
Es ist der 12. März 1938. Deutsche Truppen überqueren die Grenze zu Österreich und besetzen das Land, ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Anstatt mit bewaffnetem Widerstand werden sie mit Jubelrufen und Blumen begrüßt. Während tausende Österreicher Adolf Hitler bei seinen Besuchen erst in Linz und dann in Wien begrüßen, fliehen verängstigte Juden, Linke und andere Oppositionelle des NS-Regimes in Richtung der Landesgrenzen in der Hoffnung, diese zu erreichen, bevor sie geschlossen würden. Aber die meisten waren gefangen in einem sich rasch nazifizierenden Österreich.
In den kommenden Wochen verbreitet sich pogromartige Gewalt im ganzen Land. Österreichische Nazis und andere greifen Juden an, verprügeln und demütigen sie. Sie zwingen sie, die Straßen zu schrubben, öffentliche Toiletten zu reinigen und erniedrigende Übungen durchzuführen. Im August 1940 ernennt Hitler Baldur von Schirach als neuen Reichsgouverneur und NS-Gauleiter in Wien. Zusammen mit seiner Frau wird er öffentliche Gelder und jüdisches Eigentum stehlen. Seine Frau heißt Henriette von Schirach.
Henriette von Schirach wurde am 2. Februar 1913 in München, damals Teil des Deutschen Reichs, geboren. Ihr Vater Heinrich Hoffmann war Fotograf und ihre Mutter Therese Baumann war ehemalige Sängerin und Schauspielerin, die 1928 unerwartet und plötzlich verstarb, als Henriette nur 15 Jahre alt war. 1919 traf Henriettes Vater Adolf Hitler und im April des folgenden Jahres trat er der NSDAP bei. 1921 übernahm Hitler die Kontrolle über die NSDAP und zwei Jahre später ernannte er Hoffmann zu seinem offiziellen Fotografen. Keinem anderen als Hoffmann war es gestattet, Bilder von ihm zu machen.
Hoffmann versuchte Hitler als Inbegriff des deutschen Volkes zu porträtieren, was sich als schwierig gestaltete, da der zukünftige Führer mit dem beschriebenen Ideal der nordischen Rasse keinerlei Ähnlichkeit hatte. Deshalb versuchte Hoffmann, Hitler im besten Licht zu fotografieren und den Fokus auf seine Augen zu setzen, die viele als verträumt und hypnotisierend wahrnahmen. Als Henriette 9 Jahre alt war, traf sie Hitler das erste Mal, der häufig in das Münchner Haus der Hoffmanns zum Abendessen kam. Hitler soll einen Annäherungsversuch gewagt haben, als sie gerade 17 war. Sie erinnerte sich später:
„Ich war gerade 17 und er war über 40. Auf einmal fragte er mich mit ernster Stimme: Würdest du mich küssen?“
Ich sagte:
„Nein.“
Er drehte sich um, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Als mein Vater zurück nach Hause kam, erzählte ich ihm davon. Er lachte mich aus und sagte:
„Du dumme Gans, das hast du dir eingebildet.“
Als der persönliche Fotograf Hitlers nahm Henriettes Vater Heinrich Millionen mit dem Verkauf von Hitlers Bildern ein. Seine Fotografien von Hitler wurden auf Briefmarken, Postkarten, Postern und in Bilderbüchern abgedruckt. Auf ihrem Höhepunkt 1943 hatte Hoffmanns Firma 300 Angestellte und einen Umsatz von 58 Millionen Reichsmark, das entspricht fast 550 Millionen US-Dollar heute.
1930 arbeitete Henriette Hoffmann neben ihrem Studium an der Universität München als Hitlers Sekretärin. Sie lernte mächtige Leute der NSDAP und Hitlers Nichte Geli Raubal kennen, die 1931 Selbstmord beging, sowie die ehemalige Praktikantin ihres Vaters Eva Braun, die später Hitlers Ehefrau wurde und sich ebenfalls das Leben nahm. 1931 lernte Henriette Baldur von Schirach kennen, den Anführer des nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes und den Jüngsten in Hitlers Entourage. Das Paar heiratete am 31. März 1932 in München mit Adolf Hitler und Ernst Röhm, dem Anführer der SA, als Trauzeugen. Der Empfang fand in Hitlers Privatwohnung statt und Henriettes wohlhabender Vater bezahlte ihnen eine luxuriöse Wohnung in München. Zwischen 1933 und 1942 gebar Henriette vier Kinder: Angelika, Benedikta, Klaus, Robert und Richard.
Nach ihrer Hochzeit wurde Henriette von Schirach Mitglied in der NSDAP, besetzte aber keine Position im Parteiapparat. Baldur von Schirach brachte zusammen mit seinem Schwiegervater mehrere Propagandabücher heraus, die sich hunderttausendfach verkauften und Schirach und Hoffmann erhebliche Tantiemen einbrachten. Adolf Hitler und die NSDAP kamen im Januar 1933 an die Macht. Am 17. Juni desselben Jahres wurde Baldur von Schirach zum Jugendführer des Deutschen Reiches ernannt und trug die Verantwortung für alle Jugendorganisationen im Land. Gemeinsam mit Hitler trat er regelmäßig bei Parteikundgebungen auf, um die Hitlerjugend zu begeistern und mitzureißen. Die größte Versammlung fand jährlich in Nürnberg statt, wo sich Mitglieder der Hitlerjugend aus ganz Deutschland zum jährlichen Reichsparteitag zusammenfanden.
Da die Hitlerjugend und ihre Frauenorganisation, der Bund Deutscher Mädel, von den Nazifunktionären als rein arische Organisationen angesehen wurden, wurde vorehelicher Sex in ihren Reihen gefördert. Beim Nürnberger Reichsparteitag von 1936, bei dem etwa 100.000 Mitglieder der Jugendorganisationen anwesend waren, kamen 900 Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren schwanger nach Hause zurück. Beide Organisationen, die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel, wurden von Baldur von Schirach geleitet und wurden zu den wichtigsten Instrumenten, mit denen die Nazis junge Menschen mit ihrer Ideologie indoktrinierten und so den Glauben, das Denken und die Handlungen der deutschen Jugend prägten. Henriette identifizierte sich mit den Zielen ihres Ehemanns und der NSDAP.
Im März 1936 kauften die Schirachs Schloss Aspenstein in Kochel am See und begannen kurz darauf, das Anwesen zu renovieren. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939, als Nazideutschland Polen überfiel. Am 8. August 1940 wurde Baldur von Schirach Reichsgouverneur und NS-Gauleiter in Wien, Österreich. In seiner Position als Wiener Reichsstatthalter, die er bis Kriegsende 1945 innehatte, war Schirach für die Deportation der Wiener Juden verantwortlich, die er in einer Rede vom 14. September 1942 wie folgt beschrieb:
„Wenn Sie mir vorwerfen wollen, dass ich zehntausende Juden aus dieser Stadt in Ghettos im Osten deportiere, muss ich antworten: Ich sehe es als meinen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur an.“
Während Schirachs Amtszeit wurden 65.000 Juden aus Konzentrationslagern deportiert. Schirach zog gemeinsam mit seiner Familie nach Wien und Henriette war sehr erfreut über den Umzug. Die Schirachs lebten weiterhin sehr luxuriös und hatten keine Skrupel davor, öffentliche Gelder oder das Eigentum von Juden zu stehlen. Ihr Haus war ausgestattet mit Möbeln, Kunst, Teppichen und Wandteppichen aus jüdischem Eigentum. Auch das Haus, in dem sie lebten, hatte Juden gehört, die aus dem Land geflohen waren. Ein gestohlenes Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren hatte Schirach mit einer Sondererlaubnis von Hitler für 30.000 Reichsmark gekauft. Ein weiteres Gemälde von Peter Brueghel dem Jüngeren wurde Juden gestohlen, die in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurden, wo sie starben. Schirach kaufte es für 24.000 Reichsmark, erneut mit der Erlaubnis von Hitler. Alles in allem kauften die Schirachs Gemälde für Hunderttausende Reichsmark und verkauften die meisten von ihnen mit Gewinn.
1943 wurde Henriette von Schirach von Freunden, die für die deutsche Besatzungsmacht arbeiteten, in die besetzten Niederlande eingeladen. Sie behauptete später:
„Ich hörte mitten in der Nacht Schreie vor dem Hotel, also ging ich hinaus, um zu schauen, was los war. Ich sah jüdische Frauen und Kinder, die in Transporte verfrachtet wurden, um deportiert zu werden. Ich fragte einen deutschen Soldaten, was vor sich ging und er antwortete: Was Hitler in Holland tut, ist falsch. Wir haben die freundlichen Niederländer zu erbittertsten Feinden gemacht, was ein großer Fehler war. Bitte sagen sie ihm das, wenn Sie das nächste Mal den Berghof besuchen.“
Und das tat sie. Henriette brach ihren Besuch in den Niederlanden ab und rief im Berghof an, Hitlers Landsitz auf dem Obersalzberg in den bayerischen Bergen, um einen Termin mit Hitler zu vereinbaren. Jahre später erzählte Henriette, was passiert war:
„Ich erzählte ihm also, was ich gesehen hatte.“
Hitler antwortete:
„Du bist sentimental.“
Er stand auf, ich stand ebenfalls auf und sagte:
„Herr Hitler, sie sollten das nicht tun.“
Ich dachte mir, ich könnte mir das erlauben, weil ich ihn so lange gekannt hatte. Ich habe ihn zutiefst verletzt, noch dazu vor anderen Männern, die anwesend waren. Dann sagte Hitler:
„Du bist sentimental! Was gehen dich die Jüdinnen von Holland an? Das ist nichts als Gefühlsduselei, humanitärer Unsinn! Jeden Tag sterben 10.000 meiner besten Soldaten auf dem Schlachtfeld und die anderen leben in den Lagern weiter. Das bedeutet, dass das biologische Gleichgewicht in Europa nicht mehr stimmt.“
Henriette drehte sich weg, ließ ihn schreien und lief die Treppe hinunter, die den großen Saal vom Flur trennte. Henriette und ihr Ehemann Baldur wurden nie wieder eingeladen. Nach diesem Zwischenfall schrieb Propagandaminister Josef Goebbels 1943 in sein Tagebuch, dass die Schirachs plötzlich ihr Mitgefühl entdeckt hatten, nachdem fast 60.000 Juden quasi vor ihrer Türschwelle deportiert worden waren.
Am 16. Juli 1944 verbrannte Schirachs Mutter Emma bei lebendigem Leib, nachdem ein Flugzeug in ihr Haus gestürzt war und sie versucht hatte, ihren Hund zu retten. Danach wurde Schirach ständig besorgt über die alliierten Luftangriffe und schickte ihre Kinder nach Schloss Aspenstein, gefolgt von Henriette im Spätherbst 1944. Ihre Kunstsammlung wurde gesondert transportiert. Am 2. April 1945 wurde Wien von der Roten Armee angegriffen, die sich bis zum 9. April dem Stadtzentrum immer weiter näherte. An diesem Tag sendete Schirach einen letzten Aufruf an die Bevölkerung, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Baldur selbst kämpfte jedoch nicht, sondern verließ sein Hauptquartier und floh dann mit der 6. Panzerarmee nach Westen in Richtung Tirol, wo er am 2. Mai seine Uniform ablegte und unter dem Namen Richard Falk in der österreichischen Stadt Schwaz in den Untergrund ging.
Am 5. Juni gab von Schirach, der offiziell als tot galt, unerwartet seine Identität preis und ergab sich dem amerikanischen Stadtkommandanten. Er wurde von der 103. Spionageabwehr verhaftet. Schirach wurde dann bei den Nürnberger Prozessen angeklagt, die gegen die Vertreter des besiegten NS-Regimes abgehalten wurden. Beim Prozess war Baldur von Schirach einer der wenigen Angeklagten, der Hitler denunzierte. Er wurde zu 20 Jahren Haft im Spandauer Gefängnis in Berlin verurteilt.
Das Leben voller Luxus und Privilegien war aber auch für Henriette und ihre Kinder vorbei. Schloss Aspenstein wurde 1946 beschlagnahmt und ihren Memoiren zufolge wurde Henriette von Schirach für mehr als ein Jahr von der US-Armee inhaftiert. Ihre tägliche Aufgabe soll es gewesen sein, die Toiletten zu reinigen. Zum Putzen sollen ihr Fahnen der Hitlerjugend gegeben worden sein. Sie erinnert sich, von den weißen US-Soldaten misshandelt und verachtet worden zu sein, nur die schwarzen Soldaten verhielten sich ihr gegenüber anständig. Ihr Vater Heinrich Hoffmann wurde ebenfalls verhaftet und kam ins Gefängnis, so waren die Kinder der von Schirachs plötzlich ohne Eltern oder Großeltern, die sich um sie kümmern könnten. Eine Zeit lang wurden sie von Bauernfamilien im südlichen Bayern aufgenommen und besuchten dort die Schule.
Im Juli 1949 reichte Henriette von Schirach die Scheidung ein, während ihr Ehemann noch inhaftiert war. Die Scheidung wurde im Jahr darauf vollzogen und sie schickte Baldur einen vernichtenden letzten Brief, in dem sie schrieb:
„Hast du jemals, anstatt in deiner Zelle zu sitzen und Philosophie, Latein und Französisch zu studieren, Gedichte zu schreiben und darüber nachzudenken, wie du deine Rolle in der Geschichte, wie du es nennst, wieder geradebiegen kannst, jemals der Realität in die Augen gesehen und dich gefragt, wo die nächste Mahlzeit für deine Frau und deine Kinder herkommt?“
Nichtsdestotrotz reiste sie 1958 nach London, um sich für eine Verminderung seiner Haftstrafe einzusetzen. Sie beschrieb ihren Ex-Mann als in keiner Weise kriminell, sondern Idealist und viel zu gut für die Politik. Ihre Reise war allerdings nicht erfolgreich und Baldur von Schirach wurde am 30. September 1966 aus der Haft entlassen, nachdem er seine vollständige Strafe abgesessen hatte. Er war auf einem Auge blind und litt an den Folgen einer Thrombose.
In der Zwischenzeit hatte Henriette entschieden, sich ihr altes Leben voller Geld und Privilegien zurückzuholen. 1955 kaufte sie ihr altes Haus, Schloss Aspenstein, zurück und verkaufte es nach 10 Monaten wieder für das Doppelte des Kaufpreises. Die Kunstsammlung ihres Vaters zurückzuerlangen, war ihr nächster Schritt. Während des Krieges waren zahllose Kunstwerke, die verfolgten Juden geraubt wurden, durch die Hände ihres Vaters gegangen. Nach dem Krieg war er verhaftet worden und von den alliierten Ermittlern für Kunstraub als Haupttäter im NS-Kunstraub eingestuft, sowohl als Kunsthändler als auch als Sammler. Er wurde als einer der gierigsten Parasiten der Hitlerplage bezeichnet und seine Kunstsammlung, die viele von Juden geraubte Kunstwerke enthielt, wurde von den Alliierten beschlagnahmt. Hoffmann, dessen Sammlung 278 Werke umfasste, starb 1977 im Alter von 72 Jahren.
Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg übergaben die amerikanischen Behörden dem bayerischen Staat mehr als 10.000 konfiszierte Kunstwerke, damit sie den ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben werden könnten. Viele von ihnen Juden, deren Eigentum geplündert wurde. Darunter waren auch die 287 Kunstwerke, die man von Heinrich Hoffmann beschlagnahmt hatte. Henriette von Schirach und ihre Familie forderten bei Beamten der bayerischen Gemäldesammlung diese Kunstwerke zurück, darunter eine kleine Landschaftsmalerei mit dem Titel „Blick auf einen holländischen Platz“ von einem niederländischen Künstler namens Jan van der Heyden, der als der führende Architekturmaler des Goldenen Zeitalters der Niederlande gilt.
Vor dem Krieg hatte das Gemälde Gottlieb und Mathilde Kraus gehört, Juden, die aus ihrer Wiener Wohnung geflohen waren und ihre Kunstsammlung sorgfältig verpackt zurückgelassen hatten. 1941 wurde sie von der Gestapo beschlagnahmt. Henriette von Schirach überzeugte die Bayern, die keine Anstalten gemacht hatten, das Gemälde der Familie Kraus zurückzugeben, es für einen Symbolpreis von 300 Deutsche Mark zu überlassen. Ein Jahr später verkaufte Henriette es bei einer Auktion für 16.100 Deutsche Mark, das Fünfzigfache von dem, was sie dafür bezahlt hatte. Letzten Endes schaffte sie es, 118 Objekte aus der Sammlung ihres Vaters zurückzubekommen, indem sie Verkaufsbelege für diese vorlegte. 92 davon wurden ihr einfach zurückgegeben, 26 kaufte sie zurück. Viele verkaufte sie später weiter, in manchen Fällen mit gigantischen Gewinnspannen. Statt die Kunstwerke an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben, wurden sie den Familien von NS-Kriegsverbrechern wie den von Schirachs zurückgegeben.
Nachdem sie sich von Baldur von Schirach hatte scheiden lassen, heiratete Henriette erneut und ließ sich ein weiteres Mal scheiden. Sie schrieb drei Bücher: „Der Preis der Herrlichkeit“ (1956), „Anekdoten um Hitler“ (1980) und „Frauen um Hitler“ (1983). Als sie am 18. Januar 1992 starb, war sie 78 Jahre alt. Am Ende ihres Lebens beschrieb Henriette Hitler als einen gemütlichen Österreicher, der sich und andere ein bisschen glücklicher machen wollte. Eine interessante Meinung über einen Diktator, der bis in alle Ewigkeit für die Inszenierung und Umsetzung eines der schlimmsten Verbrechen der Geschichte in Erinnerung bleiben wird.