Teil 1-Die düstere Geschichte der Familie Schneider: Jeder Sohn starb mit 21

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In den sanften Hügeln des Ruhrgebiets, wo Zeächen und Hochöfen einst tiefe Narben in die Erde gruben und der Geruch von Kohlenrauch noch heute in alten Mauersteinen haftet, liegt ein kleiner unscheinbarer Friedhof, den Historiker seit mehr als einem Jahrhundert mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken betrachten.

Dort stehen sieben identische Grabsteine in markelloser Formation. Jeder trägt denselben Nachnamen, Schneider. Jeder markiert das Grab eines jungen Mannes, der genau im Alter von 21 Jahren starb. Zwischen den Jahren 1847 und 1883 ereignete sich dieses unheimliche Muster. Jeder männliche Erbe der Schneiderlinie fand an seinem 21. Geburtstag den Tod.

Die Umstände unterschieden sich stets mal ein Gruben Unglück, mal ein Brand, mal ein Sturz von einem Gerüst. Doch in ihrer erschreckenden Präzision waren sie so ähnlich, daß die lokalen Behörden schließlich aufhörten, Nachforschungen anzustellen. Im Landesarchiv von Preußen liegen über 300 Seiten voller Zeugenaussagen ärztlicher Berichte und Gerichtsschriften, die im Jahr 1884 auf königliche Anordnung versiegelt und in einen verschlossenen Schrank in Berlin überführt wurden.

Was Sie nun hören werden, ist noch nie vollständig erzählt worden. Es wurde rekonstruiert aus neu entdeckten Familienbriefen, Protokollen aus den Archiven des Bergamts Dortmund und dem persönlichen Tagebuch von Dr. Ernst Falkenberg, dem Stadtarzt von Essen, der vier dieser Todesfälle miterlebte und seine letzten Jahre damit verbrachte, das zu dokumentieren, was er den Schneiderfluch nannte.

Bevor wir mit der Geschichte der Familie Schneider und ihrer unerklärlichen Tragödien fortfahren, die eine ganze Bergarbeitergemeinde über Jahrzehnte heimsuchte, sollten Sie eines wissen. Die Wahrheit, die sich hinter diesen Geschehnissen verbirgt, ist weit beunruhigender als jede übernatürliche Legende.

Sie wurzelt tief in den harten Realitäten des industriellen Deutschlands, des 19. Jahrhunderts in Familiengeheimnissen, die Generationen überdauerten und in einer Mauer des Schweigens, die die Mächtigen schützte, während sie die Schwachen opferte. Es begann im Jahr 1846, als Johannes Schneider erstmals in die aufstrebende Zechenstadt Härten zog.

Er war einer von tausenden armen Bauern aus dem Hundsrück, die ihr Land verloren hatten, als neue preußische Steuerlasten und eine Serie von Missernten, ihnen jede Lebensgrundlage nahmen. Johannes besaß kaum mehr als schwielige Hände, einen eisernen Willen und die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Welt der Kohle.

Doch anders als viele seiner Leidensgenossen brachte er etwas mit, das sich als Segen wie auch als Fluch erweisen sollte. ein Empfehlungsschreiben eines geheimnisvollen Förderers aus Mainz. Dieser hatte nicht nur seine Reise ermöglicht, sondern ihm auch eine Anstellung bei der reinisch-Westfälischen Kohlen- und Eisengesellschaft zugesichert, jenem mächtigen Unternehmen, das Härten vollständig dominierte.

Die Stadt war in jeder Hinsicht eine Firmensiedlung. Die grauen Reihenhäuser, alle nach demselben Muster errichtet, säumten die staubigen Straßen. Alles gehörte der Gesellschaft, von der Schenke bis zur Kirche, vom Laden bis zum Friedhof. Selbst der Name der Siedlung war vom Unternehmen neu geprägt worden, um die Vision industrieller Ordnung über die alte bäuerliche Geschichte zu stellen.

Besonders war an Härten die gezielte Auswahl der Arbeiter. Die Gesellschaft nahm nicht jeden auf, der Arbeit suchte, sondern rekrutierte gezielt Familien aus Regionen, die von Hunger oder Armut gezeichnet waren. Man versprach ihnen Unterkunft, Arbeit und eine neue Gemeinschaft. im Austausch für langfristige Bindung und völlige Abhängigkeit.

Johannes Schneider war mit seinen Jahren älter als viele Neuankömmlinge. Sein wettergegerbtes Gesicht zeugte von den Entbehrungen, die ihn aus der Heimat vertrieben hatten. Doch er hatte ein scharfes Gespür für Zahlen und konnte lesen und schreiben. Fähigkeiten, die im Ruhrgebiet damals noch selten waren. Schon bald fiel er den Betriebsleiter der Gesellschaft auf.

Heinrich Bendmann, einem hageren, berechnenden Mann, der es verstand, Ordnung mit eiserner Hand durchzusetzen. Bentmann ließ Johannes nicht lange unter Tage schuften, sondern holte ihn ins Kontor. Dort, zwischen Büchern voller Kohlestaub und den Geheimnissen der Arbeiter begegnete Johannes einer Frau, die sein Leben verändern sollte.

Katharina Vogel, die Tochter eines Schreiners aus Westfalen, die als Näherin für die Aufseherfrauen arbeitete. Ihre Liebe war leidenschaftlich und gefährlich zugleich, denn beide erkannten bald, dass das System, das sie ernährte, sie zugleich gefangen hielt. Sie heirateten im Herbst desselben Jahres in der kleinen katholischen Kirche St.

Marienn mehr als 200 Menschen aus der Siedlung kam und Pater Albrecht predigte von Gehorsam und Demut, Tugenden, die im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft standen. Katharina war eine schöne Frau mit dunklem Haar und Augen wie Sturmwolken. Doch wichtiger für Johannes war ihr scharfer Verstand.

Sie erkannte die Ungerechtigkeiten, die über der Stadt lasteten, und als sie schwanger wurde, träumte sie von Dingen, die niemand erklären konnte, von einem Friedhof voller identischer Grabsteine, auf denen der Name Schneider stand. Dr. Falkenberg verschrieb ihr Ruhe und Laudernum, doch in seinem Tagebuch schrieb er: “Dies sind keine gewöhnlichen Symptome.

Zu viele Frauen höher gestellte Arbeiter träumen vom Tod. Die Spannungen in der Stadt nahmen zu. Die katholischen Familien wie die Schneiders standen im ständigen Konflikt mit den protestantischen Zuwanderern aus Norddeutschland. Doch alle littten gleichermaßen unter den harten Bedingungen.

Niedrige Löhne, Schulden im Gesellschaftsladen, tödliche Gefahren in den Schächten und dann kam die Geburt des ersten Sohnes Matthias. gesund, kräftig und doch so flüsterten einige von einem unsichtbaren Schicksal gezeichnet. Ein Schicksal, das die Schneiderlinie für immer verfolgen sollte. Am Morgen des 15. März, im Jahr 1866 erwachte das Ruhrgebiet unter einem bleigrauen Himmel.

Noch lag Schnee auf den Halden und die kalte Luft trug den scharfen Geruch von Rauch aus den Hochhöfen. Für die Familie Schneider war es ein Tag, den sie nie vergessen sollten. Der 21. Geburtstag ihres ältesten Sohnes Matthias. Johannes hatte in der Schankstube zum schwarzen Bären eine kleine Feier geplant, einer der wenigen Orte in der Stadt, an denen katholische Arbeiter willkommen waren.

Katharina bereitete am frühen Morgen ein kräftiges Frühstück aus Roggenbrot, Wurst und dickem Schwarzbier. Doch Matthias rührte es kaum an. Seine Haut war fahl, seine Augen von einer seltsamen Müdigkeit beschattet. Du siehst krank aus, mein Junge”, sagte Katharina und legte ihre Hand auf seine Stirn. Bleib heute zu Hause.

Doch Matthias lächelte schwach und widersprach: “Es geht mir gut, Mutter. Ich muss zur Arbeit, denn er war vor kurzem zum Schichtführer in Schacht Nummer 7 ernt worden. Eine Beförderung, die Ehre und Misstrauen zugleich bedeutete. An seinem Geburtstag fern zu bleiben, hätte Fragen aufgeworfen, die gefährlich hätten werden können. Die Frühschicht begann wie gewohnt um 6 Uhr im Lampenhaus.

Matthias führte eine Gruppe von zwölf Männern, meist katholische Westfalen, einige wenige protestantische Zuwanderer aus Schlesien. Gemeinsam stiegen sie tief in die Erde hinab, fast 200 Klafter, wo die Flöze reich, aber instabil waren. Um exakt 2:17 Uhr am Nachmittag, so vermerkte es der Bericht der Gesellschaft, erschütterte eine Methangasexplosion Schacht Nummer 7.

Das Beben war bis in die Straßen Härtens zu spüren, ließ Fensterscheiben bersten und Frauen in Panik auf die Straßen laufen. Gruben Unglücke waren im Ruhrgebiet nichts Neues, doch dieses war anders. Die Wucht war gezielt, begrenzt, als habe jemand den Ort der Katastrophe mit unheimlicher Präzision gewählt. Als die Rettungstrups nach drei Stunden die verschütteten Gänge erreichten, fanden sie elf Männer bewusstlos.

Aber am Leben. Nur Matthias lag tot, unversehrt, als hätte er friedlich eingeschlafen. Dr. Falkenberg schrieb später in sein Tagebuch: “Nicht das Feuer, nicht der Druck der Explosion nahm ihm das Leben.” Er starb imselben Augenblick, in dem Erde bebte, als wäre seine Uhr abgelaufen.

Die Überlebenden Kumpel erzählten eine Geschichte, die den Schrecken noch vergrößerte. Sekunden vor der Explosion hatte Matthias auf seine Taschenuhr geschaut und gelächelt. “Die Zeit ist um”, hatte er gesagt. “Dann war die Erde erzittert. Drei Tage später fand man in seiner Jackentasche einen Brief. Mit sicherer Hand hatte er ihn zwei Wochen zuvor geschrieben.

Darin standen Anweisungen für seine Beerdigung und die Worte: “Die erste Zahlung ist geleistet. Die Schuld geht mit meinen Brüdern weiter. Die Gesellschaft schob die Schuld auf Fahrlässigkeit. Sie zahlte den Schneiders eine geringe Entschädigung und versiegelte den Bericht. Doch in den Augen vieler war dies kein gewöhnliches Unglück. Katharina alterte in den Monaten nach der Beerdigung um ein Jahrzehnt. Ihr Haar wurde grau, ihre Augen leer.

Johannes stürzte sich in Arbeit und Schnaps. Doch am tiefsten geprägt war der zweite Sohn Thomas. Er war lebhafter, aufbrausender als sein Bruder. Er stellte Fragen, las Berichte im Stadtarchiv, befragte Überlebende. Er entdeckte, dass Schacht Nummer 7 schon Wochen zuvor als unsicher galt und dass Matthias an seinem Geburtstag eine Doppelschicht übernehmen musste, obwohl die Vorschriften dies verboten.

Schlimmer noch, unter den Papieren seines Vaters fand Thomas einen Brief von Bentmann selbst, indem Matthias angewiesen wurde, ausgerechnet an diesem Tag die Gase im Schach zu prüfen. Als Thomas Johannes damit konfrontierte, zerriss dieser den Brief im Zorn und fauchte. “Manche Dinge sind besser begraben, Junge. Lass es, bevor du dasselbe Schicksal teilst.

” Doch Thomas ließ nicht los. Er begann sich heimlich mit entlassenen Kumpeln zu treffen. Sie erzählten von Blutverträgen, geheimen Abkommen, die Familien auf Generationen an die Gesellschaft bandten. Diese Verträge forderten Opfer. Opfer in Gestalt der ältesten Söhne, immer am 21. Geburtstag. Der Frühling des Jahres 1873 rückte näher und mit ihm Thomas eigener Geburtstag.

Er wurde nervös, schlief kaum, trug eine Pistole bei sich. Sie kommen wegen mir, flüsterte er seiner Mutter, genau wie sie wegen Matthias kam. Am Morgen des 22. März lag dichter Nebel über Härten. Thomas hatte sich im Turm der St. Marienkirche verschanzt, mit dem alten Jagdgewehr seines Vaters. Pater Albrecht fand ihn dort abgemagert, die Augen glühend vor Angst.

“Mein Sohn, warum Waffen im Haus Gottes?”, fragte der Priester. Thomas erzählte Wir von Verträgen, von Mord im Namen des Wohlstands. Heute holen sie mich und wenn ich falle, dann Michael, dann Georg, dann der kleine Lukas, jeder von uns, bis kein Schneider mehr übrig ist. Um Schlag 12 hob er das Gewehr, zielte auf die Hauptstraße und schrie: “Da sind sie, drei Männer in Mänteln.” Der Priester sah nur den Nebel.

Thomas drückte ab, doch die Waffe explodierte in seinen Händen. Sein Körper prallte gegen die Turmwand. Als Pater Albrecht nach Minuten wieder zu sich kam, kniete der Tote da, die Hände wie zum Gebet gefaltet, das Gesicht friedlich. Die Untersuchung sprach von fehlerhafter Munition. Doch im Tagebuch des Priesters steht eine andere Notiz.

In jenem Moment blieben alle Uhren in Härten stehen für genau Sekunden. Der Tod von Thomas Schneider erschütterte die katholische Gemeinschaft in Härten zutiefst. Doch es war die Reaktion von Johannes, die seinen Nachbarn am meisten beunruhigte. Nach Matthias Tod hatte er sich in Arbeit vergraben, still und verbittert.

Nun aber nach Thomas Jähm Ende wurde er von einer Wut ergriffen, die an Wahnsinn grenzte. Schon am Morgen nach der Beerdigung stürmte er ins Kontor der Gesellschaft, verlangte Heinrich Bentmann zu sprechen und trug dabei eine schwere Ledertasche. Was sich in diesem Treffen abspielte, ist bis heute eines der ungelösten Geheimnisse. Die Sekretärin Klara Hoffmann berichtete später, sie habe trotz geschlossener Tür laute Stimmen gehört, Möbel seien umgestürzt, Glas sei zerbrochen. Als Johannes nach zwei Stunden herauskam, war sein Gesicht leichen

blass und die Ledertasche nicht mehr bei ihm. Bendmann selbst zeigte sich in den Tagen danach verändert. Er sagte alle Termine ab, starrte stundenlang aus dem Fenster seines Büros, als erwarte er eine Katastrophe. Einmal diktierte er Hoffmann einen Brief, begann mit den Worten: “Die Verträge müssen enden.

” Doch dann riß er das Blatt in Stücke. Johannes Schneider veränderte sich ebenso radikal. Der einst pflichtbewusste Buchhalter begann grobe Fehler in den Registern zu machen. Man sah ihn betrunken in den Straßen, hörte ihn in Kneipen von einem Preis des Wohlstands reden. Katharina wiederum verfiel in eine stille, unheilvolle Besessenheit.

Jeden Abend ging sie auf den Friedhof, nicht nur zu den Gräbern ihrer Söhne, sondern auch zu jenen anderer junger Männer, die im Alter von unter seltsamen Umständen gestorben waren. Sie entdeckte ein Muster, den Sohn des deutschen Einwanderers Johann Steiner, der 1859 vom Baugerüst stürzte, obwohl er erfahren war, den Italiener Pietro Rossini, den 1864 ein Kohlenwagen erdrückte, den er selbst kontrolliert hatte, oder Edward Flagan, der 1871 im seichten Bach ertrank, indem er seit Kindheitstagen geschwommen war.

Offiziell alles Unfälle, doch stets gab es Gemeinsamkeiten. Eine Beförderung kurz zuvor, eine ungewöhnlich hohe Entschädigung für die Familie und in den Papieren der toten Hinweise darauf, dass sie ihr Ende geahnt hatten. Katharinas dritter Sohn Michael damals 19 begann eigene Nachforschungen.

In einem dunklen Winkel des Kirchenkellers fand er alte Dokumente in lateinischer Rechtssprache verfasst, Verträge datiert auf die 20er Jahre des Jahrhunderts, als die Gesellschaft ihre Macht im Ruhrgebiet ausbaute. Zu seinem Entsetzen erkannte Michael die Unterschrift seines eigenen Großvaters Friedrich Schneider. Darin stand von sieben Söhnen die Rede als Blutzehnt für Wohlstand und Schutz.

Als Michael diese Dokumente seinen Eltern zeigte, reagierte Johannes wie ein Rasender. Er riss die Blätter an sich, zerriss sie und warf sie ins Feuer. “Verbrennt alles”, schrie er. “Oder wollt ihr euch zu euren Brüdern ins Grab legen?” Doch Katharina hatte zuvor Abschriften gemacht. Zum ersten Mal sprach sie laut aus, was sie lange gefürchtet hatte.

Wenn die Schneiders wirklich durch einen Blutvertrag gebunden waren, dann war es vielleicht an der Zeit, diesen Fluch zu brechen. Kostte es, was es wolle. Der Winter 1873 war hart. Schnee türmte sicher hoch. Der Frost bis ins Mauerwerk und im Schneiderhaus herrschte eisiges Schweigen. Jeder hütete Geheimnisse, die alle bedrohten. Am 14.

Februar des Jahres 1874, 2 Monate vor Michaels 21. Geburtstag fasste Katharina einen verzweifelten Entschluss. Sie suchte Pater Albrecht auf und offenbarte ihm die Wahrheit. Sie zeigte ihm die Abschriften der Verträge. Der alte Priester, noch traumatisiert vom Tod Thomas, wollte zunächst nicht glauben, was er sah. Doch die Schriftstücke waren eindeutig.

In den Archiven der Kirche fand er noch schlimmeres. Aufzeichnung, daß der Bau von St. Marie vollständig von der Gesellschaft finanziert worden war. Manche Priester hatten nicht nur gesegnet, sondern auch als Zeugen solcher Verträge unterschrieben. Hinter einer falschen Wand in der Sakristi entdeckte er ein Kassenbuch. Darin waren geistliche Transaktionen vermerkt.

Namen der Familien, Daten der Vereinbarung und die Opfer, die zu erbringen waren. Unter Schneider stand deutlich: “Sieben Söhne, fällig an ihrem 21. Geburtstag.” Pater Albrecht zitterte, als er das Buch in Händen hielt. “Das ist kein Aberglaube”, sagte er. Es ist ein Verbrechen, ein System, so kalt berechnet wie die Maschinen in den Schächten.

Gemeinsam mit Katharina schmiedete er einen Plan. Meichel sollte geschützt werden, nicht wie seine Brüder einsam in den Tod geschickt. Man wollte Beweise sammeln, andere Familien überzeugen und die Wahrheit jenseits des Ruhrgebiets bekannt machen. In Köln oder gar in Berlin, wo die Gesellschaft keinen direkten Einfluss hatte. Doch Mickel war jung, stur und mutig.

Als er erfuhr, daß seine Mutter und der Priester ihn in der Kirche verstecken wollten, lachte er bitter: “Verstecken? Nein, ich will ihnen in die Augen sehen. Sie sollen mich freilassen oder vor aller Welt als Mörder entlaft werden.” Sein Geburtstag rückte näher und mit jedem Tag wuchs die Spannung im Schneiderhaus.

Draußen peitschte der Wind, drinnen flackerten die Kerzen über Pergamentseiten, die von Blut und Schuld erzählten. Die Wochen vor Michaels 21. Geburtstag waren von einer nervösen Geschäftigkeit erfüllt, die selbst Außenstehende spürten. In Härten wirkten die Gesichter ernst, Gespräche verstummten, wenn ein Aufseher vorbeiging.

Und in den Stuben wurden die Fensterläden früher geschlossen. Katharina schickte Boten, Nachbarn, denen sie vertraute, zu Familien, deren Söhne ähnlich gestorben waren. Manche öffneten bereitwillig ihre Türen und legten alte Briefe, Totenscheine, zerlesene Notizhefte auf die Tische.

Andere wiesen jeden Besuch ab, als fürchteten sie schon das Aussprechen der Wahrheit könnte neues Unglück herauf beschwören. Pater Albrecht schrieb eilige Briefe an das Generalvikariat in Köln und an einen befreundeten Juristen in Berlin, einen gewissen Dr. Julius Heine. Wir haben es mit einer Verschwörung zu tun”, hieß es in einer der Zuschriften, die sich in den Mantel der Frömigkeit kleidet und das Kreuz wie ein Siegel auf weltliche Verträge drückt.

Er versiegelte die Umschläge mit Wachs und schickte Ministranten nachts über Nebenwege zum Bahnhof, damit niemand sah, wie die Briefe die Stadt verließen. Michael jedoch weigerte sich, sich hinter Pergament, Stempeln und frommen Bitten zu verstecken.

Er schnürte eine Mappe mit Abschriften der entdeckten Dokumente, Auszügen aus dem Kassenbuch der Sakristi und einer Liste von Namen, die er in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen hatte. “Ich werde nicht warten, bis sie mich holen”, sagte er zu seiner Mutter. “Ich werde sie zwingen, vor meinen Augen zu sprechen.

” An einem bitterkalten Morgen, zwei Wochen vor seinem Geburtstag, betrat er das Kontor der reinisch-Westfälischen Kohlen und Eisengesellschaft. Die Luft roch nach Kohlenstaub und Bohnerwachs. Die Wände waren mit Landkarten der Gruben behängt und hinter einem massiven Schreibtisch aus Eiche saß Heinrich Bendmann. Neben ihm zwei Herren in dunklen Röcken. Der Werksjurist Dr.

Eduard Falkenberg, ein Cousin des Stadtarztes und der technische Direktor Herr von Harden. Ich verlange eine Anhörung vor dem Vorstand, sagte Michael ohne Umschweife und legte die Mappe auf den Tisch. Hier sind Verträge, Zeugnisse, Namen. Ich will die Entbindung meiner Familie von jeder Verpflichtung sowie die öffentliche Anerkennung der Schuld an den Ten meiner Brüder.

Bentmans schmale Gesichtszüge entgleisten einen Augenblick. Dann fasste er sich. Er öffnete die Mappe, überflog die Seiten, blätterte zurück, verharrte. Der Jurist räusperte sich und begann leise in einer Mischung aus Deutsch und lateinischer Klauselsprache, Formulierungen zu murmeln, die wie Beschwörungsformeln klang. Paktum Sanguinis, Subsilantio.

Die Dokumente sind unrechtmäßig erlangt, sagte schließlich Dr. Falkenberg. Selbst wenn sie echt wären, hätten sie keinerlei Gültigkeit mehr. Echt? Michael lächelte bitter. Die Handschrift meines Großvaters erkennt jede Schülerin in Härten und die Liste der Opfer. Wollen sie sagen, all diese Toten seinen Zufall? Ein Flüstern ging zwischen den Herren hin und her.

Dann erhob Bentmann sich, trat ans Fenster, als erwarte er draußen Reiter oder eine Trommel, die zum Appell rief. “Junger Schneider”, begann er und seine Stimme klang beinahe sanft. Laßen Sie uns zur Vernunft reden. Niemand will Ihrer Familie Böses. Wir bieten eine Einigung an. Ihre Eltern und Brüder verlassen Härten. Man zahlt ihnen für einen Neuanfang, sagen wir im Rheinland oder in Ostpreußen.

Sie schweigen und die Vergangenheit ruht. Sie haben 24 Stunden. Manche Schulden, erwiderte Michael können nicht mit Geld beglichen werden. Ich werde nach Köln gehen, nach Berlin, zur Presse, wenn es sein muss. Er nahm die Mappe an sich und wandte sich zur Tür, weil da rief der Jurist ihm nach, mit einer eisigen Ruhe, die allen Anwesenden das Blut gefrieren ließ.

Einige Verträge sind älter als ihre Empörung, junger Mann. Sie laßen sich nicht brechen. Die Nachricht, die am nächsten Morgen Härten erschütterte, verbreitete sich schneller als der Rauch aus den Schornstein. Heinrich Bendmann war in der Nacht in seinem Büro gestorben. Ein Herzschlag hieß es, doch sein Gesicht sei in einem Ausdruck erstarrter Furcht verkrampft gewesen.

In seiner Hand fand man ein angefangenes Schreiben: “Die Verträge müssen enden.” Danach nur noch zittriges Gekritzel. Mit Bendmanns Tod geriet das sorgsam gespannte Netz ins Wanken. Ein junger Aufseher suchte den Stadtarzt auf und gestand weinend, er habe auf Befehl falsche Unfallberichte unterzeichnet.

Ein Lagerverwalter brachte heimlich einen Kasten zur Kirche, präparierte Patronen, die beim Schuss explodierten. Im Konventszimmer der Starienfahrei legte Pater Albrecht diese Gegenstände neben das Kassenbuch und strich mit zitternden Fingern über die Spalten. Namen, Daten, Beträge und immer wieder die verhängnisvolle Formel Zähnt in Blut. Dr.

Ernst Falkenberg, der Arzt, rang mit seiner Schuld. In sein privates Tagebuch notierte er: “Man hat mich genötigt, Totenscheine so zu verfassen, dass die wahren Ursachen verschleiert wurden. Ich habe gehorcht aus Furcht, aus Feigheit, doch ich habe zugleich notiert, was war. Manipulierte Lampen, gezielt ausgelöste Schlagwetter, Patronen mit überladenem Pulver. Ich kann dies nicht länger tragen.

Noch ehe Köln oder Berlin antworten konnten, machten sich die unsichtbaren Hände bemerkbar, die auch jenseits der Zechengrenzen reichten. Ein Spitzel flüsterte Katharina zu, dass Namen auf Listen stünden, Namen jener, die gesprochen hatten.

In derselben Nacht wurde die Hintertür der Schneiderstube aufgebrochen, Schubladen ausgelehrt, das Bettzeug aufgeschlitzt, als Suche jemand nach Abschriften und Belegen. In den folgenden Tagen brachen Unfälle über jene herein, die man als Verbündete der Schneiders kannte. Ein Dach stürzte über dem Kopf eines Schichtmeisters ein. Eine fuhre Kohle löste sich und begrub einen Wagenführer.

Ein Schoppen fing angeblich durch einen umgestoßenen Petroleumofen Feuer. Katharina ließ sich nicht beugen. Sie schickte Mächel nicht mehr allein auf die Straße. Nachbarn gingen an seiner Seite, als wäre jeder Weg durch die Siedlung ein kleiner Pilgerzug. Abends wurden in der Schneiderstube Kerzen entzündet und man las nicht nur Psalmen, sondern laut die Namen der Toten, damit sie Zeugen blieben.

“Wir holen sie ins Licht”, sagte sie, “dann verlieren die Schatten ihre Macht.” Die Gesellschaftsvertreter suchten der Weil ihre eigene Rettung. Ohne Bendmanns eiserne Hand war der Chor der Befehlshaber schief geworden. Einige plädierten fürs Verbrennen der belastenden Akten, andere für rasches Schweigen durch Geld. Der Jurist Dr. Eduard Falkenberg wollte Zeit gewinnen.

Er begann Deporräume zu inventarisieren in Wahrheit, um Dokumente zu verlagern. Doch Kara Hoffmann, die Sekretärin, hatte genug gesehen. In einer Nacht voller Regen und Wind trug sie ein Bündel Papiere zur Pfahrstube, Lieferscheine, die mit geheimen Kürzeln versehen waren, Korrespondenzen mit entfernten Zechen im Sauerland und in Schlesien.

listenreisender Sicherheitskräfte, die immer dann erschienen, wenn ein junger Mann seinen Geburtstag erreichte. Als Meichel die Dokumente auf dem Tisch ausbreitete, entstand ein Bild, das niemand mehr als Zufall abtun konnte. Ein System, kalt wie Eisen und exakt wie ein Urwerk. Die Todesarten variierten, doch das Prinzip war stets dasselbe.

Die Öffentlichkeit sollte an einen Unfall glauben. Die Familie sollte entschädigt und zum Schweigen gebracht werden. Der Name sollte bestehen bleiben, ohne dass ein aufmüpfiger Erbe ihn gefährlich machte. In einer Versammlung im Hinterzimmer der Schankstube zum schwarzen Bären die Fenster mit Wolldecken abgehängt, die Stimmen gedämpft, beschlossen Vertreter mehrerer Familien, den Schritt zu wagen, der bisher undenkbar schien.

Sie wollten gemeinsam vor das königliche Bergamt treten mit Kopien, Zeugen, Sachbeweisen und sollten die Türen sich verschließen, würde man sich an die Presse in Köln wenden. “Wir sind viele”, sagte eine Bergmannswit, deren Sohn im Alter von 21 gestolpert und in die Gicht gefallen war.

Allein kann man uns brechen, zusammen nicht. Doch das Netz hatte Ohren. Noch in derselben Nacht sah man drei Männer in Mänteln durch den Regen gehen, lautlos wie Schatten, die an Türen lauschten. Michael erkannte in ihnen die Gestalten aus Thomas letzten Worten und schwor, sie nicht noch einmal unbemerkt verschwinden zu lassen. Als die Glocke von St.

Marie am folgenden Morgen zum Frühamt rief, stand Härten an einer Schwelle. Auf der einen Seite die Furcht, die sich wie Ruß in jede Fuge gelegt hatte. Auf der anderen Seite der Zorn, der brannte wie Kohle im Ofen. Michael band die Mappe mit einem Lederband fester zusammen, küsste Katharina auf die Stirn und sagte: “Heute gehen wir nicht mehr im Schatten.

” Dann machte er sich auf den Weg zum Bergamt und mit ihm ein Dutzend Männer und Frauen, die endlich beschlossen hatten, dass Schweigen teurer war als jedes Wort. Der Marsch zum königlichen Bergamt in Dortmund, wohin Michael Schneider und seine Gefährten ihre Klagen tragen wollten, war kein gewöhnlicher Gang. Früh am Morgen des 3. März 1874 versammelten sich vor der Schneiderstube Männer und Frauen, manche mit Kindern an der Hand, manche mit Kerzen in der Faust.

Sie gingen schweigend, doch ihre Schritte halten über das Kopfsteinpflaster, als würden die Steine selbst Zeugen tragen. Die Nachricht verbreitete sich rasch. Aus den Fenstern lugten neugierige Augen. Einige Aufseher folgten mit grimmigen Blicken, doch keiner wagte, die Gruppe aufzuhalten. 7 km waren es bis Dortmund und auf dem Weg schlossen sich weitere an. Witwin, die Söhne verloren hatten, Arbeiter, die in den Schächten Verwundungen davon getragen hatten, sogar ein Lehrer aus der Dorfschule, der von merkwürdigen Klauseln in alten Verträgen berichtete.

Als sie die hohen Mauern des Bergamtes erreichten, wehten die preußischen Fahnen über dem Portal. Ein uniformierter Beamter wollte sie abweisen, doch Pater Albrecht trat vor sein Brevier in der Hand. Wir fordern Anhörung, sagte er mit einer Festigkeit, die selbst den Beamten kurz innerhalten ließ. Schließlich führte man die Delegation in einen kahen Saal mit langen Bänken.

Dort begann Michael die Dokumente auszubreiten. Er sprach mit klarer Stimme von den Verträgen, den Toten, den manipulierten Waffen und Lampen. Andere legten Zeugnisse ab. Eine Witwe berichtete von der unerklärlichen Beförderung ihres Sohnes kurz vor dessen Tod. Ein Arbeiter von Drohungen seitens der Aufseher, ein Mädchen vom Auffinden geheimer Papiere im Haus ihres Vaters.

Die Beamten hörten zunächst mit steinernen Gesichtern zu. Doch bald wechselten Blicke, räuspern, flüsternde Kommentare. Einer der Älteren, ein Rat namens von Merscheid, fragte scharf: “Wie sind diese Papiere in ihren Besitz gelangt? Wissen Sie, dass das Verbreiten vertraulicher Dokumente strafbar ist?” Meichel antwortete ohne zögern.

Wenn das Gesetz uns zwingt, den Mord an unseren Brüdern zu verschweigen, dann ist es kein Gesetz, sondern ein Werkzeug der Mörder. Ein Murmeln ging durch den Saal. Von Meerscheheit erhob sich, legte die Papiere zusammen und erklärte: “Eine Untersuchung werde eingeleitet.” Doch sein Tonfall war jener eines Mannes, der Zeit gewinnen will.

Noch am selben Abend, als die Gruppe zurückkehrte, empfingen sie böse Ohen. Am Himmel lag schweres Gewitter. Funken stoben aus den Schornsteinen. Hunde heulten in den Gassen. In der Nacht wurde die Tür der Schneiderstube erneut aufgebrochen. Dieses Mal nahm man nichts. Man ließ ein Zeichen zurück.

Ein Kreuz aus Kreide an der Wand, daneben die Worte Silentium oder Tod. Am folgenden Tag versammelten sich Unterstützer in der Schankstube zum schwarzen Bären. Sie beschlossen, nicht länger nur Behörden zu vertrauen. Einer der Männer hatte Verbindungen zu einer Zeitung in Köln, die reinische Volksstimme. Er bot, eine Kopie der Dokumente nach Köln zu bringen, doch die Gesellschaft schlug schneller zurück, als jemand ahnen konnte. Am 7. März brannte die Schankstube bis auf die Grundmauer nieder.

Offiziell hieß es, ein Ofen sei überhitzt, doch jeder in Härten wußte, daß dies eine Antwort war. Dr. Ernst Falkenberg, der Arzt, quälte sich in dieser Zeit mit Gewissensbissen. Er hatte Totenscheine gefälscht, Unfälle attestiert, die keine waren. Nun schrieb er in sein Tagebuch, ich werde vor einer Kommission sprechen, so Gott mir Kraft gibt.

Doch fürchte ich, dass ich das Ende nicht mehr erlebe. Seine Hand zitterte und manche Zeilen waren kaum lesbar. Die Vergeltung nahm zu. Ein Nachbar, der für die Schneider ausgesagt hatte, wurde auf offener Straße zusammengeschlagen. Katharina selbst erkrankte an einer seltsamen Schwäche. Sie froh, hustete Blut, obwohl kein Arzt die Ursache fand.

Michael schlief kaum noch, ging bewaffnet durch die Straßen und ließ niemanden ohne Zeugen in seine Nähe. Und doch wuchs zugleich der Mut. Aus anderen Städten im Ruhrgebiet trafen Briefe ein. aus Bochum, Essen, Duisburg. Familien berichteten von ähnlichen Todesfällen, ähnlichen Verträgen.

Ein Muster spannte sich über die Region, größer als irgendjemand zuvor gedacht hatte. Der entscheidende Moment kam am 15. März, Michels Geburtstag. Katharina hatte Kerzen im Haus aufgestellt. Nachbarn hielten Wache. Pater Albrecht saß mit Psalm neben dem jungen Mann. Draußen jedoch regte sich das Unheil. Zeugen berichteten später. Drei Männer in langen Mänteln seien durch die Straßen gegangen, schweigend, die Gesichter unter Hüten verborgen.

Sie hatten den Weg zur Schneiderstube eingeschlagen. Doch diesmal waren nicht nur drei Menschen im Haus, sondern Dutzende, Freunde, Nachbarn, selbst einige ehemalige Kumpel, die genug von der Furcht hatten. Als die Männer die Tür erreichten, erhob sich ein Tumult. Lampen wurden entzündet, Stöcke erhoben und aus dem Schatten heraus trat Michael selbst die Mappe fest an die Brust gedrückt. “Heute nicht”, rief er.

“Heute stirbt kein Schneider.” Die Männer in Mänteln zögerten, dann verschwanden sie in der Dunkelheit. Niemand verfolgte sie, zu groß war die Angst vor einer Falle. Doch an diesem Abend, zum ersten Mal seit Jahrzehnten lebte ein Schneider seinen 21. Geburtstag. Die Freude war gedämpft, doch sie war echt.

In den Gesichtern der Nachbarn lag Hoffnung, die lange verschüttet gewesen war, aber ebenso lag dort die Ahnung, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. Denn wer einmal das Schweigen gebrochen hatte, durfte nicht glauben, dass die Schatten sich kampflos zurückzogen. Die Erleichterung über Michaels überstandenen Geburtstag hielt kaum länger als eine Nacht.

Schon am folgenden Morgen lag ein bitterer Geruch über Härten, der nicht von Kohle stammte. Gegen Ende der Frühmesse bemerkte Pater Albrecht einen feinen Rauchfaden, der aus dem Dachstuhl der Sttmarienkirche kroch. Minuten später leckten Flammen an Schiefer und Gebelk. Die Männer rannten mit Eimern und Leitern. Frauen bildeten Ketten vom Pumpbrunnen bis zum Kirchplatz.

Kinder schleppten nasse Decken, doch das Feuer fraß sich durch die alten Balken, als sei es hungrig auf heilige Orte. Als der Turm schließlich krachend in sich zusammensank, schlug eine Funken Wolke über den Platz. Das Kreuz stürzte und blieb wie ein verkohlter Finger im Aschebett liegen. Offiziell hieß es: ein defekter Ofen habe das Unglück verursacht. Niemand glaubte es. Am selben Tag erhielt Katharina einen Brief ohne Absender.

Darin lag säuberlich auf gefaltetem Papier ein kleines Metallkreuz, dessen Oberfläche schwarz und porös war, als hätte es die Hitze des Brandes getrunken. Auf dem Umschlag stand in enger Handschrift: Silentium war die mildere Bitte. Sie legte das Kreuz auf den Tisch, rührte es nicht mehr an und erst in jener Nacht, als das Haus still war, brach sie in Tränen aus, so lautlos, dass selbst die Wände nicht Zeuge wurden.

Dr. Ernst Falkenberg hatte Gipsverbände angelegt, Verbrennungen gekühlt, Kinder beruhigt. Am Abend saß er in seinem Sprechzimmer, die Lampe tief herabgedreht und schrieb: “Ich habe lange gezögert. Meine Feder war Komplizender, die aus dem Schatten herrschen. Ich werde vor einer königlichen Kommission sprechen, sofern man mir die Stunde lässt.

” Am nächsten Morgen fand man ihn tot über seinem Schreibtisch, die Finger noch um die Feder gekrampft, die Tintenfässer umgestoßen. Man sprach von einem freiwilligen Tod durch Laudanum. Doch wer seine Augen sah, schwor: “Dort habe nicht die Ruhe der Entschlossenen gelegen, sondern die Starre eines Mannes, dem die Luft entzogen wurde.

” Mit dem Arzt starb ein Zeuge, aber nicht die Wahrheit. Denn in einer Schublade, die man nur mit einem versteckten Stift öffnen konnte, lagen seine privaten Aufzeichnungen, Auflistungen präparierter Patronen, Skizzen manipulierter Sicherheitslampen, Namen reisenders Inspekteure, die in Wahrheit Attentäter waren.

Pater Albrecht las blass und schweigend, bis weit in die Nacht. “Dies genügt, um eine Kanzlei in Berlin zu bewegen”, sagte er schließlich. Aber es genügt auch, um uns alle zu töten. Die Antwort aus Köln ließ auf sich warten. Stattdessen kamen Männer ohne Namen. Sie standen an Ecken, wenn Michael die Straße betrat.

Sie saßen in der Schenke, in der früher die Schneider und ihre Freunde verkehrten und schwiegen, wenn jemand den Raum betrat. Eines Abends, als die Dämmerung die Halden in violette Hügel verwandelte, bemerkte Michael Kreidestriche auf dem Pflaster. Kleine Zeichen, die nur Sinn ergaben, wenn man die Wege der Stadt kannte. Pfeile zur Schneiderstube, Kreuze an Nebentüren, ein Kreis um das Fenster der Küche. Jemand kattierte ihr Leben.

Katharina begann nachts Wasser an die Schwellen zu gießen. Ein alter Brauch aus westfälischen Dörfern, von dem man sagte, er halte Unheil ab. Sie legte ein Stück geweihte Kreide auf die Fensterbank, steckte zwischen die Seiten des Psalters ein Haar ihres Sohnes, als müsse das Buch selbst Wache halten. In der Küche hingen nun zwei Rosengrenze.

Der erste gehörte ihr, der zweite war jener, den Thomas am Tag vor seinem tot im Glockenturm getragen hatte. “Wenn Sie kommen,” sagte sie, “sollen sie über die Gebete stolpern. Doch Gebete allein reichten nicht mehr. Ein entlassener Schichtmeister, der beim Brand der Schankstube geholfen hatte, wurde auf dem Heimweg überfallen. Drei Männer, keine Zeugen.

Er überlebte, aber mit gebrochenen Rippen und einer warnenden Botschaft in seine Haut geschnitten. Ein kleines markelloses Kreuz. In jener Nacht fasste die Familie einen Entschluss, der so kalt war wie die Angst, die ihn gebar. Sie würden Härten verlassen, nicht nach Übersee, wie manche es taten, sondern innerhalb des Reiches in eine Landschaft, die Holz statt Kohle roch, Wasser statt Teer schmeckte und in der Namen schneller verwittern als im engmaschigen Netz der Zechen.

Sie wählten den Schwarzwald. Ein Onkel zweiten Grades, den man kaum kannte, schrieb aus einem Tal nahe Trieberg. Dort suche eine Sägerei verlässliche Hände. Die Löhne seien gering, doch der Wald biete Schutz und die Leute fragten weniger nach der Vergangenheit.

Der Gedanke, den Blick vom Grau der Halden in das tiefe Grün der Tannen zu tauschen, war verlockend wie eine Verheißung aus Kindertagen. Der Abschied war heimlich. Kurz vor Sonnenaufgang eines Maitages, als die Morgenglocke nicht mehr als ein Zittern in der Luft war, packten sie das Nötigste: Hemden, ein Bündelpapiere, Falkenbergskopien in Leinwand eingeschlagen, zwei Ikonen, die ein wandernder Maler einmal für ein Stück Brot hinterlassen hatte.

Meichel setzte die Mappe in eine leere Mehlkiste, bestreute sie, band sie mit Bast, als wäre sie ein unbedeutendes Paket. Vor der Tür blieb Katharina stehen und berührte die kalte Hauswand, als könne man Dank und Abschied zugleichen Ziegel einsenken. Der Weg zum Bahnhof war kurz und doch unendlich.

Aus Fenstern wehte Wäsche, ein Hund bälte, auf einem Hof klirte Eisen. Niemand hielt sie auf. Vielleicht sahen die Schatten an diesem Morgen in eine andere Richtung. Vielleicht gönnten sie ihrer Beute den Vorsprung der Jagd erst Lust verleih. Im Zug saß ihnen gegenüber eine alte Frau mit einem Körbchen Eier. Neben ihr ein Junge mit Sommersprossen, der eine Mundharmonika drehte, als sei sie eine Muschel.

Die Welt tat, was die Welt immer tut. Sie ging weiter, als sei nichts geschehen. Im Schwarzwald roch die Luft nach Harz und feuchtem Moos. Die Sägerei von Tannenbruck, so hieß das Dorf, das sich wie ein Keil zwischen Bach und Hang schob, war ein länglicher Bau mit einem Wasserrad, das schwer und stetig schlug.

Der Besitzer, ein schweigsamer Mann namens Josef Ganther, nickte, als Michel sich vorstellte. “Arbeit gibt es”, sagte er, “Und wer gut arbeitet, fragt wenig.” Die Schneiders bezogen eine Stube mit niedriger Decke, in der das Tageslicht sich grün anfühlte, gefiltert durch Tannenadeln. Die Nächte waren ruhiger als in Härten, doch die Stille trug eine andere Art Geräusch, das leise Kratzen der Angst an der Tür.

Michael trat in den Wald, maß Baumstämme, lernte Holz zu lesen wie ein Buch, Jahresringe als Zeilen, Harz als Tinte. Katharina nähte für die Frauen des Dorfes, kochte Suppe aus Pilzen und Gerste, stellte kleine Votiftafeln in der Kapelle zur Mutter Gottes auf, eine für jeden ihrer Söhne, lebend und tot.

Für einen Moment glaubten sie, der Fluch sei hinter den Hügeln des Ruhrgebiets geblieben. Doch Nachrichten reisen schneller als Menschen. In einer Stube über der Sägerei fanden sie eines Morgens ein zusammengefaltetes Blatt, ausgerissen aus einer Dortmunder Zeitung. Es berichtete von einem beda Vorfall im Bergamt, von der irrtümlichen Vernichtung gewisser Akten aus Sicherheitsgründen und von der bedauerlichen Selbstentleibung eines Arztes. Am Rand mit Bleistift stand ein einzelnes Wort: “Gfunden.

Niemand im Dorf schrieb so scharfkantig. Michael begann, die Abläufe der Sägerei zu verändern. Er hielt Listen, führte doppelte Kontrollen für die Wagen, prüfte Seile dreimal, bevor ein Stamm über die Rutsche ging. “Unfälle werden gemacht”, sagte er zu Ganta. “Und darum müssen wir sie zuerst machen, nämlich unmöglich.

” Der Alte seh ihn lange an, dann nickte er langsam. “Wer unter Tannen arbeitet, weiß, was ein Windstoß kann. Ich verstehe.” Doch die Vergangenheit hatte nicht nur Messer und Feuer, sie hatte auch Geduld. Eines Abends, als die Glocke von Tannenbruck die Stunde schlug, fand Michael in seiner Jackentasche einen Zettel, den er nicht dorthineckt hatte.

21 Jahre stand darauf in sauberer Schrift. 21 sind genug. Er begriff die Botschaft erst, als ihm kalt wurde an den Knöcheln, als stünde er wieder im Turm von St. Marien, neben dem Bruder, der nicht mehr atmete. Es ging nicht nur um ihn, sondern um jeden, der den Namen trug, heute, morgen, in einem anderen Tal.

Und doch war da auch etwas Neues, eine Kraft, die nicht aus Trotz bestand, sondern aus Verbündeten. Denn Tannenbruck war kein Ort der Zechen, sondern ein Ort der Säge und Holzleute hören anders zu. Ein Forstläufer, der im Krieg gedient hatte, bot sich an, Wache zu gehen. Der Pfarrer, ein sanfter Mann mit Humor, legte die Hostien jetzt auf die Zungen, als seien es kleine Schilde.

Die Kinder sangen beim Kirchgang lauter als zuvor, als wollten sie Geräusche machen, die Messer fernhalten. In dieser Mischung aus Furcht und aufgehobenem Atem begann sich etwas zu formen, das größer war als eine Familie, ein Kreis. Kein feierlicher Bund, keine Vereinigung mit Statuten, sondern eine verabredete Aufmerksamkeit, die wie ein unsichtbares Netz über Gassen und Waldränder gelegt wurde. Wer fremd war, fiel auf.

Wer fragte, bekam Antworten, die nicht weiterhelfen. Und wenn in der Nacht Schritte kamen, standen auf einmal zwei Männer im Türrahmen, wo zuvor keiner gewesen war. Die Schatten registrierten es und sie zogen eine andere Karte aus ihrem Spiel. Nicht das Messer in der Gasse, nicht das Feuer im Dach.

Etwas, das leiser war und länger wirkte. Das Sprechen über Ehre und Brot, die List der Armut, die an Türen klopft und tut, als sei sie Hilfe. Am nächsten Morgen erschien ein Mann mit sauberem Kragen in Tannenbruck. Er stellte sich als Vertreter einer Süddeutschen Gewerkschaft vor, die angeblich bessere Preise, sicherere Maschinen, nützliches Wissen anbot.

Er lächelte wie jemand, der Verträge bringt, die keinen Lärm machen, nur Spuren. Meichel bat ihn herein, stellte Wasser hin, hörte zu und stellte dann eine Frage, die den Mann eine Sekunde zu lange zögern ließ. Kennen Sie Dortmund? Die Antwort war ein zu großes Lächeln und Michael wußte, daß der Wald nicht enden ließ, was in den Gruben begonnen hatte.

Er schlooss die Tür langsam, als sei sie schwer, und sagte zu Katharina: “Wir werden nicht nur überleben müssen, wir werden beweisen müssen.” Im Schwarzwald schien die Zeit für die Schneiders zunächst langsamer zu fließen. Das Rauschen der Tannen, das gleichmäßige Klopfen des Wasserrades und das Knarren der Sägeböcke gaben dem Leben einen Rhythmus, der beruhigender war als das Dröhnen der Zeebiet.

Doch die Ruhe war trügerisch. wie eine Decke aus Moos, unter der sich Wurzeln ineinander verkrallen. Michael arbeitete als Vermesser für die Sägerei. Er lernte, wie man den Ertrag eines Stammes berechnete, bevor die Axt ihn fällte. Seine Hände wurden kräftig, seine Bewegungen sicher, doch sein Blick blieb wachsam.

Jede Woche schrieb er in ein Heft, dass er sorgfältig in Leinwand wickelte und in einer Nische hinter einem Balken verbarg. Dort notierte er Beobachtungen über Fremde, die ins Dorf kamen, über sonderbare Unfälle, über Nachrichten aus dem Ruhrgebiet, die ihn durch Umwege erreichten. Katharina lebte stiller. Sie hielt das Haus warm, pflegte kleine Gemüsebete zwischen den Steinen des Hangs und trug immer ein Tuch mit, in das sie Rosenkranz und eine Kerze gewickelt hatte.

Abends betete sie nicht nur für ihre toten Söhne, sondern auch für jene, deren Namen in Falkenbergs Tagebuch standen. Steiner, Brosini, Flennigen. Sie sollen nicht vergessen sein, flüsterte sie. Der jüngste Sohn Lukas fand gefallen am Dorfleben. Er half in der Schule, spielte mit den Kindern im Bach, lernte das Horn eines Jägers zu blasen.

Er war 15 Jahre alt, voller Lebensdrang und für Katharina lag darin zugleich Trost und Schrecken, denn sie wusste, dass der Schatten nicht nur den Ältesten suchte. Im Herbst des Jahres erreichte Michael eine Nachricht aus Essen. Die Gesellschaft war offiziell bankrott gegangen nach dem Tod Bentms und den Enthüllungen, die langsam durchgesickert waren.

Manche sahen darin das Ende der Gefahr, doch Mickel misstraute der Stille. “Ein Name kann verschwinden”, sagte er, “aber die Hände, die ihn geführt haben, suchen sich neue Handschuhe.” Sein Mißtrauen bewahrheitete sich. Eines Abends, als er von der Sägerei zurückkehrte, fand er vor der Tür seines Hauses ein kleines Paket.

Darin lag eine Taschenuhr, alt und schwer, deren Zeiger auf 21 Minuten nach 12 Uhr feststanden. Auf der Innenseite war ein Wort eingraviert: Restschuld. Michael trug die Uhr zum Pfarrer. Dieser schwieg lange, dann legte er sie auf den Altar und bedeckte sie mit einem Tuch. “Manche Dinge darf man nicht in die Häuser lassen”, sagte er. Doch die Botschaft war klar.

Auch fern der Zeichten die Fäden. Im Januar des Jahres 1876 nahm das Schicksal eine Wendung, die Hoffnung brachte. Michael lernte in der Kapelle eine junge Frau kennen. Anna Ganta, die Tochter des Sägereibesitzers. Sie war klug, hatte lesen und Schreiben von einem wandernden Lehrer gelernt und sie sprach mit einer Ruhe, die ihn an den Wald erinnerte. Die beiden heirateten im Sommer desselben Jahres. Das ganze Dorf feierte.

Musikanten spielten auf Fiedeln, Kinder trugen Blumen und die Kapelle war mit Tannenzweigen geschmückt. Für kurze Zeit schien der Fluch gebrochen. Michael und Anna bekamen Kinder, zwei Mädchen und im Jahr 1879 einen Sohn. Sie nannten ihn Matthias, zur Erinnerung an den ältesten Bruder, der im Schacht gestorben war. Doch das Glück war fragil. Schon im 16.

Lebensjahr begann der junge Matthias unruhige Träume zu haben. Er sprach im Schlaf von Gruben, die er nie gesehen hatte und von Männern in Mänteln, die mit Uhren in der Hand vor ihm standen. Michael erschrag zutiefst. Er schwor sich nicht denselben Fehler wie sein Vater zu machen.

Er würde die Wahrheit nicht verschweigen. Also begann er den Sohn einzuweihen. Stück für Stück vorsichtig, doch ohne Lügen. Man wird dich prüfen sagte er ihm, aber du bist nicht allein. Diesmal sind wir viele. Währenddessen begann sich in Tannenbruck eine kleine Bewegung zu formieren.

 

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