Es ist der Mai 1945. In Berlin schweigen die Waffen. Das Dritte Reich hat kapituliert. Doch an der Ostseeküste in den Wäldern und Sympfen Kurlands kämpfen immer noch 200.000 Deutsche Soldaten. Sie sind vergessen, abgeschnitten, verloren. Dies ist ihre Geschichte, die Geschichte des Kurland Kessels, eines der letzten und gleichzeitig sinnlosesten Kapitel des Zweiten Weltkriegs.

Um zu verstehen, wie 200.000 Deutsche Soldaten in dieser ausweglosen Lage landeten, müssen wir ins Jahr 1944 zurückgehen. Die Ostfront bricht zusammen. Nach der verherenden Niederlage bei der Operation Bagration im Sommer verliert die Wehrmacht binnen weniger Wochen das gesamte besetzte Weißrussland. Die rote Armee rollt unaufhaltsam nach Westen.
Im Oktober 1944 erreichen sowjetische Truppen die Ostsee bei Memel, dem heutigen Kleipeder. Mit diesem Durchbruch wird die gesamte Heeresgruppe Nord von den übrigen deutschen Truppen abgeschnitten. Über 25 Divisionen, mehr als 2000 Mann sitzen plötzlich in der Falle eingekesselt auf der Halbinsel Kurland im heutigen Lettland.
Die militärische Lage ist eindeutig. Jeder vernünftige Befehlshaber würde eine Evakuierung über die Ostsee anordnen. Die Kriegsmarine verfügt noch über ausreichend Schiffe. Eine geordnete Rückführung der Truppen wäre möglich. Diese Soldaten, diese Divisionen könnten an anderen Frontachnitten dringend gebraucht werden.
Zur Verteidigung Ostpreußens, Pomms oder sogar der Reichshauptstadt selbst. Doch Adolf Hitler denkt anders. Für ihn ist jeder Rückzug eine Niederlage, jeder aufgegebene Quadratkilometer ein persönlicher Afron. Er befiehlt, die Heresgruppe Nord, bald unbenannt in Heresgruppe Kurland, soll halten um jeden Preis bis zum letzten Mann, bis zum letzten Schuss.
Der Oberbefehlshaber der Heresgruppe, Generaloberst Ferdinand Schörner, ist genau der richtige Mann für solch einen Befehl. Scherner ist berüchtigt für seine Härte, seine Rücksichtslosigkeit, seine bedingungslose Treue zum Führer. Er läst Deserteure ohne Verhandlung aufhängen, ihre Leichen zur Abschreckung am Straßenrand baumeln.
Unter seiner Führung wird Kurland zu einem Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein junger deutscher Soldat im Herbst 1944. Vor wenigen Wochen noch kämpften sie in Estland oder Lettland. Jetzt sind sie eingekesselt auf einer Halbinsel, von der Ostsee auf der einen und einer erdrückenden Übermacht auf der anderen Seite umgeben.
Das Gebiet, das die Heresgruppe Kurland hält, ist etwa 120 km breit und bis zu 200 km tief. Es ist eine Landschaft aus dichten Wäldern, mohigen Sympfen und kleinen Dörfern. Im Sommer ist sie schwer passierbar, im Winter wird sie zur eisigen Hölle. Die sowjetische Führung will den Kessel vernichten. Zwischen Oktober 1944 und März 1945 starten sie sechs große Offensiven, die sogenannten Kurlandschlachten.
Jedes Mal werfen sie hunderttausende Soldaten, tausende Panzer und unzählige Geschütze in den Kampf. Jedesmal prallen sie am verzweifelten Widerstand der Deutschen ab. Diese deutschen Verteidiger sind keine gewöhnlichen Truppen mehr. Viele von ihnen sind Veteranen mit Jahren Fronterfahrung. Sie kennen jeden Trick, jede Taktik des Überlebens.
Sie graben sich in den gefrorenen Boden ein, bauen ausgeklügelte Stellungssysteme, nutzen jeden Baum, jeden Graben als Deckung. Die Kämpfe sind von unbeschreiblicher Brutalität. Sowjetische Panzerkeile brechen in die deutschen Linien ein, werden in verzweifelten Nahkämpfen gestoppt. Dörfer wechseln mehrfach den Besitzer.
Artillerie hämmert tag und Nacht auf die Stellungen. Im Winter kämpfen die Soldaten nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen Temperaturen von -30° und tiefer. Und trotzdem halten sie Schlacht um Schlacht, Woche um Woche, Monat um Monat. Ein eingekesselter Verband ist nur so stark wie seine Versorgung. Und hier offenbart sich das ganze Paradox des Kurlandkessels.
Anders als in Stalingrad, wo die eingeschlossene sechste Armee verhungerte und erfror, funktioniert die Versorgung in Kurland erstaunlich gut, zumindest anfangs. Die Luftwaffe fliegt täglich Nachschub ein. Vor allem aber kontrolliert die Kriegsmarine noch die Ostsee. Schiffe bringen Munition, Treibstoff, Verpflegung und manchmal sogar Ersatztruppen in die Häfen von Libau und Windu.
Für die Soldaten im Kessel ist diese Versorgung Fluch und Segen zugleich. Einerseits bedeutet sie überleben, andererseits nährt sie eine trügerische Hoffnung. Wenn wir versorgt werden, wenn Nachschub kommt, dann sind wir nicht vergessen. Dann hat unser Kampf einen Sinn. Dann wird man uns irgendwann rausholen.
Doch die Realität sieht anders aus. Mit jedem Monat, der vergeht, wird die deutsche Lage hoffnungsloser. Im Reich selbst tobt der Bombenkrieg. Die Westfront bricht zusammen. Die rote Armee nähert sich Berlin und die 200.000 Mann in Kurland werden dringend woanders gebraucht. Es gibt Pläne zur Evakuierung immer wieder. Der Marineoberbefehlshaber Großadmiral Karl Dönitz drängt darauf.
Selbst einige Generäle der Wehrmacht sehen die Sinnlosigkeit des Ausharrens. Doch Hitler bleibt stur. Kurand muss gehalten werden. Warum? Die Gründe sind so bizarr wie bezeichnend für die Endphase des Dritten Reichs. Erstens, Hitler glaubt, Kurland binde große sowjetische Kräfte. Das stimmt auch, aber die rote Armee hat genug Reserven.
Die deutschen Divisionen in Kurland fehlen hingegen überall. Zweitens, der Führer träumt von einer Wunderwaffe, einem letzten großen Sieg, der das Blatt noch wenden könnte. Kurland soll ein Brückenkopf für eine spätere Offensive sein. Eine Warnvorstellung, die keinerlei Realitätsbezug mehr hat. Drittens, Prestige.
Hitler kann den Gedanken nicht ertragen, noch mehr Territorium aufzugeben. Jeder gehaltene Zipfel ist in seiner verdrehten Logik ein Erfolg. Der Winter 1944 auf 1945 ist brutal. Die Soldaten in Kurlandhausen in Erdlöchern und provisorischen Bunkern. Erfrierungen sind an der Tagesordnung. Die sowjetischen Angriffe werden immer heftiger.
Im März 1945 startet die rote Armee ihre letzte große Offensive gegen den Kessel, die sechste Kurlandschlacht. Wieder werfen sie gewaltige Kräfte in den Kampf, wieder halten die Deutschen. Aber die Verluste sind schrecklich. Tausende sterben für jeden Meter Boden. Dann im April 1945 beginnt die Endphase des Krieges.
Die rote Armee erobert Wien. Die Westalliierten überqueren Rein. Berlin wird eingekesselt. Das Dritte Reich bricht endgültig zusammen. In Kurland herrscht eine surreale Atmosphäre. Die Soldaten hören im Radio von den Katastrophen im Reich. Sie wissen, daß der Krieg verloren ist und doch kämpfen sie weiter.
Was bleibt Ihnen auch anderes übrig? Desertion bedeutet den sicheren Tod durch die eigenen Feldarmen oder Gefangenschaft bei den Sowjets, was für viele als noch schlimmer gilt. Am 30. April 1945 begeht Adolf Hitler in seinem Bunker in Berlin Selbstmord. Am 8. Mai kapituliert das Deutsche Reich bedingungslos. Überall schweigen die Waffen, überall außer in Kurland.
Die Nachricht von der Kapitulation erreicht die Heresgruppe Kurland verspätet und widersprüchlich. General Oberstörner, der fanatische Kommandeur ist bereits geflohen, ausgeflogen in einem der letzten Flugzeuge, während seine Soldaten ihrem Schicksal überlassen werden. Das Kommando übernimmt General Carl Hilbert. Er steht vor einer unmöglichen Aufgabe.
2000.000 Mann müssen kapitulieren, sich ergeben, in eine ungewisse Zukunft gehen. Am 9. Mai 1945, einen Tag nach der offiziellen Kapitulation, wird auch in Kurland das Feuer eingestellt. Die Soldaten verlassen ihre Stellungen, legen ihre Waffen nieder. Viele weinen, einige verbrennen noch schnell kompromettierende Dokumente, andere starren einfach nur ins Leere.
Die sowjetischen Truppen rücken vor. Was nun folgt, ist eines der dunkelsten Kapitel dieser ohnehin schon dunklen Geschichte. Die deutschen Soldaten werden entwaffnet und in Sammellager getrieben. Die Bedingungen sind entsetzlich. Es gibt kaum Nahrung, keine medizinische Versorgung, keinen Schutz vor der Witterung.
Tyfus und Ruhe breiten sich aus. Täglich sterben Hunderte an Krankheit, Erschöpfung, Misshandlung. Dann beginnen die Deportationen. In endlosen Kolonnen werden die Gefangenen nach Osten getrieben. Wer zusammenbricht, wird erschossen oder liegen gelassen. Die meisten landen in den Arbeitslagern des Gulsystems in Sibirien, im Ural, in Kasachstan.
Von den 200.000 Soldaten, die in Kurland kapitulierten, werden etwa 35000 nie nach Hause zurückkehren. Sie sterben in Gefangenschaft. verschart in namenlosen Gräbern irgendwo in der sowjetischen Weite. Die Überlebenden verbringen Jahre in Gefangenschaft. Die meisten kommen erst zwischen 1948 und 1950 frei.
Einige, die als Kriegsverbrecher gelten oder einfach Pech haben, bleiben bis Mitte der 50er Jahre in sowjetischen Lagern. Wenn sie endlich heimkehren, finden sie ein zerstörtes Land vor. Deutschland ist geteilt, die Städte liegen in Trümmern. Viele ihrer Familien wissen nicht einmal, ob sie noch leben. Die Heimat, für die sie angeblich kämpften, existiert nicht mehr.
Und ihre Geschichte, sie wird schnell vergessen. In der Bundesrepublik will man nicht mehr an den Krieg erinnert werden. Man will nach vorne schauen, aufbauen, vergessen. Die Soldaten von Kurland passen nicht ins Bild. Sie sind keine Helden. Sie sind auch keine offensichtlichen Täter. Sie sind einfach nur die letzten Opfer eines wahnsinnigen Krieges.
In der DDR ist die Erinnerung noch komplizierter. Hier sind die ehemaligen Wehrmachtsoldaten suspekt, potentielle Faschisten. Viele schweigen lieber über ihre Vergangenheit. Erst Jahrzehnte später, als die Generation der Zeitzeugen langsam verschwindet, beginnen Historiker sich ernsthaft mit dem Kurlandkessel zu beschäftigen. Sie finden unglaubliche Geschichten von Überleben und Leid, von Pflichtgefühl und Wahnsinn, von vergessenen Männern in einem vergessenen Kessel.

Heute Jahre später stehen wir vor den Ruinen dieses Kapitels der Geschichte und fragen uns: “Warum, warum mussten Soldaten monatelang in einem aussichtslosen Kessel ausharren? Warum wurden sie nicht evakuiert, als noch Zeit war? Warum kämpften sie bis zum bitteren Ende für ein Regime, das sie im Stich ließ? Die militärische Sinnlosigkeit ist offensichtlich.
Die Heresgruppe Kurland band zwar sowjetische Kräfte, aber bei weitem nicht genug, um die strategische Lage zu ändern. Die 200 deutschen Soldaten hätten an anderen Fronen vielleicht einige Wochen Unterschied gemacht, aber sie hätten den Untergang des Dritten Reichs nicht aufhalten können. Die menschlichen Kosten waren enorm.
Zehntausende starben in den sechs Kurlandschlachten, weitere zehntausende in der Gefangenschaft. Für was? für ein paar Quadratkilometer lättischen Bodens, die niemandem mehr etwas nützten. Doch die Geschichte des Kurland Kessels erzählt uns mehr als nur von militärischem Wahnsinn. Sie zeigt uns die Mechanismen eines totalitären Systems in seiner Endphase.
Sie zeigt, wie Ideologie die Realität verdrängt, wie Fanatismus über Vernunft siegt, wie Menschen zu Spielfiguren in einem irrsinnigen Spiel werden. Die Soldaten in Kurland waren gefangen, nicht nur geographisch, sondern auch mental. Sie waren gefangen in einem System aus Befehl und Gehorsam, aus Propaganda und Furcht.
Viele glaubten tatsächlich bis zuletzt, ihr Ausharren hätte einen Sinn. Andere durchschauten die Lügen, kämpften aber weiter, weil sie keine Alternative sahen. Wer sich weigerte, wurde als Deserteur erschossen. Wer kapitulierte, fürchtete sowjetische Rache. Heute erinnern nur noch wenige Denkmäl an den Kurlandkessel.
In Lettland finden sich vereinzelt deutsche Soldatenfriedhöfe, gepflegt von Kriegsgräberfürsorgern. In deutschen Archiven verstauben Akten und Erlebnisberichte. Die letzten Zeitzeugen sind längst verstorben, doch die Geschichte verdient es erzählt zu werden. Nicht um Helden zu glorifizieren oder Opfer zu verklären, sondern als Mahnung, als Erinnerung daran, wohin Fanatismus führt, daran, wie ein verbrecherisches Regime auch am Ende noch Menschenleben verschwendet, für völlig sinnlose Ziele. Die 200.
000 Soldaten des Kurland Kessels waren keine strahlenden Helden. Viele von ihnen waren verstrickt in die Verbrechen der Wehrmacht im Osten. Aber sie waren auch Menschen, Söhne, Väter, Brüder, die in eine unmögliche Situation gebracht wurden und dort bis zum bitteren Ende ausharren mussten. Ihre Geschichte ist eine Geschichte von Pflicht und Wahnsinn, von Überleben und Tod, von Vergessen und Erinnerung.
Es ist die Geschichte der letzten großen Schlacht eines schrecklichen Krieges. Die Geschichte von zwei Männern, die das Dritte Reich vergaß bis zum letzten Schuss. Der Kurlandkessel 1944 bis 1945 bleibt ein mahnes Beispiel dafür, wie Krieg und Ideologie Menschen zu opfern machen. 200.000 Soldaten gefangen zwischen Pflicht und Wahnsinn, zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Ihre Geschichte darf nicht vergessen