
Ein fahles weißes Licht flammte am Ende des Gangs auf. Drei Masken, gespenstisch, das Lächeln gemalt, die Augenhöhlen leer. Einer hielt eine Stablampe. Eine jener neuen experimentellen Apparaturen, die noch kaum jemand gesehen hatte. Das Licht schnitt wie ein Messer durch das Dunkel fand Rudolfs Gesicht. Ein Schuss antwortete, diesmal wagners.
Der vorderste maskierte viel. Das Licht taumelte, kippte, zersprang, Funken flogen. Der Geruch von verbranntem Öl erfüllte die Kammer. “Jetzt”, rief der Kommissar. Zwei Polizisten rien die Mappen an sich, die anderen griffen nach den Säcken mit Papieren.
Rudolf packte Toms Schultern, half ihm auf, spürte die Wärme des Kindes, die nun flackerte, wie das Leben selbst aus ihm flo. “Ich kann nicht laufen”, hauchte Tom. “Doch”, antwortete Rudolf, “wayil du es schon einmal getan hast.” Er zog ihn hoch. Liselotte und Anna nahmen ihn zwischen sich, stützten ihn. Wagner deckte den Rückzug.
Er feuerte nicht mehr, nur abwartend, ruhig, jede Bewegung kalkuliert. Die Maskierten hatten sich neu formiert, zwei lebend, einer verwundet. Doch ihre Haltung blieb unheimlich unerschüttert. Keine Angst, keine Wut, nur Ziel. Der zweite trug etwas in den Händen. Eine kleine silberne Kugel, kaum größer als eine Orange. Rudolf sah es zu spät.
Der Mann rollte die Kugel in den Gang. Sie stoppte an einem Hakenstein, begann zu zischen. “Gas!” schrie der Arzt. Wagner griff nach der brennenden Lampe, schleuderte sie gegen die Kugel. Ein Blitz, ein dumpfer Knall. Hitze raste durch den Gang, als wäre Feuer selbst für einen Augenblick aus der Erde gebrochen.
Staub, Rauch, Schreie, dann dunkel. Kein Ton, außer dem Nachhallen des Knalls in Rudolfs Ohren. Er lag am Boden, spürte Blut an der Schläfe, aber das Bewusstsein hielt. Er tastete. Der Kasten, den er an sich gedrückt hatte, war heil. Das Buch auch. Er tastete nach Stimmen. Lise Lotte, hier, rief sie, hustend. Wir haben Tom.
Anna, ein schwaches Jahr aus der Dunkelheit. Wagner erhob sich schwerfällig, eine blutige Schramme an der Wange. “Sie wollen die Beweise zerstören. Wir müssen raus, bevor sie alles in Brand setzen.” Rudolf nickte, zog Tom an sich. Er atmet, wir gehen. Die Treppe hinauf war eng, die Luft stickig.
Hinter ihnen krachte Holz, ein Regal, das fiel oder absichtlich gestoßen wurde. Dann ein zweiter Schlag: Dumpf, rhythmisch. Sie haben Sprengstoff, sagte Wagner zwischen den Zähnen. Verdammt, sie wollen die ganze Kammer einreißen. Oben im Waschhaus roch es nach Regen, der durchs Dach sickerte. Sie stolperten hinaus durch die Hintertür in den Hof. Nasse Wäsche wehte im Wind.
Eine Katze schoss fauchen davon. Kaum standen sie draußen, erzitterte der Boden. Ein donnerndes Grollen fuhr durch den Untergrund und Staub, Rauch und Steine schossen aus der Öffnung. Das Waschhaus kippte, eine Mauer sackte ein. Der Himmel färbte sich grau von Schutt. “Lauf!”, rief Wagner. Raus aus der Straße.
Sie rannt durch Nebengassen, vorbei an bleichen Fassaden, an Leuten, die sich entsetzt an den Fenstern drängten. Die Explosion hatte wie ein Donnerschlag durch den ganzen Stadtteil getragen. Rudolf rannte, bis seine Beine nachgaben. Erst in einer engen Passage zwischen zwei Lagerhäusern hielten sie. Wagner ließ sich an eine Wand sinken, schwer atmend. Wir haben die Hälfte verloren”, sagte er. “Aber genug.
Was wir haben, reicht, um Fragen zu stellen, die sich niemand zu beantworten traut.” Rudolf hielt das Buch fest: “Die Bruderschaft wird nicht aufgeben. Das war nur der erste Arm. Sie haben Macht, Geld, Einfluss. Wir haben Papier und ein Kind.” “Dann sind wir ausgeglichener als sie denken”, erwiderte Wagner. Tom öffnete langsam die Augen.
Er war bleich, seine Stimme kaum hörbar. Sie hören mich nicht mehr. Die Maschine ist still. Das heißt, fragte Rudolf. Das Band zwischen Ihnen und mir. Es ist schwach, aber nicht tot. Ein Windstoß ging durch die Gasse, trug feinen Staub, der wie Asche schmeckte. Anna sah zu Rudolf: “Was, wenn er recht hat? Wenn Sie ihn brauchen, um es neu zu bauen, dann müssen wir schneller sein,” sagte Wagner.
Schneller als ihre Geldwege, schneller als ihr Schweigen. Er stand auf, sah zu den grauen Wolken über der Stadt. Wir bringen die Beweise ins Präsidium, aber nicht über die Straßen. Unterirdisch durch den alten Tunnel an der Spray. Ich kenne ihn. Früher diente er Schmucklern. Jetzt dient er der Wahrheit. Rudolf nickte.
Und dann? Dann ziehen wir weiter, sagte Wagner nach Lenin. Das Kloster, fragte Liselotte. Ja, antwortete der Kommissar. Dort endet der Strom, der hier begonnen hat. Tom schloss die Augen, lehnte den Kopf an Liselottes Schulter. Nein, murmelte er. Dort beginnt er. Der Himmel über Brandenburg spannte sich wie eine bleierne Glocke über den endlosen Feldern.
Grau, reglos, drückend. Eine schmale Landstraße führte zwischen Kiefernwäldern hindurch, die im Wind flüsteren, als hätten sie zu viele Geheimnisse gehört, um je wieder zu schweigen. Eine Kutsche rollte langsam durch den Schlamm. Die Räder spritzten schmutziges Wasser an die Seiten. Drinnen saßen Dr.
Rudolf Montauer, Kommissar Wagner, Liselotte, Anna und der blasse junge Tom. Der Kutscher, einer von Wagners Männern, schwieg und blickte nur starr nach vorn. Sie hatten Berlin in der Morgendämmerung verlassen, unbemerkt wie Diebe. Noch zwei Stunden bis Lenin sagte Wagner, während er durch den Vorhang spähte. Danach kein Dorf mehr, nur Wald.
Das Kloster liegt im Moor, abgeschieden. Ein Ort, an dem man niemanden finden oder verschwinden lassen kann. Rudolf nickte. Ich habe dort als Student einmal eine Exkursion gemacht. Alte Ziegel. halb zerfallen. “Aber wenn die Bruderschaft ihn nutzt, dann ist er mehr als ein Ruinenfriedhof.” Vollendete Wagner.
Tom lag zusammengerollt zwischen den Decken, halb wach, halb in einem fiebrig Traum gefangen. Seine Stimme war brüchig, doch die Worte klar: “Sie haben dort eine Glocke.” Aber sie lä, sie läutet für die Erinnerung. Liselotte legte ihm die Hand auf die Stirn. Ruhig. Bald sind wir da. Nein, flüsterte Tom. Ich höre sie schon.
Als die Sonne hinter den Wipfeln verschwand, tauchte das Kloster aus dem Nebel auf. Türme ohne Glocken, Mauern aus dunklem Backstein, ein Tor, das in sich zusammenzufallen schien und doch stand hielt, als würde etwas Unsichtbares es stützen. Die Kutsche hielt. Der Wind roch nach Torf, modrig und feucht. Kein Vogelsang.
“Hier beginnt die zweite Hälfte unseres Wahnsinns”, murmelte Wagner. Er zog den Mantel fester und gab den Männern Zeichen, das Gelände zu sichern. Zwei blieben bei den Pferden, einer stellte sich auf den Turmweg, der Rest folgte ihm ins Haupttor. Das Tor quietschte, als hätte es seit Jahren niemand mehr berührt. Dahinter lag ein Hof, gepflastert mit unregelmäßigen Steinen, auf denen das Moos wie graues Fell wuchs.
Überall standen zerbrochene Heiligen Figuren, deren Gesichter verwittert und ausgehüllt waren. Wenn hier jemand wohnt”, sagte Rudolf leise, “dann er nicht gesehen werden.” Sie betraten den Hauptbau. Der Wind trieben Gänge, die einst Mönche gefüllt hatten. An den Wänden hingen Reste alter Fresken, Engel mit abgeschlagenen Köpfen, Kreuze, die sich in Linien auflösten, als hätten sie sich selbst ausradiert.
“Hier,” Tom zeigte auf eine steinerne Tür in der Seitenkapelle dahinter. Wagner trat näher, leuchtete mit der Lampe. In den Stein war ein Symbol eingeritzt, die Schlange, die sich selbst verschlingt. Die Linie war frisch, als hätte sie jemand erst gestern eingeritzt. “Also doch”, sagte er, “Die Bruderschaft lebt hier.
” Er legte die Hand auf den Griff, kalt, feucht, schwer. Die Tür gab wiederwillig nach und ein Schwallstickiger Luft schlug ihnen entgegen. Sie traten in einen Raum, der wie ein Altarraum wirkte. Doch an Stelle eines Kreuzes stand dort ein massives kupfernes Gebilde, Halbmaschine, Halbgrab, Zahnräder, Glaszylinder, Kupferrohre, die aus der Wand wuchsen wie Adern.
In der Mitte eine Plattform mit Riemen und einem Abdruck, der eindeutig menschlich war. “Mein Gott”, hauchte Rudolf, “Sie haben es wiedergebaut.” Wagner trat näher, tastete über das Metall, nicht nur wiedergebaut, verbessert. Er zeigte auf die Ränder. “Sie haben Stromleitungen gelegt. Das ist neueste Technik.
Sie speisen es aus Batterien, vielleicht aus Berlin selbst.” Rudolf entdeckte auf dem Tisch neben der Apparatur ein Buch groß in schwarzes Leder gebunden. Kein Titel. Er schlug es auf. Diagramme, Berechnungen, Formeln. Doch zwischen den Notizen eine Zeichnung, ein Gesicht. Er erstarrte. Es war Tom. Das kann nicht sein, flüsterte Liselotte. Das ist er.
Nein, sagte Tom schwach. Das ist das, was sie aus mir machen wollten. Plötzlich flackerte das Licht. Ein Surren vibrierte in den Wänden. Wagner hob den Kopf. Nicht bewegen. Ein Geräusch kroch durch die Dunkelheit. Metallisch, rhythmisch. Schritte. Dann eine Stimme, ruhig, tief, vertraut. Ich habe gewusst, dass Sie kommen, Herr Doktor. Aus dem Schatten trat Herr von Kalders.
Er trug denselben dunklen Anzug wie in Berlin, doch sein Gesicht war bleicher, seine Augen fiebrig. Rudolf trat vor. Sie Sie sollten in Berlin sein. Sie sollten tot sein. Von Kaldas lächelte Matt. Ich war nie lebendiger. Sie haben mich von der Maschine getrennt, aber sie hat mich nie verlassen. Ich höre sie, ich fühle sie und sie will ihn zurück.
Tom wich zurück an Liselottes Arm klammernd. Nein, ich gehöre nicht mehr euch. Oh, doch, sagte von Kaldas sanft. Du bist der Schlüssel. Ohne dich wird sie nie ganz sein. Er drehte sich zum Kommissar. Wissen Sie, was Sie zerstören wollen, Herr Wagner? Das Ende des Todes, das Ende von Verfall, das, was Menschen seit Adam suchen.
Ich sehe nur einen Mann, der in der Hölle Licht sucht, erwiderte Wagner kalt. Dann sehen sie schlecht. Von Kaldas streckte die Hand aus und das Kupfergebilde erwachte zum Leben. Zuckende Funken sprangen zwischen den Spulen. Das Glas begann zu vibrieren. Ein Schrei drang aus dem Innern. Metallisch, unmenschlich, als würde das Ding selbst atmen. Tom fiel auf die Knie.
“Sie zieht mich”, keuchte er. “Ich kann Sie hören.” “Halten Sie ihn fest”, rief Rudolf. Die Maschine leuchtete auf, als würde sie sich öffnen. Ein Lichtstrahl, kalt, weiß, pulsierend, fiel auf den Jungen. Liselotte schrie, versuchte ihn festzuhalten, doch ein unsichtbarer Druck stieß sie zurück. Rudolf riss den Abschaltkasten aus der Tasche, das Gerät, das sie unter der Eiche gefunden hatten. Er drückte auf das Zifferblatt.
Einmal, zweimal, dreimal. Ein lautes Knacken. Das Licht flackerte. Funken regneten von der Decke. Von Kalders stieß einen Laut zwischen Schmerz und Triumph aus. “Nein”, brüllte er. “Sie verstehen nicht. Sie lebt.” Dann explodierte das Kupfer. Glas splitterte. Rauch quoll hervor. Eine Druckwelle warf sie alle zu Boden.
Rudolf schlug hart auf. Der Kasten glitt ihm aus den Händen, rollte über den Boden direkt bis zu Tom. Der Junge griff danach, das Licht traf ihn und plötzlich Stille, nur das Tropfen von Wasser, das aus der Decke fiel, der Geruch von verbranntem Metall und Staub. Rudolf richtete sich langsam auf. Das Licht der Maschine war erloschen.
Von Kaldas lag reglos am Boden, die Augen geöffnet, aber leer. Tom stand in der Mitte des Raumes. Er atmete. Tom, flüsterte Liselotte. Er drehte sich um. Seine Augen waren anders, tief, ruhig, und in ihnen spiegelte sich kein Mensch, sondern ein Licht, das aus einer anderen Welt zu stammen schien. Ich bin nicht mehr nur Tom”, sagte er leise. “aber ich bin frei.
” Der Wind fegte durch das zerstörte Kirchenschiff des Klosters, trug den Staub und rauch wie Asche über das bröckelnde Mauerwerk. Der Donner der Explosion war verklungen, doch das Echo der Maschine vibrierte noch immer im Stein, wie das Nachzittern einer Wunde. Dr. Rudolf Montauer lag halb bewusstlos zwischen Splittern und Metalltrümmern. die Luft in seiner Brust zäh und schwer.
Neben ihm stöhnte Liselotte, hielt sich an einer umgestürzten Säule fest. Ihre Haare klebten feucht an der Stirn, die Wangen aschgrau. Tom stand aufrecht inmitten des Chaos. Seine Kleidung war zerrissen, aber unversehrt. Das Licht, das ihn eben noch umfangen hatte, war verschwunden.
Nur seine Augen glüht schwach, wie zwei glimmende Kohlen unter einer Schicht von Asche. Kommissar Wagner kam hustend auf die Beine, zog den Revolver, obwohl keine Bewegung mehr in der Luft lag. Der Tote von Kaldas lag ausgestreckt zwischen den Resten der Maschine. Das Gesicht friedlich, fast erlöst. “Ist das vorbei?”, fragte Liselotte. Die Stimme kaum mehr als ein Hauch. Rudolf blickte zu Tom. Ich weiß es nicht.
Tom hob langsam die Hand, betrachtete sie, als wäre sie ihm fremd. “Ich kann sie alle hören”, sagte er leise. “Die Stimmen, die dort gefangen waren, sie sind fort. Endlich gefangen”, fragte Wagner. Der Junge nickte. In der Maschine waren Seelen, die sie gezogen haben, um ihre Kraft zu speisen. Kinder, alte, kranke. Sie glaubten, das Leben ließe sich bündeln wie Strom.
Aber jedes Leben, das sie nahm, blieb irgendwo dazwischen. Er sah auf seine Handflächen. Ich war die Brücke, der Anker, wie sie sagten. Jetzt bin ich der, der sie losgelassen hat. Liselotte trat vorsichtig näher. Und du selbst bist du frei. Er sah sie an und für einen Moment war in seinem Blick etwas schmerzhaftes, reines.
Ich glaube ja, aber ich weiß nicht wie lange. Wagner trat an die Reste der Maschine. Ich will sicher sein, dass niemand das wieder zusammensetzt. Er zog eine kleine Metallflasche aus der Manteltasche, goß eine klare Flüssigkeit über die Kupferteile. Der scharfe Geruch von Petroleum füllte den Raum. “Zünden Sie an, Doktor.” Rudolf nickte und warf ein brennendes Stück Stoff hinein.
Eine Flamme züngelte auf, fras sich durch die Überreste. Das Feuer spiegelte sich in Toms Augen, doch er wich nicht zurück. Sie wird nie wiedersprechen”, sagte Rudolf leise. Wagner sah ihn an. “Und wenn jemand versucht, sie neu zu bauen, dann wird er nur noch Asche finden,” erwiderte der Arzt. und das Wissen darüber wird ich selbst begraben.
Die Nacht senkte sich über Lein. Der Wind trug das Knistern des Feuers über den Hof, wo die alten Statuen in der Dunkelheit schwiegen. Sie hatten das Kloster verlassen und saßen nun an einem kleinen Lagerfeuer nahe des Moores. Die Pferde standen dicht beieinander, dampfend, still. Anna hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt und blickte in die Flammen.
“Ich glaube, niemand in Berlin würde uns das glauben”, sagte sie tonlos. “Vielleicht ist das besser so”, antwortete Wagner. “Manche Wahrheiten dürfen nur dort leben, wo sie geboren wurden, im Dunkeln.” Liselotte saß neben Tom, der mit geschlossenen Augen atmete. Seine Haut war noch blass, aber nicht mehr totenähnlich.
Was wirst du jetzt tun?”, fragte sie sanft. “Ich weiß es nicht”, sagte Tom, ohne die Augen zu öffnen. “Ich höre die Welt lauter als zuvor, jedes Geräusch, jeden Atemzug und manchmal höre ich sie wieder, die Maschine, als wäre sie nur schlafend.” Rudolf wandte sich ihm zu. “Das ist nur Erinnerung, Tom, kein Echo mehr.
” Vielleicht, flüsterte der Junge, aber Erinnerungen sind stärker als Metall. Wagner stand auf, trat einen Schritt vom Feuer zurück und sah in die Dunkelheit, wo das Moor sich bewegte, wie eine lebendige Masse. “Ich habe in meinen Jahren viel gesehen”, sagte er, “aber nie etwas, das so nah an das Göttliche und das Verdammte zugleich reicht.” Rudolf schloss die Augen.
“Die Grenze ist schmal. Die Bruderschaft hat sie überschritten. Leonore Ibner wollte den Tod verstehen und hat ihn geweckt. Wir haben ihn wieder schlafen gelegt. Und doch, murmelte Wagner, wird irgendwer in 100 Jahren wieder an die Tür klopfen und fragen, was dahinter liegt? Dann wird er dieselbe Antwort finden wie wir, sagte Rudolf. Stille und Schuld. In den frühen Morgenstunden er losch das Feuer.
Nur der Geruch von Rauch blieb. Liselotte schlief, den Kopf an Annas Schulter gelehnt. Wagner döste mit dem Rücken gegen einen Baum, die Pistole in der Hand. Rudolf saß noch wach, das Notizbuch Ibners auf den Knien. Die letzten Seiten waren leer. Er nahm den Stift und schrieb langsam: 12. Juli 1871. Die Maschine ist zerstört von Kaldas tot. Tom lebt anders, aber lebt.
Ich habe gesehen, was jenseits des Lebens pulsiert. Wenn dieser Bericht je gefunden wird, möge er als Warnung dienen, nicht als Einladung. Der Tod ist keine Krankheit, er ist die Erinnerung selbst. Er legte das Buch beiseite, blickte auf Tom, der im Schlaf etwas Unverständliches murmelte.
Vielleicht Gebet, vielleicht Traum, vielleicht das letzte Echo der Maschine. Der Wind trug den Rauch davon, hinüber zu den Kiefern. Und zum ersten Mal seit vielen Tagen begann der Himmel im Osten sich zu färben. Der Morgen brach mit einem grauen, klaren Licht an. Das Moor dampfte und die Sonne kämpfte sich wie eine müde Münze durch den Nebel. Die Gruppe machte sich früh auf den Rückweg nach Berlin, erschöpft, schweigsam, mit dem Gefühl, aus einer Welt gekommen zu sein, die jenseits des Verstandes lag.
Kommissar Wagner ritt voraus, die Pistole griff bereit. Sein Blick glitt immer wieder über die Hügel, als erwarte er, daß aus dem Nebel Masken auftauchten. Doch nichts kam, nur der Wind, das ferneufen eines Vogels und das rhythmische Schlagen der Pferdehufe. Doch Rudolf Montauer saß in der Kutsche, das Tagebuch fest an sich gedrückt.
Tom neben ihm, blass, ruhig, die Augen halb geschlossen. Liselotte und Anna hielten schweigend seine Hände, als könnten sie das schwache Leben, das in ihm glomm, mit bloßer Berührung bewahren. “Wie geht es ihm?”, fragte Wagner, als er sich vom Pferd herabbeugte. “Er ist wach”, sagte Rudolf leise, “aber etwas an ihm verändert sich. Nicht wie eine Krankheit, eher wie ein Erwachen.
” Tom öffnete die Augen. “Ich träume nicht mehr”, flüsterte er. Ich sehe. Was siehst du? Fragte Liselotte vorsichtig. Licht, Ströme, Menschen wie Schatten aus Feuer. Ich sehe die, die leben und die, die bleiben. Ein Schauder lief Rudolf über den Rücken. Das sind nur Nachbilder, Tom. Dein Geist versucht zu heilen. Nein, sagte der Junge schlicht.
Ich sehe, was Leonore gesehen hat, was sie retten wollte. Wagner wandte sich ab. murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Gegen Mittag erreichten sie die Vorte Berlins. Der Himmel war schwer und der Wind trug Ruß aus den Fabriken über die Felder. Das Polizeipräsidium lag still wie ein Grab aus Stein.
Wagners Männer halfen, die Säcke mit den geretteten Dokumenten ins Gebäude zu tragen. Der Kommissar befahl, sie sofort in das unterirdische Archiv zu bringen. Unter drei Schlössern und mit Schweigen als viertes. Rudolf blieb mit Tom und den Schwestern in einem Seitenzimmer, dessen Fenster auf den Innenhof ging. Er bereitete Wasser, Brot, Brühe.
Die Frauen aßen kaum. Tom trank, ohne zu blinzeln. Dann sagte er plötzlich: “Sie kommen.” Rudolf hielt inne. “Wer?” “Die, die über ihnen stehen, antwortete Tom tonlos. Die Bruderschaft war nur ein Arm. Jetzt bewegt sich der Körper.” Noch ehe Rudolf antworten konnte, stürzte Wagner herein.
“Wir haben Befehl von oben”, sagte er atemlos. Ein Unterzeichner des Innenministeriums angeblich fordert alle Beweise heraus. Sie behaupten, es handle sich um einen Fall von industriellem Geheimnisverrat. “Das ist unmöglich”, rief Rudolf. “Diese Männer, diese Toten, das sind keine Beamtenfälle.” Ich weiß, Wagners Blick war kalt, aber jemand hat die Macht, die Wahrheit zu verschließen, bevor sie ausgesprochen wird.
Er trat ans Fenster, zog den Vorhang beiseite. Draußen im Hof standen zwei schwarze Kutschen, flankiert von Männern in langen Mänteln. Keine Abzeichen, kein Wort, nur Präsenz. Tom erhob sich wankend, aber aufrecht. “Sie wollen die Maschine nicht. Sie wollen mich.” “Das wird nicht geschehen”, sagte Wagner scharf. “Nicht, solange ich hier stehe.
” Rudolf trat an seine Seite, Kommissar, wenn Sie wirklich so hoch reichen, dann ist kein Ort sicher. Wir müssen ihn fortbringen. Heute? Jetzt? Wohin? Fragte Liselotte. Nach Norden sagte Rudolf. An die Ostsee. Ich kenne dort ein altes Sanatorium. Niemand wird dort suchen. Es ist leer seit Jahren. Wagner sah ihn an und für einen Moment blitzte in seinen Augen eine Müdigkeit auf, die tiefer war als Erschöpfung. Sie wollen ihn verstecken.
Ich will ihn retten. Die Flucht begann bei Einbruch der Dämmerung. Die Gruppe verließ das Präsidium durch einen Dienstgang, der in die alten Tunnel unter der Spray führte. Dort unten war die Luft schwer, feucht, durchzogen vom Geruch von Schlamm und Rost. Ratten huschten vor ihren Schritten davon und das Wasser glitzerte trüb im Laternenlicht.
“Diese Gänge führen bis zur Fischerinsel”, erklärte Wagner. “Von dort aus kommen wir auf die nördliche Straße. Danach freie Felder.” Sie gingen schweigend. Nur die Tropfen, die von der Decke fielen, zählten die Zeit. Tom hielt sich an Liselottes Arm. Sein Gesicht war bleich, aber in seinen Augen glomm ein sanftes inneres Leuchten.
Nach einer Weile blieb Rudolf stehen. Hören Sie das? Ein Geräusch metallisch entfernt wie ein Schritt, der sich im Echo vermehrt. Dann noch einer. Und einer. Wir sind nicht allein sagte Wagner leise. Er zog die Waffe. Sein Blick suchte die Dunkelheit. Ein Licht erschien am Ende des Tunnels, erst klein, dann größer.
Eine Lampe, aber das Licht war blau, elektrisch, unnatürlich. Zur Seite rief Rudolf, ein metallisches Zischen, dann ein blendender Blitz. Die Luft stank nach ozonischem Brandgeruch. Eine Kugel aus reinem Licht schlug gegen die Tunnelwand. Keine Explosion, sondern eine Art magnetischer Stoß. Der Boden vibrierte, das Wasser spritzte.
Wagner schoss zurück. Das Echo war ohrenbetäubend. Aus dem Licht trat eine Gestalt. Keine Maske diesmal, sondern ein Gesicht, bleich, schmal, mit silbernen Augen, die kein Leben kannten. Ein Mann, den Rudolf nie gesehen, aber sofort verstanden hatte.
Sie müssen Leonore Ibner gewesen sein,” sagte die Gestalt ruhig oder ihr Nachfolger. Beides ist gleichgültig. “Wer sind Sie?”, rief Wagner. “Ein Archivar”, sagte der Mann. “Ich lösche Spuren.” Tom machte einen Schritt nach vorn. “Nein, du löscht Leben. Ich bewahre Ordnung”, erwiderte der Mann. Seine Hand hob sich und das Licht in seiner Lampe pulsierte.
Du bist ein Fehler, ein Echo, das nie hätte klingen dürfen. Rudolf stellte sich vor den Jungen. Wenn er ein Echo ist, dann sind Sie ein Schatten. Und ich glaube, das Licht gehört den Echos. Ein zweiter Blitz. Diesmal traf er die Decke. Stein splitterte, der Tunnel erzitterte. Wasser brach durch die Ritzen, stürzte in Strömen herab. Lauft, brüllte Wagner. Sie rannten.
Das Wasser stieg schnell, erst knöcheltief, dann bis zu den Knien. Der Archivar schritt hinter ihnen her, ruhig, fast majestätisch, sein Licht wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Tom drehte sich um, seine Augen glüht heller. Er ist nicht allein. Und tatsächlich hinter dem Archivar zogen Schatten, schämenhafte Figuren aus Rauch mit Gesichtern, die niemandem gehörten.
Stimmen flüsterten namenlos. Liselotte schrie auf. Sie kommen. Rudolf packte Tom bei den Schultern. Kannst du sie aufhalten? Der Junge sah ihn an und in seinem Blick lag Schmerz und Entschlossenheit. Nur wenn ich bleibe. Nein, rief Liselotte, nicht wieder. Aber Tom lächelte. Diesmal gehe ich freiwillig.
Er trat einen Schritt zurück in die steigende Flut. Das Licht in seinen Augen wurde grell, überstrahlte selbst das des Archivares. “Ich war ihr Werkzeug”, sagte er ruhig. “Jetzt bin ich ihr Ende.” Dann breitete er die Arme aus und alles wurde weiß. Als Rudolf die Augen wieder öffnete, war alles still.
Das Wasser stand ihnen bis zur Hüfte. Der Tunnel war leer. Kein Archivar, keine Schatten. Nur der ferne Klang der Stadt über ihn. Wagner hielt Liselotte fest, die weinte lautlos wie jemand, der keinen Atem mehr übrig hat. “Er ist fort”, sagte Rudolf. “Nein”, flüsterte Anna. Er ist frei. Der Wind über der Spray roch nach Regen und altem Eisen.
Es war früher Morgen, als die kleine Gruppe durch einen der Nebenausgänge des Tunnels ans Ufer gelangte. Hinter ihnen tief unter der Erde lag das, was einmal Berlin getragen hatte und nun eine Grabkammer geworden war. Rudolf Montauer half Liselotte aus dem Wasser. Ihre Hände zitterten, ihre Kleider waren schwer von Schlamm. Anna folgte. Das Gesicht bleich, aber ruhig. Kommissar Wagner war der letzte.
Er zog sich an der Mauer hinauf. Seine rechte Schulter blutete, doch er schwieg. Keiner sprach von Tom. Das Schweigen zwischen ihnen war dichter als der Nebel. Der Fluß flossß still vorbei, schwarz und träge, als würde er alles verschlucken, was Menschen darin verloren. Nur hin und wieder glitt ein Stück Treibholz vorbei, das sich drehte, als wäre es ein Fingerzeig.
“Er hat sie gestoppt”, sagte Anna schließlich, “Nicht wahr?” Rudolf nickte langsam. “Ja, aber auf eine Weise, die wir nicht begreifen können.” “Was ist mit ihm geschehen?”, fragte Liselotte. Wagner antwortete, ohne sie anzusehen. Er hat das Licht genommen, dass sie suchten, und es gelöscht. Man nennt so etwas Opfer. Ich nenne es Erlösung.
Sie fanden Unterschlupf in einem kleinen Gasthof am Rande der Stadt, einem Ort, an dem niemand Fragen stellte. Die Wirtin stämmige Frau mit müden Augen, brachte ihnen Suppe und saubere Kleidung. Draußen zog ein Gewitter auf. Rudolf saß am Fenster, das Ibners Tagebuch auf dem Schoß. Er blätterte es auf, als wollte er etwas finden, eine Formel, einen Hinweis, irgendetwas, das den Verlust erträglich machte.
Die letzten Seiten waren leer, doch als er mit dem Daumen über das Papier strich, schien es, als würden Worte im Licht auflackern. Jedes Leben ist ein Kreis. Wer ihn schließt, löst die Welt aus der Zeit. Er schloos das Buch langsam. “Sie wußte es”, sagte er leise. Leonore wußte, daß es enden mußte und sie hat es Tom überlassen.
“Vielleicht war er nie nur ein Opfer”, murmelte Liselotte. “Vielleicht war er die Antwort.” Draußen zuckte ein Blitz und der Donner rollte über die Dächer. Am nächsten Morgen kehrten sie in die Stadt zurück. Wagner brachte die gesicherten Dokumente persönlich in ein abgeschottetes Archiv. Ein Gewölbe tief unter der Polizeidirektion. Nur drei Menschen hatten Schlüssel dorthin.
“Ich werde sie nicht freigeben”, sagte er zu Rudolf. “Nicht in meiner Lebenszeit, nicht in der eines Ministers.” Und danach fragte der Arzt, “danach ist es nicht mehr meine Stadt”, antwortete Wagner. Dann soll das Schicksal selbst entscheiden, ob es vergessen oder erinnern will. Sie verabschiedeten sich wortlos.
Der Kommissar trat in den Regen hinaus, die Schultern schwer, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Rudolf blieb stehen, bis der Mann in der Menge verschwand. Dann wandte er sich ab zu den Schwestern, die auf ihn warteten. Die Tage danach vergingen in einer seltsamen Ruhe. Berlin atmete weiter, als wäre nichts geschehen. Zeitungen berichteten über den Brand in Lenin. Ein Unfall hieß es.
Niemand sprach von Maschinen, von Bruderschaften, von einem Jungen, der aus Licht bestand. Doch in Rudolfs Praxis in der Dorothenstraße geschah etwas, dass er nicht erklären konnte. Eines Morgens, als er die Lamellen des Fensters öffnete, stand auf dem Schreibtisch eine kleine Kupferscheibe. Sie war dünn, markellos und in der Mitte war ein Symbol eingraviert, die sich verschlingende Schlange. Er hob sie auf, drehte sie.
Auf der Rückseite stand in feiner, sauberer Schrift: “Ich bin dort, wo kein Schatten ist.” Seine Hand bebte. Die Worte waren eingeritzt, nicht geschrieben. Metallisch, präzise, als wären sie von einer Maschine graviert oder von einer Hand, die keine mehr war. Er setzte sich, sah lange auf die Scheibe, dann legte er sie behutsam in eine Schublade und schloss sie ab.
Lise Lotte, sagte er, als sie wenig später eintrat, wenn dich je jemand nach dem Jungen fragt, sag, du kennst kein Sie nickte, aber in ihren Augen glomm ein stilles Leuchten, das ihm sagte, dass sie ihn doch nie vergessen würde. Ein Jahr verging. Die Stadt veränderte sich.
Straßen wurden gepflastert, neue elektrische Leitungen gezogen, Gaslaternen ersetzt. Berlin schimmerte heller und kälter. Doktor Mondtauer arbeitete weiter, behandelte Arbeiter, Kinder, Witwen. Doch nachts schrieb er Berichte, Gedanken, Fragmente über Leben und Mechanik, über Seele und Struktur, über das, was er gesehen hatte. Und manchmal, wenn der Wind durch das offene Fenster kam, glaubte er, ein leises Summen zu hören, kaum hörbar wie ein Atemzug im Dunkeln. Er lächelte dann, müde, aber friedlich.
“Schlaf gut, Tom”, sagte er leise. “Die Welt ist leiser geworden für dich.” Ein Jahr nach diesen Ereignissen, an einem kalten Novembermorgen, kam ein Brief ohne Absender. Darin lag eine einzelne Seite, vergilbt mit einer Schrift, die ihm sofort vertraut war. Lieber Rudolf, du hast getan, was Menschen selten können.
Du hast die Grenze berührt und bist doch zurückgekehrt. Hüte dich vor der Versuchung, sie erneut zu suchen. Wenn du das Licht hörst, wende dich ab. Es spricht nicht zu dir, es erinnert sich nur. Unterzeichnet war er mit drei Buchstaben. L, der Zalie, Leonore, Ibener. Rudolf hielt das Blatt lange in den Händen, während draußen die Glocken der Garnisonkirche schlugen.
Er wusste nicht, ob der Brief alt war oder neu, echt oder Täuschung. Aber er wußte, daß manche Stimmen über die Zeit hinausen und manche Kreise nie ganz geschlossen werden. Der Winter des Jahres 1872 brachte Schnee, der tagelang auf den Straßen Berlins liegen blieb, als hätte die Stadt beschlossen, ihre Spuren unter weißer Stille zu verbergen.
Die Pferdehufe klangen dumpf, Wagenräder knirschten und die Luft war voller Atemwolken. Dr. Rudolf Montauer war älter geworden, ein Jahr nur. Doch in seinem Gesicht hatten sich Linien vertieft, die kein Spiegel mehr glätten konnte. Die Praxis lief weiter, ruhig, routiniert. Niemand sprach mehr über Lenin, über die Bruderschaft, über die Nacht im Tunnel.
Nur manchmal, wenn das Licht in einem metallischen Winkel auf die Wände fiel, spürte Rudolf das Gewicht des Schweigens. Die Schwestern von Kaldas hatten Berlin verlassen. Liselotte war nach Hamburg gezogen, um dort als Krankenschwester zu arbeiten, um zu heilen, nicht zu hoffen, wie sie ihm schrieb.
Anna hatte sich einer kleinen Schule angeschlossen, wo sie Kinder unterrichtete, die niemand sonst wollte. In ihren Briefen stand stets dasselbe. Er fehlt uns. Und Tom blieb ein Schweigen, dass keine Worte füllen konnten. An einem Abend, als der Schnee wieder fiel und die Stadt in das matte Gold der Gaslaternen getaucht war, klopfte es an Rudolfs Tür. Er öffnete und fand Kommissar Wagner auf der Schwelle. Der Mann war gealtert, mehr als ein Jahr erlauben sollte.
Die Uniform saß schief, das Gesicht war vom Frost gerötet. Darf ich eintreten?”, fragte er. Rudolf nickte und führte ihn in den Salon. Sie setzten sich an den Ofen, dessen Feuer kaum noch glomm. “Ich habe aufgehört”, sagte Wagner nach einer Weile. “Die Kommission für innere Sicherheit wurde aufgelöst. Die Akten, die wir damals sicherten, sind fort.” “Fort”, wiederholte Rudolf.
Versiegelt, nicht vernichtet, aber unzugänglich. Es heißt, sie seien in ein technisches Archiv überführt worden, das dem Kriegsministerium unterstellt ist. Man nennt es Abteilung für mechanische Forschung. Rudolf schloss die Augen. Sie fangen von neuem an oder sie beenden, was nie aufgehört hat. Ein Windstoß drückte an die Scheiben, ließ das Feuer flackern.
Wagner stand auf, trat zum Fenster. Ich dachte, ich hätte Frieden gefunden, aber gestern, er zögerte, gestern fand ich etwas auf meinem Schreibtisch. Kein Brief, kein Siegel, nur ein Zahnrad. Kupfer, glatt wie Wasser. In die Rückseite war eine Spirale graviert, dieselbe Schlange. Rudolf sah ihn an, das Blut wich ihm aus dem Gesicht.
Dann wissen sie, daß wir leben oder jemand anderes will, daß wir es wissen. Spät in der Nacht, nachdem Wagner gegangen war, saß Rudolf allein an seinem Schreibtisch. Draußen fiel der Schnee dichter. Die Stadt lag begraben unter der lautlosen Last des Winters. Er nahm die kleine Schublade, öffnete sie.
Die Kupferscheibe, die damals plötzlich aufgetaucht war, lag noch darin. Daneben legte er jetzt das Zahnrad, das Wagner ihm gezeigt hatte. Sie passten zusammen. Perfekt. Ein feines Klicken erklang und in der Mitte beider Metalle öffnete sich ein winziger Spalt, kaum sichtbar. Darin, kaum größer als ein Stecknadelkopf, lag ein Stück Papier. Er zog es vorsichtig heraus.
Darauf stand nur ein einziger Satz in einer Handschrift, die er kannte, obwohl sie nicht menschlich war. Das Licht schläft, aber es träumt. Rudolf saß reglos, während draußen der Wind heulte. Die Tage danach verbrachte er in einer Art fiebriger Unruhe. Er begann Ibners Aufzeichnungen erneut zu studieren, Seite für Seite. Manche Sätze schienen sich verändert zu haben, als würde die Tinte wandern. neue Worteform.
Einmal in einer stillen Stunde glaubte er eine Stimme zu hören. Nicht laut, nicht hallend, nur ein Flüstern hinter der Haut der Welt. Doktor, er blickte auf. Nichts, nur das Summen der Gaslampe, das Rauschen des Windes. Und doch, ich habe versprochen zu wachen, Tom, flüsterte er. Kein Antwort, nur das leise Zittern des Feuers.
Am dritten Tag kam ein Telegramm. Absender unbekannt. Inhalt: Projekt St. Leonor, Standort: Kiel, Maschinenaktiv. M. Rudolf starrte auf das Blatt, das zwischen seinen Fingern zitterte. “Kiel”, murmelte er, am Meer, so wie Tom sagte. Er griff nach Mantel und Hut. Draußen schlug die Kälte ihm ins Gesicht, doch er spürte sie kaum. Seine Füße fanden den Weg von allein.
Auf der Treppe blieb er kurz stehen und blickte noch einmal in seine Wohnung zurück. Das Feuer war fast erloschen. Auf dem Tisch lag das Tagebuch offen, als hätte jemand weitergeschrieben. Die Kreise schließen sich aber nicht dort, wo sie begannen. Er atmete tief ein, dann ging er. Die Reise nach Kiel dauerte zwei Tage.
Der Zug schnitt durch die verschneiten Ebenen, durch Dörfer, die wie Skizzen unter dem weißen Himmel lagen. Rudolf sprach mit niemandem. Als er in der Dämmerung ankam, empfing ihn der Geruch von Salz, Kohle und kaltem Wasser. Die Stadt lag still, das Meer hinter ihr wie ein schwarzer Spiegel. Er folgte der Adresse, die ihm ein Straßenjunge gegen eine Münze zögernd genannt hatte, St.
Leonor, Institut für elektrische Heilverfahren. Das Gebäude lag am Rand des Hafens, eine alte Festung, umgebaut, modernisiert. Über dem Tor brankte ein Emblem, eine Schlange, die sich selbst verschlang. Rudolf blieb stehen. “Es hat nie aufgehört”, flüsterte er. Und hinter dem Tor, kaum hörbar im Wind klang ein Summ.
Sanft, vertraut, wie der Herzschlag einer Maschine, die sich an ihren Erbauer erinnerte. Der Wind vom Meer roch nach Metall und Salz. Über den Hafen von Kiel hing Nebel wie feuchtes Glas, das jede Bewegung verschluckte. Dr. Rudolf Montauer stand am Tor des Instituts St. Leonore und fühlte, wie die Luft vibrierte.
nicht vom Wetter, sondern von etwas tieferem, einer Spannung, die ihm aus der Brust in die Fingerspitzen kroch. Das Tor war nicht verriegelt. Es öffnete sich mit einem kaum hörbaren Klicken, als hätte es auf ihn gewartet. Dahinter ein Innenhof, sauber gepflastert, gesäumt von Laternen, die elektrisches Licht ausstrahlten. Kühler, bläulicher als jedes Gaslicht Berlins. Ein Summen lag in der Luft, konstant.
beruhigend und zugleich unheimlich vertraut. Rudolf ging langsam weiter. Kein Wächter, kein Geräusch außer dem Wind und dem gedämpften Schlagen der Wellen gegen die Mauer. Auf der Tür des Hauptgebäudes brankte eine Messingtafel. Institut für angewandte Vitalmechanik. Leitung: Professor M.
Ibener. Er blieb abrupt stehen. M. Ibener, nicht Leonor, aber derselbe Name. Er öffnete die Tür. Der Flur dahinter war markellos hell. Glatte Wände, Metallröhren, aus denen Licht floss. Der Boden glänzte wie Glas. In den Ecken summten Apparate, deren Zweck er nicht verstand. Und mitten in dieser steril perfekten Welt stand eine Frau.
Sie war jung, kaum drei trug einen weißen Kittel, die Haare zu einem festen Knoten gebunden. Ihre Augen waren grau wie Stahl. Dr. Monauer sagte sie ruhig, als hätte sie ihn erwartet. “Sie sind spät. Wer sind Sie?” Margarete Ibner, antwortete sie, Tochter von Leonor. Rudolf fühlte, wie ihm die Kehle trocken wurde. Leonore Ibena hatte keine Kinder. Oh, doch, sagte die Frau, aber sie sprach nie darüber.
Ich bin das, was blieb, nachdem sie das Licht berührt hat. Sie wandte sich um und ging den Gang hinunter. Rudolf folgte ihr, ohne es zu wollen. Hinter einer Tür aus dickem Glas lag ein Saal, der einem Labor gllich oder einem Tempel. An den Wänden reiten sich Batterien und Spulen. Kabel liefen über den Boden wie metallene Adern und im Zentrum eine Maschine, nicht wie jene in Lehnen.
Keine rostige Kathedrale aus Kupfer, sondern etwas Feineres, reineres, eine schwebende Konstruktion. aus Glasring, zwischen denen elektrische Funken tanzten. Das Summen, das er draußen gehört hatte, kam von hier. “Das ist ihre Vollendung”, sagte Margarete. “Meine Mutter hat die Struktur entworfen. Sie glaubte, das Bewusstsein sei eine Frequenz, kein Zustand. Sie hat bewiesen, dass Erinnerung Materie ist.
” Rudolf trat näher. Die Luft roch nach Ozon. “Sie haben keine Ahnung, was sie tun. Diese Maschine hat Menschen zerstört. Margarete sah ihn an, ruhig, beinahe mitleidig. Nein, Doktor, ihre Maschine hat sie festgehalten. Meine wird sie zurückgeben. Wen? Alle. Das Licht in der Kammer veränderte sich. Der Strom floss stärker. Die Glasringe begannen sich zu drehen. Erst langsam, dann schneller.
Ein leises Singen erfüllte die Luft, als würde jemand unter der Oberfläche der Welt eine Seite anschlagen. “Stoppen Sie das”, rief Rudolf. “Sie wissen nicht, was Sie öffnen.” “Oh doch”, sagte Margarete. “ndi auch, wer sie geschickt hat.” Sie sah ihn an und für einen Moment war ihr Blick nicht menschlich. In ihren Augen spiegelte sich etwas, das tiefer war als Licht.
Er hat mich geschickt, flüsterte sie. Ihr Tom. Rudolf wich zurück. Unmöglich. Er lebt nicht. Nicht wie sie. Aber er ist da in den Strömen. Er hat mir gezeigt, was meine Mutter sah, bevor sie starb, dass der Tod kein Ende ist, sondern ein Muster. Und ich kann es wieder zeichnen. Sie legte ihre Hand auf einen Hebel.
Die Maschine sang höher, das Glas vibrierte. Der Raum flimmerte. Rudolf stürzte nach vorn, packte ihren Arm. Wenn Sie das tun, reißen Sie die Grenze ein. Alles, was Sie geopfert haben, was er geopfert hat, wird umsonst sein. Margarete sah ihn an. Sie irren, Doktor. Grenzen sind zum Überschreiten da. Sie zog den Hebel.
Das Licht brach aus der Maschine wie ein Sturm. Der Boden erzitterte, die Luft schrie. Bilder flackerten vor Rudolfs Augen, Gesichter, Orte, Erinnerungen, Lehnen, die Villa, die Porzellanmasken, Toms Blick, Leonoras Hände über den Schaltknöpfen, alles gleichzeitig. Er hörte Stimmen, Hunderte, tausende, manche flehten, manche lachten.
Und dann inmitten des tosenden Lichts stand Tom nicht als Körper, sondern als Form aus Licht und Schatten, klar und still. Rudolf, sagte er, sie wollte die Welt zurückbringen, die ich gehen ließ. Dann halte sie auf, schrie der Arzt. Ich kann nicht, ich bin Teil davon, aber du kannst wählen. Was? zerstören oder bewahren. Beides ist schuld.
Rudolf zitterte, das Licht schnitt in seine Haut, die Maschine pulsierte, bereit zu zerbrechen. Er griff nach dem Abschaltkasten, den er nie weggeworfen hatte, der in seiner Tasche lag wie ein vergessenes Herz. Er wusste, was er tun mußte und was es kosten würde. Er sah Tom an. Wenn ich das tue, bist du fort. Tom lächelte. Ich war nie fort, Rudolf.
Ich war Erinnerung. Der Arzt drückte den Schalter, ein Laut wie das Zerreißen des Himmels. Alles wurde weiß, kein Schmerz, kein Ton, nur Licht. Dann dunkel. Als Rudolf die Augen öffnete, lag er auf kaltem Stein. Der Raum war still. Kein Summ, keine Funken. Die Maschine war verschwunden. Nur Staub blieb und ein Geruch nach Salz und Metall. von Margarete Ibner keine Spur.
Er erhob sich mühsam, trat hinaus in den Hof. Die Sonne ging über dem Meer auf, das Wasser war still, spiegelglatt und in der Ferne, auf der Linie zwischen Himmel und See glomm kurz ein Schimmer. Nicht grell, nicht bedrohlich, sanft wie ein Gruß. Rudolf lächelte. “Schlaf, Tom”, sagte er leise und “Und träum schön.
Dann wandte er sich ab und ging langsam in die Stadt zurück, während die Sonne die letzten Schatten von der Welt nahm. Epilog. Im Frühjahr 1873 veröffentlichte ein gewisser Dr. R. Monauer in einer kleinen Zeitschrift für naturphilosophische Studien einen anonymen Artikel mit dem Titel Über die elektrische Struktur der Erinnerung. Der Artikel wurde nie offiziell zitiert, doch Jahrzehnte später fand man im Nachlass eines Kieler Professors eine Notiz. Die Theorie war nicht falsch, nur zu früh. Niemand weiß, wo Dr.
Monauer starb. Aber manchmal, wenn Sturm über die Ostsee zieht und der Wind metallisch klingt, schwören Fischer ein fernes Summen zu hören, wie von einer Maschine, die schläft. M.