagner machte sich Notizen. Die Schrift spröde wie der Mann. “Wir holen uns zuerst die Buchführung”, entschied er.

“Wenn Berlin sprechen muss, dann mit Zahlen.” Er hob den Blick auf Rudolf. “Ich nehme nur Männer ohne Bande nach oben. Wer lieber Grußkarten an Ministerien schreibt, bleibt im Büro.” Rudolf nickte. Ich komme mit. Ich kenne genug von dem Aufbau der Maschine, um Beweisstücke zu erkennen. Sie kommen mit, korrigierte Liselotte, die die Hand nicht von Tom nahm.

Ihre Stimme war ruhig, aber dahinter lag eine Kraft, die überraschte. Wenn dieser Junge das Leben gegeben hat, werde ich nicht warten, bis andere es ihm nehmen. Fräulein hob Wagner an, doch Anna legte ihm die Hand auf den Ärmel. Sie unterschätzen meine Schwester und mich”, sagte sie leise und Rudolf bemerkte mit einem kleinen Stich, daß der Nebel in Annas Blick etwas gelichtet war.

“Ihr nehmt keine Waffen in die Hand”, entschied Wagner nach einem Atemzug. “Ihr tragt Taschen und Augen und wenn ich zurück sage, dann heißt das zurück.” Er stellte die Truppe zusammen. Vier junge Polizisten mit ernsten Gesichtern. Einer trug die Schramme einer alten Schlägerei quer über die Wange, ein anderer hatte Hände wie ein Schreiner.

Keine Orden, keine glänzenden Kordeln, nur Mäntel, in deren Futter das Vertrauen des Kommissars steckte. Ein Plan wurde im Staub der Archivplatte skizziert. Zugang durch den Hof der Hinterhäuser, Einstieg durch die Bogenforte des Waschhauses, Sicherung der Fluchtwege. Kein Schuss, solange Tinte reicher ist als Blut. Der Nachmittag sank in ein frühes Grau, als sie die Spannauer Vorstadt betraten.

Die Hinterhöfe waren eine Welt aus Wäschelein, Büttchen, Katzen, die schmal wie Schatten an Ziegelmauern entlangstrichen. Aus offenen Fenstern drangen Stimmen, Jedisch, Deutsch, das schwere Tschechisch eines Maurers und der Duft nach Lauge, Zwiebeln, Suppe. Die alte Synagoge, deren Mauer der Wind zur Orgel machte, stand wie ein schweigender Zeuge.

Kein Schild, kein Prunk, nur Ziegel, die zu atmen schien. Tom ging zwischen Rudolf und Lise Lotte, den Mantel eng, den Blick wach. “Hier”, sagte er schließlich und deutete auf einen niedrigen Durchgang, der in ein Waschhaus führte. Die Luft darin war dunstig und schmeckte nach Seife und Eisen. An der Rückwand zog sich ein feuchter dunkler Streifen hin.

Grundwasser, wie Thomas beschrieben hatte. Ein Ofen stand still, kalt, die Mundöffnung schwarz wie eine zweite Tür. Dahinter flüsterte der Junge. Vier Steine vom Boden, zwei vom Rand, drücken, drehen, hebeln. Wagner trat vor, ließ zwei seiner Männer Posten beziehen. Die Schatten hielten wie Hände die Luft.

Rudolf kniete, fuhr mit den Fingerspitzen über die Mauer, spürte die rauen Kanten, die winzige Abweichung eines Fugenwinkels. Er setzte das kurze Eisen an, drückte, drehte. Etwas klickte hinter der Wand. Ein Mechanismus mit der diskreten Eleganz einer guten Uhr. Ein schmaler Spalt tat sich auf. Dann schob sich ein Steinsegment wie ein Buchrücken aus dem Regal.

Dahinter fiel Kühle entgegen und ein Geruch, den Rudolf in Ibnas Labor gerochen hatte. Pergament, Öl, das Hächeln von Metall, das lange nicht mehr berührt worden war. Sie traten ein. Eine Treppe, kaum breiter als eine Schulter, führte abwärts. Das Licht der tragbaren Laterne legte weiche gelbe Halbmonde auf die Stufen.

Unten ein Gang, gemauert, trocken, leise wie eine Kapelle. An den Wänden hingen Haken, an denen Bündel aus Kordel und Stoff baumelten. Am Ende öffnete sich ein Raum. Rudolf hielt unwillkürlich den Atem an. Die Kammer war größer, als man von der Welt darüber geahnt hätte. Regale bis zur Decke, angefüllt mit Büchern, Ledermappen, Schachteln, deren Etiketten in einer geübten Kanzleihand geschrieben waren.

In einer Glasvitrine lagen Instrumente, eine Reihe Spritzen mit feingravierten Skalen, kleine Messingkästen, aus deren Ritzen der Geruch von Bittermandel und altem Äterkroch. An einer Wand hing ein Brett mit fotografischen Portraits, jedes sorgfältig beschriftet. Herren mit steifen Kragen, Damen mit stolzen Profilen, ein Dichter, den man tot glaubte, ein Ratsherr, den man unfehlbar nannte.

Unter manchen Bildern war mit roter Tinte ein X gezogen. “Gott im Himmel”, entfuhr es einem der Polizisten. Wagner gab ihm einen kurzen Blick, der sagte: “Später beten, jetzt zählen.” “Doktor”, sagte der Kommissar und Rudolf trat an einen Pult, auf dem ein aufgeschlagenes großes Buch lag.

Die Seiten raschelten unter seiner Hand wie eine milde Brandung. Spalten, Zahlen, Namen. Ein Register von Zahlungen summiert und gegengezeichnet. Die Schreibfeder eines Gewissenslosen hatte hier Monate über die Arbeit getan. Hier, murmelte er, Zuwendungen an Labors. Verzeichnet als Spenden für wissenschaftliche Gesellschaften.

Hier Gebühren an Ärzte, Decknamen, aber die Handschrift wiederholt sich. Hier Verpflegungsaufwand für Er. Subjekte. Sie nummerieren Kinder. Wagner stand neben ihm, das Kind angespannt. Wir kopieren, was wir können. Wir nehmen, was wir nicht kopieren können und wir gehen leise. Er wies zwei Männer an, die Vitrinen zu inventarisieren.

Der Mann mit der Schramme begann Fotografien abzulösen und sie in eine Mappe zu schieben, jede mit einem kurzen Bleistiftvermerk auf der Rückseite. Anna, der man befohlen hatte nur zu tragen, griff die Logik des Ortes schneller als erwartet. Sie fand eine Schublade mit Siegeln und Quittungen, zog Reihen heraus wie Fische aus einem kalten Fluss. Liselotte stand bei Tom, der an der Schwelle saß, den Rücken an den kalten Stein gelehnt.

Er sprach nicht, aber seine Augen folgten den Bewegungen, als würde er die unsichtbaren Ströme lesen, die Bruderschaft durch diesen Raum gelegt hatte. Plötzlich hob er die Hand, als wollte er eine Mücke verscheuchen. “Nicht das unterste Fach”, flüsterte er. “Es ist mit Dräten verbunden. Wenn ihr es zieht, wissen Sie es.” Rudolf kniete, betrachtete die Leiste. Tatsächlich.

Winzige Einkerbungen, die nicht zum Holz gehörten. Ein Hauch Metall, kaum sichtbar. “Gut, dass du atmest, Junge”, sagte er rau, “Sonst würden wir es nicht mehr.” Die Arbeit ging voran. Ein lautloser Sturm. Stapel wuchsen, Beutel füllten sich, die Laterne summte.

Für einen Atemzug lang schien es, als hätten sie die dunkle Ordnung ausmanövriert, als könnte Wahrheit einmal in Säcke gepackt, sicher an die Oberfläche getragen werden. Doch dann, wie wenn eine Orgel plötzlich den Ton wechselt, veränderte sich die Luft. Ein Zug kaum spürbar zuerst, dann deutlicher. Die Flamme der Laterne tanzte, streckte sich, als wolle sie in eine Richtung fliehen.

Wagner erstarrte. Die Luke, flüsterte er. Jemand hat die obere Tür geöffnet. In seine Stimme mischte sich kein Paniklaut, nur Beschleunigung. Er deutete auf die Beutel. Zwei Männer vor, sichern den Gang. Keiner schießt, solange ich es nicht sage. Wenn Sie Masken tragen, schießen sie nicht, um zu reden.

Rudolf fühlte, wie sein Herz den Takt schneller griff. Er legte die Hand auf ias Tagebuch in seiner inneren Tasche, als bräuchte er den Puls eines Fremden, um seinen eigenen zu ordnen. Liselotte strich Tom eine Strähne aus der Stirn. “Wir gehen gleich”, flüsterte sie. “Nur noch ein wenig.” Tom schüttelte kaum merklich den Kopf. “Nein”, hauchte er und in dem Wort lag eine Müdigkeit, die älter war als er selbst.

“Sie kommen nicht, um zu reden, sie kommen, um zu löschen.” Im Gang knirschte Stein, Schritte, die nicht hasteten, Schritte, die wussten, wohin sie traten. Ein dünner, süßlicher Geruch schob sich in die Kammer, so leicht, daß man ihn eher erinnerte, als roch. Gummi, Öl. Das Leder eines Handschuhs, der nie einem Feld gedient hatte.

Wagner hob die Hand. Die Laterne wurde tiefer gehalten. Die Schatten rückten näher an die Wände. Aus dem Gang trat die erste Gestalt. Groß, die Schultern schmal, das Gesicht, eine weiße Porzellanfläche, auf der ein lächelnd Mund gemalt war. Hinter ihr zwei weitere, die Bewegungen synchron wie eine eingeübte Lithanei.

Meine Herren, sagte der Kommissar, die Waffe unten, aber bereit. Ich schätze, sie sind die Artbesucher, die nie um Erlaubnis bitten. Die Maske neigte sich. Die Stimme, die durch sie kam, war höflich, fast bedauernd. Kommissar Wagner, ihre Akten nennen sie unbestechlich. Wir werden das gleich prüfen.

Geben Sie uns die Mappen und niemand muß hier unten den Atem verlieren. Rudolf hörte, wie Anna scharf die Luft einzog, spürte Liselottes Hand, die Tom fester hielt. Der Arzt trat einen halben Schritt vor. nicht genug, um die Linie zu brechen, gerade genug, um zu zeigen, daß auch Worte Platz in einer Kammer voller Waffen haben. “Sie können nehmen, was sie wollen”, sagte er mit ruhiger, zu leiser Stimme.

“Doch was Sie hier nicht nehmen werden, ist die Zeit. Heute gehört sie uns. Die Maske schwieg einen Herzschlag lang. Dann hob sich eine behandute Hand und was als höfliches Angebot geklungen hatte, löste sich in der Luft auf wie Staub. Der erste Schuss knackte die Stille und das Licht der Laterne warf die Schatten an die Wand, groß und verzerrt, als sei hinter der Welt eine zweite aufgegangen, die nichts verzieh.

Das Echo des Schusses zerriss die Stille, als würde die Erde selbst zurückkeuchen. Die Kugel prallte an der Steinwand ab, splitterte einen Ziegel und ließ Staub wie Asche über die Aktenregale rieseln. Liselotte duckte sich über Tom. Anna preßte beide Hände über die Ohren, während Wagner schon reagierte. Zwei Schritte zur Seite, Waffe erhoben, die Haltung so ruhig, als gehöre Lärm zu seinem Atem.

“Kein Licht”, rief er und Rudolf löschte instinktiv die Laterne. Finsternis, nur der Geruch von Pulver, Schweiß und altem Mörtel, der im Dunkeln dichter wurde. Dann ein Summen nicht vom Gas, sondern metallisch, fremd. Rudolf verstand es sofort. “Sie haben elektrische Lampen”, flüsterte er. Akkumulatoren.

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