In den engen Gassen von Palermo, wo der Wind den Geruch von Salz und Verzweiflung mit sich trug, rannte ein kleines Mädchen barfuß über das heiße Pflaster. Ihre Zöpfe flogen wild, ihre Wangen waren rot und nass von Tränen. Sie stolperte, fiel fast, rappelte sich wieder auf. In ihren dunklen Augen brannte nur ein einziger Gedanke.
Sie musste ihn finden, den Mann, vor dem alle Angst hatten. Don Salvatore Romano saß in seinem alten Café an der Ecke, genau wie jeden Abend. Der mächtigste Mafioso der Stadt, der Mann, dessen Name selbst die Polizei nur flüsternd aussprach. Er war 80 Jahre alt, grau, mit Händen, die einst Blut gesehen hatten und jetzt nur noch eine Tasse Espresso hielten.
Die Leute grüßten ihn ehrfürchtig, senkten den Blick. Niemand wagte es, ihn anzusprechen. Plötzlich stürzte das kleine Mädchen durch die Tür. Die Gäste erstarrten. Sie warf sich vor seinem Tisch auf die Knie, schlang die Arme um seine Beine und schluchzte so laut, dass es durch Mark und Bein ging.
„Don Salvatore, sie schlagen meine Mama. Bitte, bitte komm. Sie tun ihr weh. Sie schreit. Ich habe solche Angst.“ Ihre Stimme brach. Sie zitterte am ganzen Körper. Alle im Café hielten den Atem an. Don Salvatore blickte auf das Kind hinunter. Er kannte sie, Maria, die Tochter von Rosa, der jungen Witwe, die jeden Morgen Blumen vor der Kirche verkaufte.
Rosa, die immer lächelte, auch wenn das Leben sie trat. Langsam stellte er die Tasse ab. Seine Hand legte sich auf Marias Kopf. Die Hand, die einst Befehle zum Töten gegeben hatte. „Wer schlägt deine Mama, Piccina?“, fragte er leise. „Die Männer von Marco. Sie sagen, Mama schuldet Geld, aber sie hat keins. Sie schreit: ‘Bitte, Nonno, hilf ihr!’“ Don Salvatore schloss für einen Moment die Augen.
Marco, sein eigener Neffe, der Junge, den er großgezogen hatte wie einen Sohn, der jetzt dachte, er könne die Schwachen ausnehmen, weil der alte Löwe zu müde sei, um zu brüllen. Er stand auf, langsam, bedächtig. Die Stuhlbeine kratzten über den Boden wie ein Todesurteil. „Geh nach Hause, Maria“, sagte er ruhig. „Zu deiner Tante.“
„Bleib dort.“ Das Mädchen sah ihn an. In seinen alten Augen lag etwas, das sie noch nie gesehen hatte. Keine Wut, etwas Tieferes, Traurigeres. Sie rannte hinaus. Don Salvatore nahm seinen Mantel ohne ein Wort zu seinen Männern. Er ging allein durch die Gassen. Die Leute traten zur Seite, als spürten sie den Sturm, der in ihm tobte.

Als er bei Rosas kleiner Wohnung ankam, hörte er schon die Schreie. Rosa schrie nicht mehr, sie wimmerte nur noch. Drei Männer standen um sie herum. Marco in der Mitte mit einem Gürtel in der Hand. Don Salvatore trat ein, ohne anzuklopfen. Die Männer drehten sich um. Marco grinste zuerst, dann sah er das Gesicht seines Onkels. „Zio, das ist geschäftlich.“
„Sie hat Schulden.“ Don Salvatore sagte nichts. Er ging einfach an ihnen vorbei, kniete sich neben Rosa auf den Boden. Ihr Gesicht war geschwollen, Blut lief aus ihrer Lippe. Sie sah ihn an und begann wieder zu weinen. „Signore, es tut mir leid. Ich wollte nicht…“, flüsterte sie. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Seine Stimme war weich wie lange nicht mehr. „Du hast nichts falsch gemacht.“ Dann stand er auf. Langsam drehte er sich zu Marco um. Der Junge wurde blass. „Du hast ein Kind zum Weinen gebracht“, sagte Don Salvatore leise. „Ein kleines Mädchen ist den ganzen Weg zu mir gerannt, barfuß, weil sie dachte, nur ich könnte ihre Mama retten, weil sie glaubte, der böse alte Mann wäre vielleicht gut.“
Er trat einen Schritt näher. „Weißt du, was das Schlimmste ist, Marco?“ Marco schüttelte den Kopf. „Das Schlimmste ist, dass sie recht hatte.“ Dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Don Salvatore zog nicht seine Pistole, er zog sein Jackett aus, legte es sorgfältig über einen Stuhl, rollte die Ärmel hoch und dann schlug er zu.
Nicht wie ein Mafiaboss, wie ein Vater. Ein Schlag, zwei. Marco ging zu Boden. Die anderen Männer wollten eingreifen. Ein einziger Blick des Alten ließ sie erstarren. „Raus!“, sagte er nur. Sie verschwanden. Marco lag am Boden, hielt sich das Gesicht. „Zio, bitte.“ Don Salvatore kniete sich neben ihn. Seine Stimme war kaum hörbar. „Ich habe dich großgezogen, Marco, nachdem dein Vater starb.“
„Ich habe dir beigebracht, stark zu sein. Aber ich habe dir nie beigebracht, Schwächere als dich zu quälen. Das habe ich falsch gemacht.“ Eine Träne lief über sein altes, zerfurchtes Gesicht. „Ich war einmal wie du. Ich dachte, Respekt kommt aus Angst. Aber heute, heute hat ein kleines Mädchen mir gezeigt, was wahrer Respekt ist.“
„Sie hat mich Nonno genannt, nicht Don, nicht Boss. Nonno, weil sie in mir etwas sah, das ich längst vergessen hatte.“ Er half Rosa auf die Beine, hielt sie fest, als sie schwankte. „Von heute an“, sagte er laut, sodass es alle in der Gasse hörten, „gehört dieses Haus mir, und jeder, der Rosa oder Maria auch nur schief ansieht, hat es mit mir zu tun. Aber nicht mit meiner Waffe, mit meinen Händen, wie ein Mann.“
Dann drehte er sich zu Marco um, der immer noch am Boden lag. „Und du, du wirst von jetzt an jeden Morgen um 5 Uhr aufstehen. Du wirst mit Rosa Blumen verkaufen, auf den Knien, wenn es sein muss, bis du gelernt hast, was es bedeutet, wenn eine Mutter um ihre Kinder kämpft. Und wenn Maria dir eines Tages vergibt, vielleicht vergebe ich dir auch.“ Marco schluchzte.
Zum ersten Mal in seinem Leben. Don Salvatore trug Rosa ins Krankenhaus, ließ persönlich die besten Ärzte kommen, bezahlte alles. Drei Wochen später saß Maria auf Don Salvatores Schoß im Café. Sie aß ein riesiges Eis. Die Leute lächelten. Niemand hatte mehr Angst. Rosa stand hinter der Theke und goss Kaffee ein.
Mit einem Gesicht, das langsam wieder heilte. Marco stand daneben in einer Schürze, bediente die Gäste mit gesenktem Blick. Aber jeden Morgen brachte er Maria zur Schule und jeden Abend las er ihr vor, bis sie einschlief. Don Salvatore sah ihnen zu und zum ersten Mal seit 50 Jahren fühlte er etwas, das er fast vergessen hatte: Frieden.
Als Maria eines Abends wieder zu ihm rannte, diesmal lachend, und ihn umarmte, flüsterte er: „Weißt du, Piccina, manchmal braucht es nur ein kleines Mädchen mit großen Tränen, um einen alten Wolf daran zu erinnern, dass er auch ein Mensch sein kann.“ Und in den Gassen von Palermo erzählte man sich noch lange die Geschichte von dem Tag, an dem der schrecklichste Mann der Stadt weinte. Nicht aus Schwäche, sondern weil ein Kind ihm gezeigt hatte, dass selbst das härteste Herz noch schlagen kann.
Denn am Ende siegt nicht die Gewalt, sondern die Liebe, die mutig genug ist, barfuß durch die Hölle zu rennen, um jemanden zu retten.