Es war kurz nach 22 Uhr am Abend des 23. November, als Gina H. zum zweiten Mal in den grellen Neonraum geführt wurde, schweigend, aber mit einem Blick, der die erfahrenen Beamten sofort nervös machte. Seit Wochen hatte die Hauptverdächtige im Fall des verschwundenen achtjährigen Fabian fast kein Wort gesprochen, jede Frage abgeblockt, jede Vermutung ins Leere laufen lassen. Doch an diesem Abend, in einer Mischung aus Müdigkeit, Trotz und einer merkwürdigen inneren Gewissheit, öffnete sie schließlich den Mund, und die wenigen Worte, die herauskamen, ließen den gesamten Raum erstarren und die Dynamik der Ermittlungen mit brutaler Wucht umschlagen: „Ich werde bald draußen sein. Lasst mich einfach in Ruhe.“
Es gab kein Zittern, kein Zögern, keinen Funken von Angst. Es klang nicht wie ein Flehen, sondern wie eine unheimliche Drohung, eine Botschaft an die Ermittler, dass sie etwas wisse, das diese nicht wussten. Ein Satz, der gleichzeitig arrogant und furchteinflößend war und der die Beamten, die Sekunden zuvor noch versucht hatten, Druck aufzubauen, schlagartig die Kontrolle über die Situation verlieren ließ. Ihre Stimme hatte etwas kaltes, Unberührbares, als würde sie sicher sein, dass niemand ihr etwas anhaben könne. Warum war Gina H. so zuversichtlich? Wer gab ihr das Gefühl, dass sie bald draußen sein würde? Und deutete dieses „Lasst mich in Ruhe“ auf einen mächtigen Verbündeten im Hintergrund hin? In diesem Moment kippte die Stimmung, und der routinemäßig geplante Verhörabend wurde zur Schlüsselszene des gesamten Falls.

Der unsichtbare Schutzpanzer: Eine Psychologie ohne Risse
Schon bevor Gina H. an diesem Abend zum zweiten Verhör erschien, hatten die Ermittler ein ungutes Gefühl. Etwas an ihrem Auftreten passte nicht zu dem Bild einer überforderten Verdächtigen. Seit ihrer Festnahme zeigte sie keinerlei typische Stressreaktionen, keine Nervosität, keine Unruhe, keine Anzeichen innerer Zerrissenheit. Stattdessen wirkte sie wie in einer abgeschirmten Blase, als hätte sie sich selbst davon überzeugt, dass alles nur ein lästiger Zwischenfall sei, der bald vorübergehe. Ermittler beschrieben sie später als abwesend, aber überlegen – eine Kombination, die in einem Fall, der ein verschwundenes Kind betrifft, besonders irritierend war.
Vieles deutete darauf hin, dass Gina H. keine Randfigur war, doch die Frage blieb: Woher nahm sie diese unerschütterliche Ruhe? Üblicherweise zeigen Verdächtige in solch schweren Fällen emotionale Schwankungen, Widersprüche, psychische Erschöpfung. Doch bei Gina H. gab es nichts davon. Als sie den Verhörraum betrat, fiel das grelle Neonlicht auf ihr ausdrucksloses Gesicht und die Atmosphäre wurde schlagartig schwerer. Sie bewegte sich, als hätte sie einen unsichtbaren Schutzpanzer. Dieser Eindruck verstärkte sich, als sie wiederholt jede Frage abblockte. Ihre Antworten waren knapp, mechanisch, kalt: „Ich erinnere mich nicht. Das betrifft mich nicht. Ich weiß es nicht.“ Keine Regung, kein Zucken, kein Moment der Unsicherheit – bis das Team beschloss, auf Stille zu setzen, in der Hoffnung, einen kleinen Riss in der Fassade sichtbar zu machen. Doch das Gegenteil geschah: Inmitten der angespannten Stille war sie es, die plötzlich das Wort ergriff und mit ihrem einzigen Satz deutlich machte, dass sie die Kontrolle über die Situation nicht verloren hatte, sondern sie vielleicht sogar bewusst steuerte.
Die Muster der Fixierung: Eine stille Beobachterrolle
Die Beziehung zwischen Gina H. und dem Umfeld von Fabian war nie wirklich klar umrissen. Doch je tiefer die Ermittler gruben, desto deutlicher zeigte sich ein Geflecht aus Nähe, Missverständnissen und Spannungen. Menschen aus der Nachbarschaft beschrieben Gina als auffällig still, eine Frau, die selten grüßte, aber alles beobachtete. Besonders in den Wochen vor Fabians Verschwinden sei sie ungewöhnlich präsent gewesen, mal am Fenster, mal auf dem Weg zwischen Wohnblöcken, mal an Orten, in denen man sie zuvor nie gesehen hatte.
Was die Ermittler besonders alarmierte, war die Art, wie mehrere Zeugen ihre Interaktionen mit dem Jungen beschrieben. Niemand berichtete von direktem Streit, aber es gab Momente, die rückblickend wie feine Risse wirkten: Ein Blick zu lang, ein Satz zu kühl, ein Verhalten zu kontrolliert. Eine Nachbarin sagte aus, sie wirkte nicht wütend auf ihn, „eher fixiert“. Nach der Entdeckung des verbrannten Handschuhs und den widersprüchlichen Aussagen anderer Anwohner erhielt dieser Satz ein ganz neues Gewicht. Die Chronologie der Ermittler zeigte, dass Gina H. häufiger in den Bewegungsradius des Jungen geraten war, als sie zunächst behauptet hatte. Videomaterial aus der Nähe eines Spielplatzes widerlegte ihre Aussage, ihn kaum zu kennen. Sie war mehrfach in kurzer Distanz zu Fabian zu sehen, nie in direkter Interaktion, aber immer in einer Position, die Interesse verriet – eine Art Beobachterrolle. Viele Kinder berichteten im Nachhinein, dass sie sich in ihrer Nähe „komisch beobachtet“ fühlten. Ob bewusst oder unbewusst, zufällig oder geplant: Gina war da, immer wieder an Orten, an denen man sie nicht erwartete, was die Ermittler zu der Frage führte, ob die Nähe ein Zufall oder der Anfang eines Musters war, das niemand rechtzeitig erkannte.
Der Wendepunkt und das Rätsel des Schattens
Der wirkliche Bruch in der Strategie von Gina H. kam, als die Ermittler am Abend des 23. November neue Beweise ins Spiel brachten. Ein Handwerker aus der Gegend meldete sich und berichtete, Gina H. in den kritischen Tagen nicht weit vom kleinen Waldstück gesehen zu haben, wo später das Fragment des verbrannten Handschuhs gefunden wurde. Sie habe einfach dagestanden, „starr in die Bäume blickend“. Diese Information, kombiniert mit der Erkenntnis, dass sich Gina H. in einem deutlich größeren Radius bewegt hatte, als sie zugegeben hatte, führte zur Konfrontation. Als die Beamten das neue Beweisfragment erwähnten, hob Gina H. zum ersten Mal den Kopf. Ihr Blick war scharf, herausfordernd, beinahe triumphierend. Dann fiel der ominöse Satz: „Ich werde bald draußen sein. Lasst mich einfach in Ruhe.“
Doch der wahre Schock kam erst in den folgenden Tagen durch die Wiederanalyse alter Beweismittel. Ein junger Ermittler entschied, das komplette Videomaterial aus den Wohnblöcken erneut durchzugehen, diesmal mit Fokus auf Gina H. Auf einer Aufnahme vom 8. Oktober, zwei Tage vor Fabians Verschwinden, war sie zu sehen, wie sie aus einem schmalen Weg kam und angespannt blickte. Und dann geschah das Unfassbare: Sie sprach mit jemandem, nicht im Bild sichtbar, aber ihre Gesten zeigten eindeutig, dass sie nicht allein war. Die Analyse der Schatten und Umrisse bestätigte einen zweiten Schatten, der sich kurz bewegte und dann wieder verschwand.
Als man Gina H. mit der Aufzeichnung konfrontierte, zuckte sie nicht zusammen, sondern lächelte: Ein dünnes, gefährliches, selbstsicheres Lächeln. „Schatten sind keine Menschen“, sagte sie ruhig. Die Ermittler wussten in diesem Moment: Gina H. wusste genau, wovon sie sprach, und sie wusste auch, was dieses Video bedeutete.
Die Lücke im System: Ein unsichtbarer Begleiter
Die Analyse des Bildmaterials ergab später, dass der unbekannte Schatten vermutlich zu einer Person gehörte, die größer war als Gina H., und dass diese Person sehr nah stand, fast in Deckung, als wolle sie nicht gesehen werden. Doch damit nicht genug. Bei der Überprüfung der Funkzellen im Gebiet stellte man fest, dass in den Tagen vor Fabians Verschwinden ein anonymes Handy immer wieder in derselben Zone aktiv war. Ein Handy, das nicht Gina H. gehörte, nicht zu Nachbarn und nicht zu bekannten Personen im Umfeld des Kindes. Es war ein stiller, unsichtbarer Begleiter, aktiv und wiederholt an Orten, an denen Gina H. ebenfalls gesehen worden war.
Als diese Informationen zusammenflossen, waren die Ermittler gezwungen, ein Szenario in Betracht zu ziehen, das sie lange ausgeschlossen hatten: Gina H. war möglicherweise nicht die einzige, die wusste, was an jenem Tag geschah. Vielleicht war sie nicht einmal die Hauptfigur. Vielleicht war sie – und dieser Gedanke ließ alle im Besprechungsraum verstummen – nur ein Teil des Puzzles, eine Mitwissende, eine Beteiligte oder sogar eine Person, die von jemand anderem dirigiert wurde.
In diesem Moment bekam ihr Satz „Ich werde bald draußen sein“ eine völlig neue, erschreckende Bedeutung. Es war nicht nur Arroganz, nicht nur Provokation, es könnte ein Hinweis gewesen sein, nicht auf ihre eigene Stärke, sondern auf jemanden, der im Schatten stand, jemand, der größer war als sie, mächtiger, unsichtbarer. Jemand, der vielleicht dafür sorgte, dass Gina H. tatsächlich glaubte, bald wieder in Freiheit zu sein.
Die Jagd nach dem falschen Mittelpunkt
Am Ende all dieser Enthüllungen stand die Ermittlungsgruppe vor einem Punkt, der gefährlicher war als jede Spur zuvor. Sie hatten Antworten, aber doppelt so viele neue Fragen. Wer war der Schatten auf dem Video? Wem gehörte das anonyme Handy, das Gina H. zu folgen schien? Und warum zeigte sie eine Sicherheit, die in ihrer Lage völlig unlogisch war?
Gina H. schwieg weiterhin, aber ihr Schweigen hatte sich verändert. Es war nicht mehr defensiv oder trotzig. Es war kontrolliert, gesteuert, als würde sie genau wissen, wie weit der Fall sich entwickeln durfte und wann er zum Stillstand kommen sollte. Der leitende Ermittler formulierte es später so: „Sie verhielt sich nicht wie jemand, der etwas verheimlicht. Sie verhielt sich wie jemand, der nicht der einzige war, der etwas wusste.“ Und genau dieser Gedanke jagte allen einen Schauer über den Rücken. Denn wenn es tatsächlich eine zweite Person gab, jemanden im Schatten, jemanden, der Gina H. begleitete oder gar lenkte, dann war das Puzzle weit größer, als man je angenommen hatte.
Es war kein einfacher Täterprofilfall mehr. Es war ein Netzwerk, ein Geflecht, ein unsichtbares Muster, und plötzlich stand die Frage im Raum, die niemand aussprechen wollte, aber alle dachten: Wenn Gina H. wirklich glaubt, bald draußen zu sein, wer sorgt dann dafür? Wer garantiert ihr diese Sicherheit? Und vor allem, was bedeutet das für die Wahrheit über Fabian (†8)? Die Ermittlungen gehen weiter, aber eine Tatsache bleibt: In diesem Fall gibt es mehr Schatten als Licht, und manche Schatten wirken, als würden sie absichtlich außerhalb der Reichweite bleiben.