Der Deutsche Schäferhund knurrte die geheimnisvolle Kiste an, aber das Mädchen öffnete sie – die Wahrheit schockierte alle.

Die Carter Ranch lag eingebettet am Fuße der Wind River Range in Colorado, ein Stück ruhiges Land, wo Kiefern alte Geheimnisse flüsterten und der Winter länger anhielt als an den meisten Orten. Es hätte friedlich sein sollen, aber für die 8-jährige Emily Carter war es zu einem Ort der Stille geworden. Dicke, schwere Stille.

Seit dem Tod ihres Vaters vor drei Monaten hatte Emily kaum ein Wort gesprochen. Ihr einst helles Lachen war in Stille verblasst, und das Funkeln in ihren Augen war gedämpft wie die sterbende Glut des alten Kamins im Wohnzimmer. Sie verbrachte Stunden allein auf dem Dachboden der Scheune, die Arme um die Knie geschlungen, und starrte auf die Hügel, die ihr Vater jeden Sonntagmorgen bestiegen hatte.

Die Leute sagten, es sei ein Unfall gewesen, ein Sturz während der Jagd im Hinterland. Aber Emily wusste, dass das nicht die ganze Geschichte war. Sie hatte in dieser Nacht etwas mitgehört. Eine Stimme auf dem Satellitentelefon ihres Vaters. Ein Mann, den sie nicht erkannte. Etwas über einen Bericht und einen Fehler, der bereinigt werden musste.

Sie hatte es niemandem erzählt, nicht einmal ihrem Großvater.

Henry Carter, ihr Großvater, war ein pensionierter Sheriff. Ein Mann, der aus demselben Granit gemeißelt war wie diese Berge. Schroff, zuverlässig und auf eine Weise leise, die Bände sprach. Er versuchte sein Bestes, Emily zu trösten, die Lücke zu füllen, die sein Sohn hinterlassen hatte, aber selbst er spürte es. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Emilys Nächte waren unruhig. Sie wachte schreiend aus Albträumen auf, die sie nicht erklären konnte. Geplagt nicht nur von Trauer, sondern auch von Schuldgefühlen, als würde sie ein Geheimnis hüten, das zu groß für ihren kleinen Körper war, was sie innerlich zerriss. Sie wollte vergessen, aber Erinnerungen klammerten sich an sie wie der Bergfrost, kalt, unerwünscht und hartnäckig.

Henry beobachtete sie die meisten Morgen von der Veranda aus, den Kaffee in der Hand, und fragte sich, was sie gesehen oder gehört hatte, das sie so verschlossen hielt.

Er wollte fragen, wusste aber nicht wie, und sie war noch nicht bereit zu sprechen. Noch nicht. In der Stille zwischen ihnen wuchs etwas, eine Last, die keiner von beiden benennen konnte. Aber es würde nur einen Funken brauchen, um die Stille aufzubrechen.

50 Meilen von der Carter Ranch entfernt, in einem staatlich geförderten Rehabilitationszentrum für pensionierte Diensttiere, lag ein Deutscher Schäferhund namens Rex regungslos in seinem Zwinger.

Er hatte sich seit Stunden nicht bewegt, verweigerte das Futter seit Tagen. Kein Bellen, kein Knurren, nur Stille. Er war einst ein Held gewesen, ein dekorierter Militärhund, der in der Wüstenhitze Leben gerettet, Sprengstoff aufgespürt und Soldaten im Kugelhagel zur Seite gestanden hatte. Sein letzter Partner, Captain Mark Carter, war der Mann, dem er in den Krieg gefolgt war und dem er sein Leben anvertraut hatte.

Als Mark starb, brach etwas in Rex zusammen. Die Hundeführer in der Einrichtung versuchten alles. Neue Trainer, vertraute Gerüche, sogar Aufnahmen von Marks Stimme, aber Rex reagierte nicht. Er hatte sich nach innen gekehrt, verloren in einer Trauer, die niemand erreichen konnte.

Das Personal stufte ihn als ungeeignet für die Wiedereingliederung ein. Es gab Gerüchte, ihn einzuschläfern. Er sei zu unberechenbar, zu verloren.

Aber eine Trainerin, eine junge Frau namens Lisa, weigerte sich, ihn aufzugeben. Sie hatte mit Mark gedient und wusste, dass Rex nicht irgendein Hund war. „Er trauert“, sagte sie dem Direktor. „Und er wird nicht heilen, solange er nicht dorthin zurückkehrt, wo er hingehört.“

Dieser Satz blieb ihr im Kopf, als sie Marks Dienstakte durchwühlte und schließlich seine nächsten Angehörigen ausfindig machte. Sie fand eine Adresse: Henry Carter, eine Ranch in Colorado. Eine Enkelin, 8 Jahre alt.

In dieser Nacht saß Lisa vor Rex’ Zwinger und flüsterte ihm durch die Gitter zu. „Ich glaube, es gibt jemanden, den du treffen musst“, sagte sie sanft. „Jemanden, der ihn genauso vermisst wie du.“

Im ganzen Bundesstaat wusste Emily nicht, dass der Hund, der ihre Albträume teilte, der aus den Bildern in der Spindkiste ihres Vaters, noch am Leben war, oder dass das Schicksal, langsam und stetig wie der Bergwind, sie zusammenführte.

Nicht durch Zufall, sondern weil Trauer Trauer erkennt, und manchmal der einzige Ausweg ein gemeinsamer ist.

Es war ein grauer Samstagmorgen, als Lisa auf der Carter Ranch vorfuhr. Die Wolken hingen tief, schwer mit noch nicht gefallenem Schnee, und der Wind flüsterte durch die kahlen Pappeln wie eine alte Erinnerung, die sich weigerte zu verblassen.

Emily stand auf der Veranda, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah zu, wie der unbekannte Lastwagen die Kiesauffahrt hochrollte. Sie sagte nichts, als der Motor verstummte oder als die Frau ausstieg. Ihre Augen, abwesend und wachsam, fixierten den Anhänger hinter dem Lastwagen.

Lisa stieg langsam aus, um niemanden zu erschrecken, am wenigsten den Hund im Anhänger. „Mr.

Carter“, rief sie. Henry kam aus der Scheune, wischte sich die Hände an einem Lappen ab, seine Augen verengten sich leicht. „Ich bin Lisa Warner“, sagte sie und bot einen festen Händedruck an. „Ich habe mit Ihrem Sohn gedient. Ich habe jemanden mitgebracht, der zu ihm gehörte.“

Emilys Blick wich nicht vom Anhänger. Lisa ging herum und öffnete das Tor. Für einen Moment geschah nichts.

Dann bewegte sich ein Schatten im Inneren. Rex trat langsam heraus, die Nase im Wind. Sein Fell war jetzt stumpfer, seine Augen älter. Aber als er aufblickte und das kleine Mädchen auf der Veranda sah, veränderte sich etwas in ihm.

Emily bewegte sich nicht, blinzelte nicht. Ihr stockte der Atem, als sie ihn erkannte: den Hund von den Fotos ihres Vaters.

Derjenige, der früher zu seinen Füßen schlief, der neben ihm im Humvee fuhr, der sie aus alten gerahmten Bildern wie ein stiller Wächter anstarrte.

Rex machte einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Emily stieg barfuß von der Veranda, trotz der Kälte. Der Abstand zwischen ihnen schloss sich, ein langsamer Schritt nach dem anderen. Niemand sprach.

Rex setzte sich drei Meter von ihr entfernt hin, seine Augen ließen ihre nie los. Emily kniete sich hin. Er senkte seinen Kopf und dann streckte sie, ohne ein Wort zu sagen, die Hand aus und berührte ihn. Eine einzige Berührung, sanft, zögerlich, als würde sie testen, ob Erinnerungen real werden könnten.

Rex lehnte sich an ihre Hand und stieß ein leises Wimmern aus, ein Geräusch auf halbem Weg zwischen Kummer und Erleichterung.

Von der Scheune aus sah Henry mit der Hand vor dem Mund zu. Lisa wandte sich ab, Tränen in den Augen. In diesem Moment erkannten sich zwei gebrochene Herzen. Nicht durch Sprache, nicht durch Erinnerung, sondern durch Stille. Und Stille wurde schließlich etwas anderes. Verbindung.

Die Tage nach Rex’ Ankunft waren anders. Emily wachte früher auf. Sie half ihrem Großvater wieder bei den Aufgaben, bürstete schweigend Pferde oder half beim Eiersammeln. Sie sprach immer noch nicht viel, aber etwas in ihr hatte sich verschoben. Der gequälte Blick in ihren Augen wurde weicher. Ihre Albträume, einst nächtlich, kamen seltener. Und wohin sie auch ging, Rex war an ihrer Seite.

Sie bewegten sich wie zwei Schatten, die vom selben Licht geworfen wurden. Leise, vorsichtig, aber nicht mehr allein.

Eines Abends, als dicke, träge Schneeflocken zu fallen begannen, saß Henry auf der Veranda und trank seinen Kaffee. Emily saß neben ihm, eingepackt in ihren alten Flanellmantel, die Beine schwangen sanft über der Stufe. Rex lag zu ihren Füßen, der Kopf ruhte auf seinen Pfoten, die Augen halb geschlossen. Henry räusperte sich.

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„Ich habe gestern mit jemandem gesprochen“, sagte er leise. „Ein alter Freund vom Sheriff’s Office.“ Er sah sich Marks Tod noch einmal an. Emilys Fuß hörte auf zu schwingen. Henry fuhr fort: „Irgendetwas stimmt mit dem Unfallbericht nicht. Es fehlen einige Akten und es gibt keine Bodycam-Aufnahmen, obwohl Mark immer eine trug.“

Stille. Dann ein Flüstern.

„Ich habe ihn gehört“, sagte Emily, kaum hörbar. „In der Nacht, bevor er starb, am Telefon. Es gab einen Mann“, sagte sie. „Seine Stimme war wütend. Er sagte, er sagte, Papa sei zu weit gegangen. dass es alles ruinieren würde, wenn er einen Bericht einreichen würde.“

„Ich bekam Angst“, fuhr sie fort, ihre Stimme zitterte. „Nachdem er aufgelegt hatte, sagte ich ihm, er solle am nächsten Tag nicht gehen. Ich flehte ihn an, zu Hause zu bleiben, aber er lächelte und sagte, alles würde gut. Ich glaubte ihm. Ich versuchte es nicht noch einmal. Ich dachte, wenn ich mehr gesagt hätte, wenn ich geschrien oder es Opa erzählt hätte, vielleicht, vielleicht wäre er dann noch hier.“

Henry’s Gesicht verhärtete sich, sein Kiefer spannte sich an. „Warum hast du mir das nicht früher erzählt?“ „Ich hatte Angst“, flüsterte sie.

„Und dann war er weg, und ich dachte, vielleicht war es meine Schuld. Dass, wenn ich es nicht gehört hätte, er vielleicht in Ordnung gewesen wäre.“ Ihre Lippe zitterte. Rex drückte seinen Kopf an ihre Seite.

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte Henry bestimmt und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Hörst du mich? Nichts davon ist deine Schuld.“ Emily nickte, aber die Schuldgefühle saßen tief.

Sie wischte sich die Augen mit dem Ärmel, ihre Schultern zitterten, als ihr Schluchzer entkamen. Henry blickte zur Scheune hinaus. „Wir werden die Wahrheit für ihn finden. Für dich.“ Emily antwortete nicht, aber sie griff hinunter und schlang ihre Arme um Rex’ Hals.

Der Hund blieb vollkommen still und ließ sie sich festhalten. Der Schnee fiel weiter und hüllte die Welt in Weiß. Aber in diesem Moment schmolz etwas.

Henry Carter hatte den größten Teil seines Lebens damit verbracht, Spuren zu verfolgen. Stiefelabdrücke im Schnee, abgebrochene Zweige im Wald, Reifenspuren, die halb im Staub vergraben waren. Aber er hatte nicht erwartet, ihnen wieder zu folgen.

Nicht in seinem Alter. Nicht mit einem Hund. Doch hier war er, fast eine Woche nach dem Gespräch auf der Veranda, ging neben Rex durch schneebedeckte Hügel und jagte einer Wahrheit nach, die nicht gefunden werden wollte. Und Rex, für den Krieg ausgebildet, durch Verlust geprägt, führte mit derselben Entschlossenheit, die er einst auf fremdem Boden gezeigt hatte.

Es geschah nicht an einem Tag.

Als Henry und Rex das erste Mal ausgingen, folgten sie einem alten Pfad, der zu einem eingestürzten Werkzeugschuppen führte. Nichts als verrostete Dosen und gefrorene Erde. Am nächsten Tag bestiegen sie den Bergrücken hinter der Scheune, wo Mark einst einen Hochsitz gebaut hatte. Wieder nichts. Nur der Wind, der Schnee und Henrys wachsende Frustration. Aber Rex gab nie auf.

Jeden Morgen lief er an der Tür auf und ab und wartete. Und jedes Mal, wenn Henry die Spindkiste öffnete oder einen weiteren Ordner aus Marks Schreibtisch zog, kreiste der Hund, schnupperte, hielt inne, bis etwas seine Aufmerksamkeit erregte.

Am vierten Tag breitete Henry Marks alte Karte auf dem Küchentisch aus. Emily verfolgte die verblassten Bleistiftmarkierungen mit dem Finger, während Rex aufmerksam saß, seine Ohren zuckten bei jedem geflüsterten Wort.

Dort, Emily zeigte auf ein kleines X in der Nähe der Baumgrenze. „Dad nannte das immer die alte Feuerlinie. Er sagte, er hätte dort Notfallausrüstung versteckt, falls der Lastwagen stecken bleibt.“

Es war fast dunkel, als sie es erreichten. Rex sprang voraus, seine Pfoten sanken in knietiefen Schnee, bis er abrupt bei einem umgestürzten Baumstumpf anhielt. Er schnupperte, kratzte einmal und setzte sich hin.

Erst dann grub Henry und fand die Kiste. Darin ein USB-Stick, eine gefaltete Karte und ein Foto. Mark in Uniform, neben einem Mann, den Henry nicht erkannte.

Emily sah vom Fenster aus zu, wie Henry den USB-Stick in den alten Laptop in seinem Arbeitszimmer steckte. Videodateien, lange, unbearbeitete Clips. Einer zeigte einen Datumsstempel. Zwei Tage vor Marks Tod.

In dem Video blickte Mark in die Kamera, seine Stimme ruhig, aber seine Augen müde. Er sprach von einem Bauprojekt auf Bundesland, gefälschten Sicherheitsberichten, illegalen Sprengstoffen und einem Namen. Jemand in der Abteilung für Landaufsicht. „Ich reiche dies ein, falls ich nicht zurückkomme“, sagte er. „Wenn etwas passiert, war das kein Unfall.“

Henry saß in fassungsloser Stille. Emily sprach nicht, aber Rex saß aufrecht neben dem Stuhl, die Ohren nach vorne gerichtet, und sah auf den Bildschirm, als würde er jedes Wort verstehen. Die Wahrheit war tief vergraben. Aber sie hatte endlich begonnen, an die Oberfläche zu kommen.

Gerade als sie anfingen, Trost zu finden, zerschlug ein plötzliches Klopfen die Ruhe.

Nicht die sanfte Art, sondern laut, dringend, fast wütend. Henry war in der Küche und notierte etwas aus Marks Akten. Emily lag im Bett. Rex kauerte an ihren Füßen. Als das Klopfen erneut ertönte, drei scharfe Schläge, schossen Rex’ Ohren hoch. Er sprang aus dem Bett und knurrte leise. Emily setzte sich aufrecht hin, ihr Herz hämmerte. „Opa“, rief sie.

Henry traf sie im Flur, eine Taschenlampe in der einen Hand, eine Schrotflinte in der anderen.

„Bleib hinter mir“, flüsterte er. Die Vordertür knarrte auf. Wind, Schnee, Stille. Aber Rex beruhigte sich nicht. Er raste über den Hof und bellte scharf. Henry folgte ihm, der Lichtstrahl der Taschenlampe schnitt durch die Dunkelheit. Am Rand der Scheune: frische Fußabdrücke, mehrere Spuren.

Dann entdeckte Henry es. Eine Spur führte zu seiner Werkstatt. Das Heckfenster war zerbrochen, der Rahmen gesplittert.

Sie hatten es nicht ins Innere geschafft, aber sie hatten es versucht. Im Schnee in der Nähe, ein schlammiger Handschuh und ein Stiefelabdruck, der zu groß war, um von jemandem aus der Gegend zu stammen. Jemand Unbekanntes, jemand Vorbereitetes. Und am Zaunpfosten hing mit Stacheldraht, der im Wind flatterte, eine Notiz. Vergrabe es oder wir vergraben dich.

In dieser Nacht schlief niemand. Henry saß im Wohnzimmer, die Schrotflinte auf seinem Schoß.

Emily kauerte auf dem Sofa und umklammerte Rex’ dichtes Fell. Der Hund blinzelte nie. Er saß wachsam da und beobachtete die Fenster. Draußen heulte der Wind, aber der eigentliche Sturm war bereits hier.

Am Morgen fanden sie das Seitentor zerbrochen. Das Schloss war mit etwas Scharfem aufgebrochen worden. Henry sprach lange Zeit nicht.

„Sie wissen, dass jemand zuschaut.“ Emily blickte auf, ihre Augen weit. „Was machen wir?“ Henry sah ihr in die Augen. „Wir beschützen, was zählt: die Wahrheit und einander.“

An diesem Tag änderte sich alles. Henry verlegte alle Beweise, Laufwerke, Fotos, Notizen in einen Stahlkoffer, der unter dem Küchenboden versteckt war. Er zeigte Emily, wie man mit der Schrotflinte umgeht, wie man Bedrohung von Angst unterscheidet.

Sie hörte zu, ihr Gesicht blass, aber ruhig. Und Rex, er wurde mehr als ein Beschützer. Er war Schatten, Wächter, Soldat. Er umrundete die Hütte jeden Abend, überprüfte jede Tür vor dem Schlafengehen. Er knurrte die Schatten an, die es wagten, in der Nähe der Fenster zu verweilen.

Eines Nachts, als Emily gegen den Schlaf kämpfte, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Hast du auch Angst?“ Rex bewegte sich nicht, aber seine Atmung blieb ruhig, warm an ihrer Wange.

Sie drückte ihr Gesicht tiefer in sein Fell. „Wir werden in Ordnung sein, oder?“ Er antwortete nicht, aber sie glaubte ihm.

Henry schlief auch in der nächsten Nacht nicht. Er blieb wach und las Marks Akten erneut. Diesmal langsamer, jedes Wort aufnehmend. Die Namen, die Unterschriften, die gescannten Dokumente, die aufgezeichneten Sprachmemos.

Jedes fügte sich zu einem größeren Bild zusammen. Eine Vertuschung, die Landerschließungsverträge, Bestechungsgelder und Verstöße beinhaltete, denen Mark die Unterschrift verweigert hatte. Bei Sonnenaufgang traf Henry eine Entscheidung. Er rief den lokalen Nachrichtensender an.

Sie glaubten ihm zuerst nicht, bis er ihnen Kopien schickte, bis sie Marks Video sahen. Eine Stunde später riefen sie zurück.

Sie schickten einen Reporter. Als der Lastwagen an diesem Nachmittag die unbefestigte Straße hochfuhr, wartete Henry am Tor. Emily stand an seiner Seite, die Arme fest verschränkt, Rex saß wie eine Statue. Niemand sagte ein Wort.

Das Interview war kurz, aber wirkungsvoll. Henry sprach offen, seine Augen klar, seine Stimme fest. Er zeigte ihnen die Dokumente, die Videos, die Notiz, die an seinem Zaun befestigt war.

„Er starb beim Versuch, dieses Land zu schützen“, sagte Henry. „Und jemand wollte, dass er schweigt.“ Der Reporter fragte, ob er um seine Sicherheit fürchte. Henry sah Rex an. „Ich habe Schutz“, sagte er. „Und ich habe nichts zu verlieren.“

Der Beitrag wurde noch in derselben Nacht ausgestrahlt. Er verbreitete sich schnell. Am nächsten Tag kontaktierte ihn ein Bundesermittler. Dann zwei weitere. Die Nachricht schaffte es in die staatlichen Zeitungen, dann ins regionale Radio.

Innerhalb einer Woche kündigte die Abteilung für Landaufsicht eine formelle Untersuchung an. Aber nicht jeder war glücklich.

Zwei Nächte später stand ein schwarzer Lastwagen vor dem Grundstück der Carters. Lichter aus. Stumm. Rex knurrte von der Veranda. Henry trat mit der Schrotflinte in der Hand nach draußen. Der Lastwagen raste davon. Aber die Botschaft war klar. Das war noch nicht vorbei.

Trotzdem spielte es keine Rolle, denn da hatte die Wahrheit bereits Wurzeln geschlagen.

Einen Monat später wurde die Untersuchung abgeschlossen. Mark Carter hatte tatsächlich Verstöße im Zusammenhang mit einem hochrangigen Beamten, Carl Denning, aufgedeckt. Die auf der Carter Ranch gefundenen Akten wurden als glaubwürdig und vollständig erachtet. Marks Name wurde posthum vom Staat rehabilitiert.

Bei der kleinen Gedenkfeier auf dem Hügel hinter der Ranch stand Henry neben einer Holztafel mit dem Namen seines Sohnes.

Emily klammerte sich an seine Hand. Rex saß nah, den Kopf gesenkt. „Er ist nicht weggelaufen“, sagte Henry leise. „Selbst als sie ihn holen wollten, hielt er stand.“ Er sah zu Emily hinunter. „Genau wie du.“

Er sprach nicht, aber sie lehnte sich an ihn. Und zum ersten Mal seit Marks Tod erlaubte Henry sich zu weinen.

Der Frühling kam spät in das Tal. Schnee verweilte entlang der Zaunlinien, hartnäckig in den Schatten. Aber darunter regte sich die Erde. Grüne Triebe brachen durch den Frost. Vogelgesang kehrte zu den Bäumen zurück. Das Leben begann leise von Neuem.

Emily war stärker geworden. Sie lachte mehr, stellte wieder Fragen und ritt zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters allein auf ihrem Pony.

Sie vermisste Mark immer noch schrecklich, aber die Schuldgefühle hatten nachgelassen und wurden durch etwas Sanfteres ersetzt. Verständnis. Sie sprach jetzt oft von ihm. Nicht wie von einem Geist, sondern wie von einer Geschichte, die sich noch entfaltete.

Henry sah ihr eines Nachmittags von der Veranda aus zu, wie sie Rex mit den Kommandos trainierte, die Mark ihm vor Jahren beigebracht hatte.

Der Hund befolgte jedes Wort, der Schwanz wedelte, die Ohren waren aufgerichtet. Die beiden bewegten sich, als wären sie zusammen geboren worden, Partner in etwas, das tiefer als Blut war.

Als sie fertig war, sah sie zu ihrem Großvater auf. „Können wir anfangen, anderen zu helfen, so wie Papa es getan hat?“, fragte sie. Henry lächelte. Nicht die müde Art, sondern eine voller stillen Stolzes. „Ja“, sagte er. „Das können wir.“

Sie räumten die alte Scheune auf, bauten die hinteren Ställe zu Trainingsgehegen um. Henry kontaktierte das Veteranenzentrum in zwei Countys. Im Sommer hatten sie ihre ersten beiden Bewerber, Soldaten, die Hilfe bei PTSD suchten, in der Hoffnung, dass Hunde wie Rex bieten könnten, was Therapie nicht konnte.

Die Carter Ranch hatte sich verändert. Nicht nur in der Nutzung, sondern im Geist.

Wo einst Stille geherrscht hatte, gab es jetzt Bellen, Lachen, Bewegung. Henry hängte Marks Gedenktafel in die Scheune. Er hielt stand. Und daneben ein weiteres Schild, das Emily selbst gemalt hatte. Hier beginnt die Heilung.

Eines Abends, als die Sonne hinter den Hügeln unterging, saß Henry mit Emily neben sich und Rex zu ihren Füßen auf der Veranda.

Sie lehnte sich an seinen Arm, ein Buch auf ihrem Schoß, und flüsterte: „Ich glaube, er wäre stolz auf uns.“ Henry antwortete nicht sofort. Stattdessen blickte er auf die Ranch, auf die neu errichteten Zäune, die im Wind flatternden Flaggen, das Geräusch zweier neuer Hunde, die in den Gehegen bellten, und erlaubte sich, es zu glauben.

„Ja“, sagte er schließlich, „ich glaube, das wäre er.“

Und in der Stille, die folgte, tat es nicht mehr weh.

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