Es war der 70. Geburtstag von Opa Heinz. Wenn Opa Heinz feierte, dann feierte das halbe Dorf mit, und die andere Hälfte kam, um zu gucken, ob noch was übrig war. Der Partykeller im Neubauviertel von Karl-Marx-Stadt war geschmückt mit Luftschlangen, und auf dem Buffet stand der Stolz der DDR-Gastfreundschaft: Soljanka, gefüllte Eier und eine Batterie von Flaschen, die bunter leuchtete als die Weihnachtsbeleuchtung im Centrum Warenhaus.

„Komm rein, Junge!“, rief Onkel Werner, dessen Wangen bereits verdächtig rosig leuchteten. „Heute wird nicht gekleckert, heute wird geklotzt!“
Auf dem Tisch stand er, der König des Abends, der Echte Nordhäuser Doppelkorn. Bodenständig, klar, ehrlich. Opa Heinz schwörte drauf. „Wer Nordhäuser trinkt, braucht keine Erklärung, nur ein zweites Glas“, pflegte er zu sagen. Und so begann der Abend mit einem „Sport frei!“ und einem kurzen, herben Brennen im Hals.
Doch die Damenwelt hatte andere Pläne. Tante Helga, immer die Elegante, griff zielsicher zur Flasche mit dem exotischen Etikett: Sambalita. „Das schmeckt nach großer, weiter Welt“, seufzte sie und nippte an dem Maracuja-Likör. Früher war da mal eine halbnackte Schönheit auf dem Etikett, jetzt war es eine Dame mit Obstkorb, aber der Geschmack blieb: süß, klebrig und irgendwie nach Sehnsucht. Daneben stand der Kirschlikör, dunkelrot und sirupartig. Oma Trude kippte ihn sich gern mal über das Vanilleeis, wenn der Eierlikör alle war. „Ist ja quasi Obst“, sagte sie immer und zwinkerte.
In der Ecke saßen die Jugendlichen, mein Cousin Micha und seine Kumpels. Sie hatten sich um eine Flasche versammelt, deren Farbe irgendwo zwischen radioaktivem Abfall und Hoffnung lag: Pfeffi. Der Pfefferminzlikör war billig, er war scharf, und er machte einen frischen Atem, auch wenn man schon lallte. „Zahnpasta mit Wodka“, nannte Micha es grinsend und kippte ein Gläschen. Um stilvoll zu wirken, hatten sie auch eine Flasche Berliner Luft organisiert. Die war klar, nicht grün, und galt als die feine Cousine des Pfeffi. „Für den gehobenen Genuss“, spottete Micha, trank sie aber trotzdem.
Plötzlich ging die Tür auf, und Nachbar schulze kam herein, triumphierend eine Flasche hochhaltend. „Seht mal, was ich im Intershop ergattert habe!“ Es war Stolichnaya. Der Saal wurde still. Das war kein Schnaps, das war Währung. Importiert aus der Sowjetunion, weich, fast elegant. Opa Heinz nickte anerkennend. „Heute wird nicht gespart“, verkündete er und holte die guten Gläser aus der Vitrine.
Doch nicht alle hatten Westgeld. Onkel Werner, der Pragmatiker, zog eine Flasche Goldbrand aus der Jackentasche. Der gute alte „14,50er“. Ein Weinbrandverschnitt, der nach nichts Besonderem schmeckte, aber zuverlässig wärmte. „Mit Cola geht alles“, lachte er und mischte sich eine „Futschi“.
Der Abend nahm Fahrt auf. Es wurde getanzt, gelacht und natürlich getrunken. Irgendwann tauchte eine Flasche mit einem Namen auf, bei dem sich alle erst mal die Zunge verknoteten: Stichpimpuli Bockforcelorum. „Was ist das denn für ein Hexengebräu?“, fragte Tante Helga skeptisch. „Hustensaft für Erwachsene“, erklärte Opa Heinz. Bitter, kräuterig und mit einem Namen, den man nach dem dritten Glas garantiert nicht mehr aussprechen konnte. Wer es trotzdem schaffte, durfte nachschenken. Keiner schaffte es.
Später am Abend, als die Gespräche tiefer und die Zungen schwerer wurden, holte Opa Heinz seinen geheimen Schatz aus dem Regal: Aromatique, kurz „Aro“. Ein Kräuterlikör aus Neudietendorf, dunkel und würzig. „Das ist Medizin“, behauptete Opa steif und fest. „Hilft gegen alles. Magen, Kopf, Weltschmerz.“ Wir tranken ihn pur und verzogen synchron die Gesichter. Er schmeckte nach Apotheke, aber auf eine gute Art.
In der Küche braute Tante Uschi derweil ihren berühmten Eierlikör. Die Geheimzutat? Prima Sprit. 95 Prozent reiner Alkohol. Auf der Flasche war eine Flamme abgebildet – zu Recht. „Das Zeug ist gefährlich“, warnte Onkel Werner, während er heimlich den Löffel ableckte. „Damit kann man Raketen starten.“ Aber im Eierlikör, mit Puderzucker und Kondensmilch, war er harmlos. Dachten wir zumindest.
Gegen Mitternacht wurde es wild. Micha holte den Kristall Wodka raus, den berüchtigten „Blauen Würger“. Scharf, brennend und kompromisslos billig. Dazu gab es saure Gurken. Es war das Getränk, wenn man schnell vergessen wollte, dass morgen Montag war. Parallel dazu packte Opa eine Flasche aus, die aussah wie aus dem Mittelalter: Klosterbruder. Und daneben etwas noch Seltsameres: Krabbel die Wand nuff. „Der Name ist Programm!“, rief Opa. Der Kräuterlikör war feurig, und wer zu viel davon trank, hatte tatsächlich das Gefühl, die Wände hochgehen zu können.
Als die Party sich dem Ende zuneigte, saßen nur noch die harten Kerne da. Mein Vater, der im Bergbau arbeitete, erzählte von früher, vom Kumpeltod. Dem steuerfreien Trinkbranntwein, den die Bergarbeiter als Deputat bekamen. „32 Prozent, schmeckte wie Benzin, aber nach einer Schicht unter Tage war dir das egal“, sagte er nachdenklich. Zum Abschluss gab es noch etwas Sanftes. Lauterer Luft für die Damen – ein Kaffeelikör, mild und harmonisch. Und für die Herren Mocca Edel, die dunkle, herbe Variante.
Am nächsten Morgen war der Kopf schwer, aber das Herz leicht. Die Flaschen standen leer auf dem Tisch wie Soldaten nach einer geschlagenen Schlacht. Der grüne Pfeffi, der edle Stolichnaya, der bodenständige Goldbrand. Sie alle waren mehr als nur Alkohol. Sie waren flüssige Geschichte. Sie gehörten zu uns, zu unseren Feiern, zu unserem Leben.
„Nie wieder“, stöhnte Onkel Werner, als er sich ein Glas Wasser einschenkte. Opa Heinz lachte heiser. „Bis zum nächsten Mal, Werner. Der Wilde Sau Kräuterlikör im Schrank wird ja nicht schlecht.“
Und so war es. Denn in der DDR wurde vielleicht viel improvisiert, aber gefeiert wurde immer – und getrunken sowieso.