Zwischen den Welten: 328 Tage, die alles veränderten

Der Novembernebel hing tief über den Wachtürmen, als die Welt, wie Erich Petke sie kannte, in sich zusammenfiel. Es war der 9. November 1989, und die Grenze, die er mit Leib und Seele, mit zweihundertprozentiger politischer Überzeugung verteidigt hatte, war plötzlich durchlässig wie ein Sieb. Erich war Major der DDR-Grenztruppen im thüringischen Treffurt. Jahrelang hatte er seinen hundert Soldaten eingeprägt, dass drüben, auf der hessischen Seite, der Feind lauerte – bis an die Zähne bewaffnet, bereit, morgen anzugreifen. Seine Welt war schwarz und weiß, gut und böse, geordnet durch Befehle und den stählernen Vorhang, der sich quer durch Deutschland zog. Doch in dieser Nacht, als die Bilder von tanzenden Menschen auf der Berliner Mauer um die Welt gingen, zerbrach Erichs Lebenswerk. Während auf beiden Seiten der Grenze Sektkorken knallten und Trabis wie bunte Käfer in den Westen strömten, saß Erich in seiner Kaserne und spürte eine Kälte, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Es war die Angst. Existenzangst. Was würde aus ihm werden? Einem Grenzer, dessen einziger Job es gewesen war, das eigene Volk am Gehen zu hindern? In seinem Kopf kreisten Fragen ohne Antworten: Würde der Bundesgrenzschutz sie übernehmen? Würden sie alle entlassen? Oder schlimmer noch: Würden sie vor Gericht gestellt werden? Es war eine Stille inmitten des Lärms der Freiheit, eine Stille, die nur die Verlierer der Geschichte hören können.
Weit entfernt von der grünen Grenze, im westdeutschen Mittelfranken, saßen Barbara und Klaus Egler vor dem Fernseher und weinten. Sie waren keine Verlierer der Geschichte, sie waren Flüchtlinge, die nun zu Rückkehrern werden wollten. 1984 hatten sie die DDR verlassen, mürbe gemacht von der Unfreiheit, und hatten sich im Westen eine Existenz mit zwei Quelle-Geschäften aufgebaut. Doch als die Mauer fiel, zog es sie magisch zurück in die alte Heimat, nach Weida in Thüringen. Klaus hatte dieses Leuchten in den Augen, denselben Unternehmergeist, der sie schon im Westen vorangebracht hatte. „Lass uns zurückgehen“, sagte er zu Barbara. „Der Bedarf an westlichen Artikeln ist riesengroß. Wir eröffnen dort ein Geschäft.“ Der Quelle-Katalog – im Osten ein fast mystisches Buch der Sehnsüchte, das unter der Hand weitergereicht, geschmuggelt oder für horrende Summen verkauft wurde – sollte nun offiziell die Wohnzimmer der DDR erobern. Doch die Realität im Osten war noch immer grau. Auch Monate nach dem Mauerfall herrschte Mangel. Barbara erinnerte sich an den Versuch, Schrauben zu kaufen. „Schlossschrauben? Hammer nich. Holzschrauben? Hammer nich.“ Die Regale waren leer, die Gesichter der Verkäufer müde.
Während die Eglers Pläne schmiedeten, kämpfte Erich Petke mit seiner neuen Realität. Die Nationale Volksarmee, einst der Stolz des Staates, wurde abgewickelt. Am Vorabend der Deutschen Einheit sollten 76.000 Soldaten die Uniform wechseln, doch für Erich gab es keinen Platz in der Truppe, nur eine Stelle als Zivilbeschäftigter. Und das Schicksal hatte einen Sinn für Ironie. Sein neuer Vorgesetzter bei der Bundeswehr drückte ihm einen Schlüssel in die Hand. „Fahrzeug übernehmen, Kleinbus B1000“, sagte er knapp. „Ab morgen dienstlicher Einsatz in Berlin zum Mauerabbau.“ Erich starrte den Schlüssel an. Er, der Wächter der Grenze, sollte sie nun beseitigen. Am nächsten Morgen, um sechs Uhr früh, stand er im Raum Treptow. Kräne hoben die schweren Betonelemente, die fast drei Jahrzehnte lang Menschen getrennt und Leben gekostet hatten, einfach aus ihrer Verankerung. Erich fuhr den Bus, versorgte die Kollegen mit Essen. Zum ersten Mal traf er auf Westdeutsche, auf die einstigen „Feinde“. Und er stellte fest, dass sie keine Monster waren, sondern Profis. Sein Feindbild bröckelte schneller als der Beton der Mauer. Es war ein schmerzhafter, aber heilsamer Prozess. Aus der eigenen Erfahrung, nicht durch Propaganda, lernte er, dass die Welt komplexer war als der Zielfernrohrblick eines Grenzoffiziers.
Parallel dazu begann für die Eglers in Weida das Abenteuer ihres Lebens. Die Quelle-Zentrale im Westen war zunächst skeptisch gewesen, doch als das Gerücht aufkam, der Konkurrent Otto wolle in Leipzig eröffnen, ging alles ganz schnell. Innerhalb von zehn Tagen stampften Barbara und Klaus eine Filiale aus dem Boden. Es war Pionierarbeit im wilden Osten. Mit Sondergenehmigungen karrten sie Waren heran, vorbei an den noch existierenden Kontrollen einer sterbenden Republik. Am 29. März 1990 öffneten sie die Türen. Die Menschen standen Schlange. „Wir wollen immer acht Leute reinlassen“, rief Barbara in die Menge, um Panik zu vermeiden. „Sind Sie damit einverstanden?“ Die Menschen nickten. Sie hätten alles getan, um endlich an die begehrten Westprodukte zu kommen. Kleinelektroartikel gingen weg wie warme Semmeln. Toaster, Kaffeemaschinen, Haartrockner – Dinge, die den Alltag bunter machten. Und dann kam der Juli 1990, die Währungsunion. Die D-Mark hielt Einzug. Für die Eglers war es, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. Videorekorder und Fernseher wurden nicht gekauft, sie wurden den Eglers förmlich aus den Händen gerissen. Es war eine Goldgrube, ein Rausch des Konsums, der sich über das Land legte wie ein glitzernder Teppich.
Doch während in Weida die Kassen klingelten, wurde es in Dresden still. Gespenstisch still. Franz Zadnicek, ein stolzer Werkzeugmacher bei Pentacon, den berühmten Kamerawerken der DDR, kehrte im Sommer 1990 aus dem Urlaub zurück. Er ging die vertraute Straße zu seinem Betrieb hoch, doch der Lärm der Maschinen fehlte. Als er an die Pforte kam, war sie verschlossen. Pentacon, der Ort, an dem bis zu 400.000 Praktica-Kameras im Jahr gefertigt wurden, war tot. Die Treuhandanstalt, jene neue, mächtige Behörde, die das Volkseigentum privatisieren sollte, hatte ihr Urteil gefällt. Die Praktica war auf dem Weltmarkt chancenlos, die Produktion zu teuer, die Technik veraltet. Für Franz und seine Kollegen war das unverständlich. Sie hatten doch die Illusion gehabt: „Jetzt, mit dem Westen, können wir endlich die wirklich tolle Kamera bauen.“ Sie hatten nicht begriffen, dass es diese Kamera anderswo schon längst gab. Am 2. Oktober 1990, einen Tag vor der Einheit, verkündete die Treuhand die Liquidation. Franz stand vor den verschlossenen Toren und fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Die DDR war eine arbeiterliche Gesellschaft gewesen; der Betrieb war nicht nur Arbeitsplatz, er war Kindergarten, Ferienheim, Arztpraxis und Konsum. Als die Treuhand diese Struktur zerschlug, löste sie nicht nur Arbeitsverhältnisse auf, sondern zerriss das soziale Gewebe ganzer Lebenswelten. Franz sah zu, wie die Gebäude abgerissen wurden, wie sein Lebenswerk verschrottet wurde. Er fühlte sich verraten, verkaufte an die „blanken Kapitalisten“, auch wenn die wirtschaftliche Realität nüchterner war: Der Betrieb war schon lange am Ende gewesen.
Doch für Franz kam es noch dicker. Das Gefühl, in der DDR beschattet worden zu sein, hatte ihn nie losgelassen. Jahre später stellte er einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Stasi-Unterlagen-Behörde. Was er in den grauen Pappordnern fand, raubte ihm den Atem. Die Stasi hatte alles gewusst. Aber schlimmer noch waren die Namen der Inoffiziellen Mitarbeiter. Es waren keine Fremden im Trenchcoat. Es waren seine Eltern. Seine Verwandten. Seine Freunde. „Da stehen Sie dann plötzlich in der Stube und fangen an zu brüllen“, erinnerte sich Franz an den Moment der Wahrheit. Die Menschen, die er liebte, hatten ihn „Jahrzehnte wie an der Leine gehalten“, und er hatte es nicht gemerkt. Das System hatte sich bis in die intimsten Winkel seines Lebens gefressen und alles vergiftet. Es war ein doppelter Schock: der Verlust der wirtschaftlichen Existenz und der Verlust des menschlichen Urvertrauens. Doch Franz war ein Überlebenskünstler. Er nahm das Einzige, was ihm blieb – seine Liebe zur Fotografie – und ging in den Westen. Er kaufte sich eine moderne Ausrüstung und begann ein neues Leben als freier Fotograf, zuerst in der Schweiz, später wieder im vereinten Deutschland. Er ließ sich nicht brechen.
Während Franz vor den Trümmern seiner Vergangenheit stand, betrat eine junge Frau in Brandenburg eine Bühne, von der sie nie zu träumen gewagt hätte. Leticia Koffke war 19 Jahre alt, Krankenschwester, ein einfaches Mädchen mit einem klaren Plan: arbeiten, den Freund heiraten, Kinder kriegen. Ein typisches DDR-Frauenleben, in dem Beruf und Mutterschaft selbstverständlich vereinbar waren. Doch der Mauerfall katapultierte sie aus dieser vorgezeichneten Bahn. „Aus diesem Leben wurde ich rauskatapultiert, genau auf die andere Seite“, sagte sie später. Nur zum Spaß nahm sie an der Wahl zur Miss Brandenburg teil. Schönheitswettbewerbe waren in der DDR verpönt gewesen, es gab keine Miss-Wahlen, denn die sozialistische Frau sollte Werktätige sein, kein Objekt. Doch nun, in der Zeit des Umbruchs, zählte Showtalent. Leticia fuhr als Vize-Miss nach Schwerin zur Wahl der „Miss DDR“. In ihrem Koffer: selbstgenähte Kleider. Keine Designerroben, keine Stylisten. Sie war pure Natürlichkeit inmitten des aufkommenden Medienrummels. Als am Abend des 22. September 1990 ihr Name fiel, brach sie fast zusammen. Sie war die erste und einzige Miss DDR der Geschichte. Der Preis: ein Modelvertrag und ein Auto. Ein Auto! Für eine 19-Jährige, die nie gedacht hätte, jemals einen Führerschein zu machen, war das, als hätte sich der Himmel geöffnet. „Das war meine ganz, ganz persönliche Wende“, sagte sie.
Doch das Märchen war noch nicht zu Ende. Ihr Manager überredete sie, weiterzumachen. Die Wahl zur „Miss Germany“ stand an – im Westen. Dort traf Leticia auf die Profis, auf westdeutsche Frauen, die mit Schönheitswettbewerben aufgewachsen waren. Doch die Krankenschwester aus Brandenburg mit den selbstgenähten Kleidern hatte etwas, das den anderen fehlte: eine Geschichte, eine Authentizität, die den Zeitgeist traf. Im Dezember 1990 wurde sie zur ersten gesamtdeutschen Miss Germany gekürt. Sie stand im Blitzlichtgewitter, getragen von einer Welle der Sympathie, privilegiert in einer Zeit, in der für viele andere der harte Überlebenskampf begann. Leticia war sich dieses Kontrasts immer bewusst. Während sie durch die Welt reiste, kämpften Menschen wie Franz um ihre Abfindung und Menschen wie Erich um ihre Identität.
Die 328 Tage zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 waren wie ein Brennglas. Sie bündelten alle menschlichen Emotionen auf engstem Raum: Euphorie und Niederlage, Freiheit und Angst, Gewinn und Verlust. Am Tag der Deutschen Einheit war das Land wieder eins, doch in den Köpfen und Herzen der Menschen klafften noch Welten. Barbara und Klaus Egler hatten ihren Traum verwirklicht und halfen nun anderen, im Osten Fuß zu fassen. Erich Petke hatte gelernt, dass man auch auf den Trümmern einer Ideologie neu anfangen kann, wenn man bereit ist, seine Feindbilder abzulegen. Franz Zadnicek hatte den Schmerz des Verrats in kreative Energie umgewandelt. Und Leticia Koffke war das strahlende Gesicht einer neuen Zeit, die so viele Möglichkeiten bot und doch so viel forderte.
Es war der Abschied von einem bekannten Leben für alle. Die DDR war Geschichte, verschwunden in Aktenordnern, abgerissenen Fabrikhallen und den Erinnerungen von Millionen. Was blieb, war die Erkenntnis, dass Freiheit nicht nur ein Geschenk ist, sondern eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die jeden dieser vier Menschen auf eine Reise geschickt hatte, die sie sich in ihren kühnsten Träumen – oder schlimmsten Albträumen – nicht hätten vorstellen können. Und während über dem Brandenburger Tor das Feuerwerk den Himmel erleuchtete, wussten sie alle: Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor.