(Hannover, 1848) Gutsherr zwang 7 Zwangsarbeiter seine Ehefrau zu schwängern

In Deutschland erzählt man selten von den Geschichten, die sich nicht in den großen Städten, sondern in den abgelegenen Regionen zwischen Moor, Wald und alten Gutshöfen abspielten. Doch manche Ereignisse, so tief verborgen sie auch gewesen sein mögen, hinterlassen Spuren. Wie kalter Rauch, der nicht verfliegt. Bevor wir beginnen, stelle dir nur eine Frage.


Aus welcher Region würdest du diesen Bericht hören und zu welcher Stunde? Denn manche Geschichten entfalten ihre Schwere nur im Dunkel, wenn die Dielen alter Häuser knarren und der Wind durch die Baumkronen fährt wie ein ferner Atemzug. Drei Nächte lang, im März des Jahres 1848 hörten die Knechte des Deutschen Gutshofes St.
Augustin Schreie aus einem kleinen steinernen Nebengebäude auf der Rückseite des Besitzes. Nicht schreie körperlicher Qual, wie sie mancher Landarbeiter von der schweren Feldarbeit kannte, sondern etwas Tieferes. Schreie, die Seele zerreißen, bevor sie überhaupt den Körper erreichen. Was als verzweifelter Versuch eines Gutsbesitzers begann, seine Familienlinie zu retten, sollte eine der angesehensten Familien Norddeutschlands zerstören und eine Wunde hinterlassen, die niemals heilen würde.
Denn gut Herr Ernst von der Zerne tat etwas, das selbst in den dunkelsten Momenten der sozialen Unruhen des 18. Jahrhunderts undenkbar erschien. Er schloss ein Abkommen, eines, dass das Schicksal seines Hauses für immer verdunkelte. Der historische Hintergrund war düster. Deutschland befand sich im Jahr 1848 in einem Sturm politischer Unruhen, den man später die Märzrevolution nennen sollte.
Bauern, Arbeiter und Bürger forderten Rechte, die jahrhundertelang verweigert worden waren. Während die Städte brodelten, blieben die ländlichen Regionen Europas oft von einer anderen Art von Gewalt geprägt. Machtbrauch, der im Schatten der großen Ereignisse unbemerkt blieb. Der Gutshof St. Augustin lag in der Nähe eines kleinen Dorfes im nördlichen Niedersachsen.
Dort, wo das Heidekraut im Sommer violett blühte und im Winter dichter Nebel über die Felder kroch. Das Anwesen erstreckte sich über mehr als 2000 Hektar sandiger Heideböden, durch die sich endlose Reihen widerstandsfähiger Roggenfelder zogen, deren Halme sich unter dem Nordwind wie graugrüne Wellen bogen. Der Haupthof, ein imposantes Herrenhaus im Stil der Norddeutschen Backsteinarchitektur, Drucktüren aus Eichenholz, Fenster mit bleiferglasten Scheiben und eine Dachkonstruktion aus dunkelrot gebrannten Ziegeln.
Hohe Räume, getäfelte Wände und schwere Teppiche aus Bremen prägten das Bild eines Wohlstands, der seit Generationen gewachsen war. Ernst von der Zerne, 45 Jahre alt, entstammte einem alten Adelsgeschlecht, das seit dem 17. Jahrhundert Land und Einfluss vererbte. Seine Erscheinung war geprägt von der Strenge eines Mannes, der nie gelernt hatte, an sich selbst zu zweifeln.
Er trug stets markellose weiße Hemden aus feinstem Lein, dunkle Reithosen und Stiefel aus schwedischem Leder. Sein Gesicht war wettergegerbt vom Reiten über die Ländereien, doch in seinen grauen Augen lag ein kühler Blick, der eines Mannes, der daran gewöhnt war, dass seine Worte gesetz waren.
Doch trotz seines Reichtums und seiner Macht besaß er etwas nicht, einen Erben. Seine Frau Helen von Uhlenberg, 33 Jahre alt, stammte aus einer angesehenen westfälischen Familie. Sie war für ihre ungewöhnliche Schönheit und ihren markellosen Ruf bekannt. Markelose, helle Haut, dunkles Haar, dass sie stets zu einem kunstvollen Knoten steckte und Augen von einem hellen, fast unnatürlichen Grün.
Sie hatte eine strenge katholische Erziehung im Kloster zu Dülmen erhalten, sprach fließend Französisch, spielte Klavier und stickte Altartücher, die in der Region als Meisterwerke galten. Die Ehe war wie in jenen Kreisen üblich arrangiert worden, zwei alte Namen, deren Verbindung Macht, Besitz und gesellschaftlichen Einfluss sichern sollte.
Und dennoch, nach 13h Jahren Ehe, war die Versprechung dieser Verbindung nicht erfüllt worden. Helen hatte fünf Schwangerschaften verloren. Jeder hatte Hoffnung gebracht und jeder hatte Ernst Besessenheit mit neuer Schärfe geweckt. Die Ärzte sprachen von einer schwachen Konstitution, baten Elen sich zu schonen, verschrieben Tinkturen, Aderlässe und Gebete an Heilige Frauen wie Heilige Anna, Schutzpatronen der Mütter. Doch nichts half.
Ernst sah, wie sein Name, sein Besitz, sein Lebenswerk auf Messers Schneide stand. Seine Brüder waren jung verstorben. Seine nächsten männlichen Verwandten weit entfernte Vättern, denen er nicht einmal vertraute. Er wusste, stirbt er kinderlos, fällt alles in fremde Hände. Und damit begann sein Abstieg.
Im Dezember 1847 traf ihn ein Brief wie ein Schlag. Überbracht von einem erschöpften Boten, der von einem Gutshof in Mecklenburg gekommen war, berichtete er von einem adligen Bekannten, der sein Erbe gesichert hatte, durch Methoden, die ernst zunächst für abscheulich hielt. Doch er las weiter und weiter, und jede Zeile grub sich tiefer in seinen Geist.
Das Schreiben sprach von anderen Familien. die verborgen vor der Kirche, vor den Behörden, vor der Gesellschaft ihre eigenen Knechte eingesetzt hatten, wenn die Ehe keine Kinder hervorbrachte. Männer, die nach körperlicher Stärke und gesunder Konstitution ausgewählt wurden, um das fortzuführen, was das Blut der Familie angeblich nicht mehr vermochte.
Ernst diese Worte unter dem glimmenden Licht einer Petroleumlampe. Und während draußen der Wind gegen die Butenscheiben peitschte, begann er etwas zu denken, dass ein von Ehre besessener deutscher Adliger nie hätte denken dürfen. Doch er tat es und die Folgen sollten entsetzlich sein.
Der Januar des Jahres 1848 war ungewöhnlich kalt im Norden Deutschlands. Graureif legte sich wie ein zarter Schleier über die Heideflächen und die Kälte schlich sich durch die Mauern des Herrenhauses St. Augustin, trotz der schweren Öfen aus Kacheln, die man Tag und Nacht befeuerte. Doch die Kälte, die den Gutshof wirklich ergriff, kam nicht vom Winter.
Sie kam aus Ernst von der Zerne Innerem. Seit dem Brief aus Mecklenburg sah er seine Knechte mit neuen Augen. Männer, die bislang nur Arbeitskräfte gewesen waren, wurden plötzlich zu möglichen Bausteinen seines Plans. Als Hamburg, Lübeck und Bremen in revolutionärer Unruhe bebten, beobachtete ernst die Männer, die auf seinen Feldern arbeiteten, als prüfe er wertvolles Vieh. Der Gutshof war im Zuge der Unruhen verstärkt worden.
Viele Tagelöhner der Region hatten ihre Arbeit niedergelegt und einige hatten sich sogar den Freiheitskämpfern angeschlossen. Um seine Felder weiterhin bestellen zu lassen, hatte ernst über Kontakte im Militär mehrere Zwangsarbeiter aus Ostpreußen und Schlesien erhalten.
Junge Männer, die während der Unruhen oder wegen angeblicher Aufsässigkeit festgesetzt worden waren. Diese Männer, fern ihrer Heimat, getrennt von ihren Familien, arbeiteten nun unter harter Aufsicht auf den Feldern und in den Stallungen. Für ernst waren sie namenlose Werkzeuge, doch nun war alles anders.


Er begann sie zu beobachten, nicht mit dem Blick eines Gutsherrn, sondern mit dem eines Mannes, der nach einem geeigneten Erzeuger suchte. Ein Gedanke, den er sich selbst kaum eingestehen konnte. Er betrachtete ihre Körper, ihren Gang, ihre Schultern. Er notierte sich heimlich, wer besonders kräftig war, wer Ausdauer zeigte, wer ruhige Augen hatte oder eine gewisse Intelligenz erkennen ließ.
Die Männer bemerkten, dass der Gutsherr länger hinsah als sonst und keiner verstand, warum. Sie kannten ihn als strengen, aber berechenbaren Herrscher. Doch dieser neue Blick war anders. Er war prüfend, berechnend. und zutiefst beunruhigend. Schließlich wählte ernst sieben Männer aus. Es war kein Zufall, wer auf diese Liste kam.
Johann Bittner, Jahre alt aus Schlesien, groß für seine Region, mit breiten Schultern und Händen, die selbst das schwerste Gerät mühelos führten. Er konnte lesen und schreiben. Ein seltener Vorteil, denn er hatte als Kind kurzzeitig eine Klosterschule besucht. Michael Pol, aus einem Dorf bei Opeln. Seine Haut war hell, sein Haar fast blond, seine Bewegungen schnell und geschmeidig. Ein erfahrener Feldarbeiter.
Ernst gefiel an ihm, dass sein Gesichtszug unverdächtig germanisch wirkte. Anton Quertkowski, 30 aus Masuren. Er war der Älteste der Gruppe und bes natürliche Autorität. In seiner Heimat hatte er in Aufstandsgruppen gedient, bevor man ihn gefangen nahm. Seine Präsenz war so stark, daß selbst die deutschen Aufseher ihm ausweichen.
Peter Kowal 26, Sohn einer Familie, die seit Generationen zwischen Polen und Preußen gependelt war. Ruhig, diszipliniert, klug. Er sprach etwas Deutsch genug, um mit den Aufsehern zu verhandeln, ohne unterwürfig zu sein. Franz Jasinski, ein ehemaliger Heilkundiger aus einem Dorf in Ostpreußen.
Er kannte Kräuter, Salben, Tees, Wissen, dass die Gutsherrschaft gern nutzte, aber zugleich fürchtete. Er war schmal und leise, aber seine Intelligenz war für alle spürbar. Josef Zilinski früher Jäger. Ein Mann, der im Wald heimisch war, wie andere in ihren Häusern. Seine Augen waren scharf wie eines Habichts, seine Schritte nahezu lautlos. Er sprach wenig, dachte viel.
Ludwig Schümanski, 27, der Jüngste, ein begabter Tischler. Seine Hände waren flink, sein Geist sensibel, fast poetisch. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht Künstler geworden. Diese sieben Männer, entwurzelt, gebrochen, aber körperlich stark, waren nun unbewusst Teil eines Plans, der ihr Leben und das Leben anderer für immer verändern sollte.
Ernst sah sie nicht als Menschen, er sah sie als Material. Die Entmenschlichung jener Zeit, die ständischen Unterschiede, die Machtstrukturen des Adels. All das machte es möglich. dass ein Mann wie ernst einen solch monströsen Gedanken überhaupt denken konnte. Als der Februar kam, gefror der See hinter dem Gutshof vollständig.
Die Nächte waren lang, still und die eisige Luft ließ jedes Geräusch wie durch Glas klingen. In dieser Stille fasste ernst seinen endgültigen Entschluss. Er würde tun, was die anderen getan hatten. Er würde die Regeln brechen, die Gesellschaft ignorieren, Gott herausfordern und seine eigene Frau zur Schlüsselfigur seines Plans machen. Doch dazu musste er Helene überzeugen.
Die Nacht der Entscheidung warlos. schwarz wie flüssige Tinte. Der Wind fuhr durch die hohen Kiefern, die wie Pfeiler um das Herrenhaus standen und brachte ein leises, klagendes Heulen mit sich. Die Dienerschaft war bereits in ihren Kammern. Nur in Helen und Ernsts Schlafzimmer brannte Licht. Helene saß auf einem gepolsterten Stuhl, ein weißes Tuch in den Händen, in das sie ein feines goldenes Kreuz steckte.
Die Kerzen warfen zitternde Schatten über ihr Gesicht. Als ernst eintrat, wußte sie sofort, daß etwas Unheilvolles in der Luft lag. Helen begann er mit einer Stimme, die er zwang, ruhig zu sein. Wir müssen über unser Erbe sprechen. Helene legte den Stickrahmen zur Seite. Ihre Augen suchten die Sein und fanden darin etwas, das sie nie zuvor gesehen hatte. Ernst erzählte nicht sofort.
Er umkreiste das Thema mit Andeutungen, mit Verweisen auf andere Familien. auf verzweifelte Zeiten, auf die Pflicht, ein Geschlecht fortzuführen. Dann, als sein innerer Damm brach, sprach er es aus. Als Helene verstand, was er verlangte, fuhr ihr Atem stoßweise ein. Das Kreuz fiel aus ihren Händen. Ihre Finger begannen zu zittern.
“Nein”, flüsterte sie. “Ernst, das das ist Sünde. Das ist Wahnsinn.” Doch Ernst hörte nicht auf. Und in dieser Nacht begann der Abstieg aller Beteiligten. Helene von Ullenberg verbrachte die folgenden Tage wie eine Gefangene ihre eigenen Gedanken. Sie betete stundenlang in der kleinen Kapelle des Gutshofes, deren gotische Fenster das Licht in farbige Streifen verwandelten.
Die geschnitzte Holzfigur der Heiligen Anna über dem Altar schien sie mit ernster Güte anzusehen, als wüsste sie, dass Helens Herz schwerer war als je zuvor. Doch die Gebete wurden nicht erhört, nicht in der Weise, wie Helene hoffte, denn Ernst ließ nicht locker. In der Gesellschaft des Deutschen Adels, Mitte des 19. Jahrhunderts, galt der Wille des Ehemanns als Gesetz.
Und ein Gesetz, das mehrfach wiederholt wurde, wird irgendwann zum Schicksal. Die Dienerschaft bemerkte Helenes wachsende Blässe, das Zittern ihrer Hände, den Verlust ihres Appetits. Doch niemand wagte zu fragen. Niemand stellte Fragen an die Herrin und schon gar nicht an den Herrn. Helene war allein.
An einem frostigen Morgen, Anfang Februar, als die Sonne schwach wie ein blasser Fleck hinter einer Wand aus Wolken stand, gab Helen nach. Nicht aus Überzeugung, nicht aus Verstehen, sondern aus Erschöpfung. Ein Mensch kann nur eine begrenzte Zeit gegen den Willen einer ganzen Welt kämpfen. Ernst spürte den Moment ihres Einbruchs. Er hätte triumphieren sollen.
Doch in seinen Augen lag etwas anderes. Ein Schatten, der sich langsam in die Züge eines Mannes fraß, der zu weit gegangen war. Er fühlte es, doch er ignorierte es. Er begann mit den Vorbereitungen. Am Rand des Gutshofes ließ er eine kleine Unterkunft errichten, angeblich für einen neuen Verwalter.
Die Arbeiter wunderten sich nicht. In Zeiten der Revolution war es nichts ungewöhnliches, dass die Herren neue Räume schaffen ließen. Zur Lagerung, zur Sicherheit, zur Unterbringung von Soldaten. Niemand ahnte, welchem Zweck dieses Gebäude dienen sollte. Die Hütte bestand aus massivem Feldstein, die Innenwände aus glattem Kiefernholz.
Es gab nur ein einziges Fenster mit einem dunklen Vorhang, eine breite Bettstadt, eine Waschschüssel aus Keramik und einen Tisch mit einer Öllampe. Die Bettpfosten waren mit geschnitzten Lindenblättern verziert, ein grotesker Gegensatz zu dem, was dort geschehen sollte. Zwei Tage später ließ Ernst die sieben Männer in den Innenhof rufen. Es war kurz nach Sonnenaufgang.
Der Frost lag glitzernd auf den Ziegeln und die Atemwolken der Männer stiegen wie kleine Nebelschwaden in die kalte Luft. Die Männer standen in einfacher Arbeitskleidung, grobe Baumwollhemden, Leinenhosen, barfüßig, trotz der Kälte. Sie wussten, dass eine persönliche Ansprache des Gutsherrn selten etwas Gutes verhiß.
Ernst trat auf die Stufen des Herrenhauses. Seine Stiefel klackten hart auf dem Stein. Mit einer Hand stützte er sich auf einen Spazierstock mit eisernem Knauf, ein Geschenk seines Vaters, ein Symbol seines Standes und seiner Autorität. Er blickte die Männer nacheinander an.


Dann sprach er den Satz, der ihr Leben zerbrechen würde. Ihr seid ausgewählt worden. Niemand bewegte sich. Niemand wagte zu fragen, wofür. ernst erklärte, sachlich, kalt, als ginge es um Ackergeräte oder neue Stalltiere. Er sprach von Hilfe für seine Familie, von besonderer Pflicht, von strickter Verschwiegenheit.
Und schließlich mit einem Tonfall, der keinen Zweifel ließ, sprach er aus, dass jeder von ihnen an einem bestimmten Tag der Woche zu der neuen Hütte gehen und dort mit Helene verkehren müsse. Für die Männer war es, als hätte jemand einen glühenden Eisenstab in ihre Brust gedrückt. Johann Bittner trat einen Schritt zurück, als habe er einen Schlag erhalten.
Michael Pol schloss die Augen, als wolle er aus einem schlechten Traum erwachen. Anton Quertkowski ballte unabsichtlich die Fäuste, ein Reflex, den er sofort unterdrückte aus Angst vor den Konsequenzen. Peter Kowal senkte den Blick, sein Kiefer zuckte, als halte er einen Schrei zurück. Franz Jasinski schnappte kurz nach Luft, als bekäme er plötzlich keine.
Josef Zelinski starrte stumm auf den Boden. Sein Gesicht wurde blass. Ludwig Zanski hob den Kopf, sein Blick voller Angst und Verzweiflung, wie der eines jungen Tieres, das nicht versteht, warum es geschlachtet werden soll. Ernst sah die Entsetzen in ihren Gesichtern, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Er war jetzt ein Mann, der nur noch ein Ziel sah.
Er sprach weiter: “Die Männer würden besser essen, bekämen sauberere Kleidung, müssten weniger schwere Arbeiten verrichten. Und wenn einer von ihnen zur Zeugung eines gesunden Kindes beitrüge, würde er die Freiheit erhalten. Freiheit, ein Wort, das wie warmer Atem in eisigem Wind klang. Doch dann kam der zweite Teil. Jede Weigerung würde bestraft mit Versetzung an entlegene Höfe, wo Tod durch Krankheit oder Misshandlung fast gewiss war, oder durch Übergabe an Militärverbände, die Deserteure und Zwangsarbeiter gnadenlos verheizten. Die Wahl war keine. Die Männer sagten
nichts, denn Worte waren in diesem Moment wertlos. Worte konnten weder schützen noch retten. Ernst ging schließlich. Die Männer wurden entlassen, doch niemand kehrte zu seiner Arbeit zurück. Sie standen dort, als hätten sich ihre Seelen kurz vom Körper gelöst. Am Nachmittag suchte Franzinski den Wald auf, um Kräuter zu sammeln, etwas, dass er heimlich tat, um seine innere Unruhe zu beruhigen. Er wusste, dass es Pflanzen gab, die Fruchtbarkeit verhinderen.
Doch ein Hauch dieses Gedankens allein ließ ihn frösteln. Ein Fehler, ein Verdacht und Ernst würde ihn vernichten. In den folgenden Tagen herrchte eine bedrückte Stille auf dem Gutshof. Die Luft schien dunkler, dichter, schwerer als zuvor. Selbst die Tiere wirkten nervöser, als spürten sie, dass etwas Unnatürliches in den Mauern des Herrenhauses lauerte. Helene verließ kaum noch ihr Zimmer.
Sie aß wenig, sie sprach noch weniger. Wenn sie schlief, murmelte sie Gebete im Halbschlaf, als könne sie sich in ihren Träumen an einen Ort retten, an dem ihr Körper nicht benutzt werden sollte wie ein Werkzeug. Der Sonntag kam, dann der Montag und der erste Mann betrat die Hütte.
Der erste Tag war der Montag, zugeteilt an Johann Bittner. Die Luft im Gutshof war so kalt, daß die Atemwolken der Knechte wie kleine geisterhafte Schleier standen. Doch die Kälte draußen war nichts im Vergleich zu der eisigen Starre, die Helenes Körper ergriff, als sie am frühen Nachmittag zur kleinen Steinhütte geführt wurde. Ernst brachte sie persönlich hin, schweigend, mit der starren Haltung eines Mannes, der keinen Weg zurück mehr sieht. Helene ging wie eine Schlafwandlerin.
Das weiße Wolltuch, das sie um die Schultern trug, rutschte ihr mehrmals herunter, doch sie bemerkte es nicht. In ihrem Blick lag ein glasiger Ausdruck, als sei ihr Geist irgendwo weit hinter einer verschlossenen Tür. Als Johann um drei Uhr eintrat, begleitet von einem Aufseher, fühlte er, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Er hatte sich den ganzen Vormittag im eiskalten Wasser des kleinen Waldtümpels gewaschen, wieder und wieder, als könne das Wasser ihn von der Schuld befreien, die er noch gar nicht begangen hatte. Als er Helene sah, die auf der Bettkante saß, zusammengekrümmt wie ein Vögelchen, schloss er für einen Moment die Augen. Er wollte nicht dort sein.
Sie wollte nicht dort sein, doch sie waren beide Gefangene eines Mannes, der mächtiger war als ihre Verzweiflung. Was zwischen ihnen geschah, würde kein Wort bekommen. Als Johann die Hütte verließ, ging er langsam mit gesenktem Kopf. Seine Knie zitterten. Er fühlte sich schmutzig, obwohl er nicht einmal wußte, ob er sich jemals wieder reinigen konnte.
Helene blieb noch eine Viertelstunde allein drin, unfähig aufzustehen. Dann holte ernst sie ab. Sie sah ihn nicht an. Er führte sie wortlos in das Herrenhaus zurück. Doch in diesem Schweigen lag etwas Zerbrochenes. Der Dienstag brachte Michael Pol. Er zitterte am ganzen Körper, als er auf die Hütte zuging.
Der Himmel war grau, ein dünner Schneeregen fiel in schrägen Linien, als weinte der Himmel selbst. Helene spürte an diesem Tag nichts mehr. Ihre Gedanken flooren dorthin, wo ihre Kindheit lag, in die Klostergänge von Dülm, den Duft von Lavendel, das Flüstern der Nonnen. Doch selbst diese Erinnerungen waren wie durch einen Schleier verzerrt. Am Mittwoch kam Anton Quiertkowski.
Sein Gesicht war eine Maske, seine Augen tot. Doch in ihm kochte ein Feuer aus Wut, Scham und Ohnmacht. Er wußte, dies war Verrat an allem, woran er geglaubt hatte. Als ehemaliger Aufständischer gegen die preußische Willkür war es ihm unerträglich, dass sein Körper nun in den Dienst eines deutschen Adeligen gestellt wurde für ein Verbrechen, das nicht einmal die Soldaten der Revolution zu Beggehen gewagt hätten. Am Donnerstag erschien Peter Kowal.
Er sprach ein stilles Gebet, bevor er eintrat, obwohl er nicht religiös war. Es war ein Gebet für Helen, nicht für sich. Am Freitag war Franz Jasinski an der Reihe. Als er Helene sah, bemerkte er sofort ihre Atemnot, den blassen Schweiß auf ihrer Stirn.
Er wollte etwas tun, ein Tee, ein Kraut, irgendetwas, doch er wusste, dass jede Hilfe ernst Misstrausch machen würde. Am Samstag kam Josef Zilinski. Seine Schritte waren so leise wie immer, doch sein Herz schlug laut wie Trommeln in seiner Brust. Er war ein Mann, der lieber im Wald gelebt hatte als unter Menschen. Nun wurde er gezwungen, das Unmenschlichste zu tun.
Am Sonntag schließlich war Ludwig Smanski an der Reihe, der Jüngste, der sensibelste. Als er die Tür schloss, sah Helene ihn an. Es war ein kurzer Blick, kaum länger als ein Atemzug. Doch in diesem Blick erkannte er etwas, das ihn fast zu Boden zwang.
Sie war nicht nur Opfer, sie war bereits zerbrochen und er, ein wehrloser junger Mann, wurde benutzt, um sie weiterzubrechen. Die erste Woche veränderte jeden der sieben Männer. Johann sprach nicht mehr. Michael weinte nachts leise in der Scheune. Anton miet jeden Blickkontakt und verbiss sich in seine Arbeit. Peter verlor seinen Appetit. Franz betete, obwohl er nie gebetet hatte.
Josef schlich noch tiefer in sein Schweigen. Ludwig begann sanft mit sich selbst zu sprechen, als müsse er seine Seele daran erinnern, dass sie noch existierte. Und Helen, sie war nur noch ein Schatten. Ihre Worte wurden selten, ihre Bewegungen mechanisch, ihr Blick leer. In der zweiten Woche nahm die Dunkelheit im Gutshof spürbar zu.
Der Schnee blieb tagelang liegen. Das Herrenhaus wirkte wie ein kaltes Monument, von innen ausgehöht wie ein Grab. Die Männer gingen weiterhin an ihren zugeteilten Tagen zur Hütte. Doch etwas hatte sich verändert. Nicht nur ihre Körper littten jetzt, ihre Seelen begannen zu reißen.
Für Helen verschwammen die Tage zu einem endlosen grauen Band. Manchmal wusste sie nicht mehr, welcher Tag war. Manchmal erkannte sie ihren eigenen Namen kaum. Sie hielt sich an den Rosenkranz, der einst Trost gespendet hatte. Doch die Perlen fühlten sich kalt an, als seien sie aus Stein geworden. Drei Wochen vergingen, dann vier und eines Morgens, als der Schnee zu tauen begann und die Kränen laut ihre Kreise über den Feldern zogen, blieb Helenes Blutung aus und Ernst lächelte zum ersten Mal seit Jahren. Als Helene zum ersten Mal am Morgen erbrach, dachte sie noch, es sei die
Folge der anhaltenden Nervenschwäche, die die letzten Wochen über sie hereingebrochen war, wie ein bleierner Nebel. Doch als es am zweiten und dritten Tag wieder geschah, wurde selbst sie in ihrem Zustand der inneren Abtrennung hellhörig. Ernst bemerkte die Veränderungen zuerst, ihre Müdigkeit, ihre blassere Haut, die Feuchtigkeit ihrer Augen, die Art, wie sie manchmal eine Hand schützend auf ihren Unterbauch legte, ohne es zu bemerken.
Er rief sofort den Arzt aus Hannover, Dr. Reinhard Roselius, der zwei Tage später eintraf, nachdem er über vereiste Landstraßen und geflutete Waldwege gereist war. Dr. Roselius war ein Mann in seinen frühen 50ern. Ernst mit einem grauen Bart und kühlen blauen Augen. Er war nüchtern, sachlich und er wußte genau, wie sehr der Ruf einer Familie vom Urteil eines Arztes abhängen konnte.
Er untersuchte Helene im Schlafzimmer des Herrenhauses, während ernst nervös im Flur auf und ablief. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete der Arzt die Tür und verkündete: “Herzlichen Glückwunsch, Herr von der Zerne. Ihre Frau ist schwanger.” Ernst schloss die Augen, als wäre er im Begriff, zusammenzusinken.
Doch dann kam der triumphierende Ausdruck, ein dunkles, fieberhaftes Glitzern, das fast unnatürlich wirkte. Helene hingegen fühlte nichts. Keine Freude, keine Erleichterung, nur eine neue Schicht aus Scham, die sich wie feiner Staub auf ihre Seele legte. Die kommenden Wochen verliefen äußerlich ruhig, doch die Dunkelheit, die über dem Gutshof lag, wurde dichter.
Helene wuchs ein kleines, kaum sichtbares Beäuchlein. Ihr Gang wurde schwerer und doch setzte ernst die Treffen mit den sieben Männern fort. Er behauptete, es sei medizinisch ratsam, doch tief in ihm wusste er, dass es eine Mischung aus Kontrolle, Paranoia und dem Instinkt war, jede Spur von Wahrheit zu verwischen.
Die Männer nahmen die neuen Anweisungen schweigend hin, denn der Gedanke an Widerstand war ein Gedanke, der töten konnte. Die Arbeit auf dem Hof ging weiter, doch etwas an den Abläufen hatte sich verändert. Johann arbeitete langsamer, als würde ihn jede Bewegung doppeltkraft kosten. Mikel bekam Albträume, die ihn nachts aufschreien ließen.
Anton begann gelegentlich in die Ferne zu starren, als sehe er dort eine Möglichkeit zu fliehen. Peter miet die Blicke der anderen. Franz verwte häufiger im Wald, als suche er einen Ort, an dem die Welt wieder Sinn ergab. Josef sprach kaum noch. Ludwig zeichnete mit einem Stück Holzkohle heimlich Linien auf die Bretter seines Schlafplatzes. Linien, die sich wie gebrochene Wege über die Wände zogen.
Als Helene in den vierten Monat kam, begann das Leben in ihr spürbar zu werden. Jede kleine Bewegung des Kindes war für sie wie ein Stich. Sie legte ihre Hände auf ihren Bauch, doch die Geste war keine liebevolle, eher eine, als müsß sie etwas in Schach halten, daß sie zu zerreißen drohte. Ernst beobachtete sie dabei mit einem Ausdruck, der nicht Liebe, sondern Besitz verriet.
Er begann Pläne zu schmieden, als hätte er bereits die Zukunft in Händen, den Namen des Kindes, mögliche Bündnisse, die Wiederherstellung seines gesellschaftlichen Ansehens. Doch zur gleichen Zeit spürte er auch die Angst, eine Angst, die tief in seinem Inneren nagte. Was, wenn jemand etwas merkte? Was, wenn das Kind Merkmale zeigte, die nicht rein Deutsch wirkten? Der Gedanke ließ ihn nachts kaum schlafen. Er begann die sieben Männer genauer zu beobachten.
Jeder Blick, jede Gestik, jede zufällige Begegnung mit ihnen schien ihm unter Verdacht zu stehen. Helene bemerkte die Paranoia ihres Mannes, doch sie war zu erschöpft, um noch etwas zu fühlen. Im Herrenhaus wurde die Atmosphäre immer bedrückender. Das Personal flüsterte in den Küchen, während die Köchin die Töpfe rührte. Die Mägte erzählten sich Geschichten über Zeichen und Vorahnungen.
Die älteste von ihnen, Trude, behauptete, daß der Hof einen Schatten angezogen habe und niemand wagte, ihr zu widersprechen. Als Helene in den sechsten Monat kam, begann sie weniger zu sprechen. Sie saß oft stundenlang am Fenster, den Blick auf die Felder gerichtet, die nun im Sommerlicht standen. Die Kornfelder wogten wie goldene Meere.
Doch für Helen war es nur ein endloses, seelenloses Flimmern. Die ersten Tritte des Kindes ließen sie zusammenfahren, als hätten sie sie gestochen. Sie begann nachts zu weinen, lautlos mit dem Gesicht in das Kissen gedrückt, damit niemand es hörte. Der Sommer verging, die Felder wurden geerntet und die Vorbereitungen für den Herbst begannen.
Ernst ließ das Herrenhaus neu ausstatten, als hätte er etwas zu beweisen. Neue Teppiche aus Bremen, ein renoviertes Kinderzimmer, Bestellungen aus Hamburg für Kleidung und dennoch spürte jeder im Haus, dass etwas nicht stimmte. Die Luft war zu still, die Nächte zu schwer, die Gespräche zu kurz. Als der Oktober nahte, wurde Helenes Zustand wieder schlechter. Ihre Hände zitterten. Sie verlor das Gefühl für Zeit.
Manchmal nannte sie ernst beim falschen Namen. Manchmal starrte sie minutenlang auf die Wand, als höre sie jemanden aus der Ferne rufen. Doch es war niemand dort, nur ihr eigenes zerbrochenes Inneres. Am Morgen des 3. Dezember 1848 weckte sie ein Schmerz, der sie wie ein Messer traf. Der Arzt wurde gerufen. Die Hebamme aus dem Dorf, eine Frau namens Margarete Brom, kam gleichzeitig.
Helene wurde ins Schlafzimmer gebracht, die Fensterläden geschlossen, der Raum mit warmen Tüchern ausgelegt, der Sturm draußen rüttelte an den Mauern, als wolle er das Herrenhaus selbst in seine Einzelteile zerbrechen. Der Geburtskampf dauerte 14 Stunden. Ernst saß unten im Arbeitszimmer unfähig zu beten, unfähig zu denken.
Nur das Ticken der Standuhr begleitete die Schreie, die aus dem oberen Stock drang. Um Uhr abends verstummte plötzlich alles. Dann ein Laut, ein heiseres, hohes zitterndes Schrein. Das Schreien eines Neugeborenen. Ernst sprang auf, rannte die Treppe hinauf. Als Drelius die Tür öffnete, sah er nicht triumphierend aus, sondern bedrückt.
“Es ist ein Mädchen”, sagte er leise, gesund, aber sie sollten selbst sehen. Ernst trat rat ein. Margarete hielt das Kind im Arm. Helene lag erschöpft, kaum bei Bewusstsein. Und in Margaretes Armen lag das, wovor ernst monatelang gezittert hatte. Ein kleines Mädchen mit dunklerer Haut als ein deutsches Kind gewöhnlich, mit pechschwarzem Haar und Augenform, die unmißverständlich verrieten, daß kein Tropfen adliger Reinheit dieses Kind geformt hatte.
Ernst spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen wegsank. Sein Sieg wurde in demselben Atemzug zum Untergang. Die ersten Stunden nach der Geburt waren von einer Stille erfüllt, die unnatürlich wirkte, fast erstickt. Margarete die Hebarme, wickelte das Neugeborene vorsichtig in Tücher, während ernst von der Zerne wie ein gefällter Baum neben dem Bett stand.
Seine Hände waren zu Fäusten geballt, so fest, dass die Knöchel weiß hervorstachen. Er sagte nichts. Er sah nur das Kind in den Armen der Hebame war unverkennbar, nicht sein Kind. Nicht im Sinne der Gesellschaft, nicht im Sinne seiner Ehre, nicht im Sinne des verzweifelten Plans, den er monatelang wie ein Gespenst durch die Flure des Gutshauses gejagt hatte.
Helene öffnete irgendwann die Augen, glasig und müde. Sie sah ihre Tochter an und für einen kurzen, flüchtigen Moment regte sich ein warmer Funken in ihrem Blick. Doch der Funken erlosch im selben Atemzug, als sie die Züge erkannte, die sie sofort begriff. Die Wangen etwas dunkler, der Haaransatz schwarz wie Kohl, ein Blick, der nicht aus westfälischer oder mecklenburgischer Ahnenreihe stammen konnte.
Helene drehte den Kopf zur Seite und weinte lautlos in das Kissen. Ernst schluckte hart. In seinem Inneren riss etwas wie ein Seil, das unter zu großer Spannung zerfaserte. Er wandte sich wortlos ab und verließ den Raum. Der Arzt und die Hebarme sahen sich an, beide wußten, aber keiner sprach es aus. Am nächsten Morgen wurde die Kleine getauft.
In der Hauskapelle mit nur wenigen Bediensteten als Zeugen gab man ihr den Namen Maria Konstanze von der Zerne. Keine Verwandten wurden eingeladen, keine Ankündigungen versandt, keine Feier organisiert. Helene war noch zu schwach, um zu stehen und ernst bestand darauf, dass die Zeremonie kurz und unauffällig blieb. Der Pfarrer aus dem Dorf, Vater Gruber, ein Mann mit strengem Gesicht und gutem Herzen, hielt die Taufe mit einer Sorgfalt ab, als würde er eine verborgene Schuld spüren, die den Raum erfüllte. Doch er wagte nicht, Fragen zu stellen. Die Wochen nach der Geburt waren geprägt
von Schweigen, dass wie eine zweite Schicht Schnee über dem Gutshof lag. Maria Konstanzegie, sie war ein kräftiges, ruhiges Kind mit wachem Blick und dunklen glänzenden Augen. Sie lächelte früh, griff nach den Fingern der Mägte und weinte selten. Und jedes Mal, wenn erst sie sah, zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen.
Nicht, weil sie ihm zu wieder gewesen wäre, sondern weil sie ihn an etwas erinnerte, dass er niemals wieder aussprechen durfte. Die Dienerschaft begann zu tuscheln. Nicht laut, nur in den Küchen, beim Wasserholen, wenn die Türen geschlossen waren. Sie ist so dunkel für ein deutsches Kind.
Vielleicht hat die Herrin aus ihrer Familie Ach was, so etwas sieht man. Das kommt nicht von adligem Blut. Die Gerüchte krochen wie feiner Rauch durch alle Ritzen. Und wie Rauch hinterließen sie einen Geruch, der nicht verschwand. ernst bemerkte, wie die Menschen ihn anstarrten, in der Kirche, im Markt, beim Besuch des Försters. Nicht lange, aber lang genug, dass er wusste. Man redete. Helene reagierte anders.
Das Kind, das sie ausgetragen hatte, das Kind, das aus ihrem eigenen Körper kam, wurde für sie zu einem lebendigen Spiegel ihres eigenen Leidens. Manche Tage hielt sie Maria Konstanze zärtlich. streichelte ihr die Stirn, sang ihr leise Lieder vor. An anderen Tagen konnte sie das Kind kaum ansehen.
Dann übergab sie die Kleine der Kinderfrau und zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie stundenlang vor dem Fenster saß und ins Leere starrte. Die Welt um sie herum wurde zu einem undeutlichen Schleier. Ihre Hände zitterten immer häufiger, sie sprach weniger und die Nacht brachte ihr keinen Schlaf. Als die ersten Monate vorüber waren, verstärkten sich die Zeichen von Helenes innerem Zusammenbruch.
Sie bekam Panikattacken, krampfte sich die Hände ins Haar, murmelte Gebete, die kaum verständlich waren. Einmal stand sie mitten in der Nacht im Flur, barfuß mit einem Kerzenstummel in der Hand und flüsterte: “Ich bin unrein. Ich bin unrein.” Ernst sah es und tat nichts. Nicht, weil er gefühllos war, sondern weil er in seiner eigenen Paranoia versank.
Er begann jeden der sieben Männer zu beobachten, als hätte einer von ihnen ein Messer gezogen. Seine Angst verschluckte jeden klaren Gedanken. Wer war der Vater? Johann, Michael, Anton, Peter, Franz, Josef, Ludwig. Jeder von ihnen war eine Gefahr. Jeder war ein lebendiger Beweis. Jeder ein potenzieller Verräter.
Und zugleich konnte er keinen entlassen, ohne Verdacht zu erregen. Die Monate vergingen, der Winter wich im Frühling, die Heide färbte sich violett, die Wälder bekamen neues Grün. Doch im Gutshaus St. Augustin lag ein Schatten, der sich nicht verzog. Eines Tages, im Mai 1849 kam ein Besuch, der alles nur schlimmer machte.
Die Frau des Bezirksrichters aus Hannover, eine Cousine dritten Grades, erschien unangekündigt. Sie verbrachte nur eine Stunde im Gutshaus, sah das Kind nur wenige Minuten. Doch als sie die Kleine betrachtete, hob sie unwillkürlich eine Augenbraue. “Wie interessant ihre Züge sind”, sagte sie mit höflicher Stimme und kaltem Unterton. “Da muss eine spannende Familiengeschichte dahinter stecken.
Es war kein Lob, es war ein Urteil und ernst wusste es. Drei Tage später erreichten ihn die ersten Anzeichen gesellschaftlicher Kälte. Eine Einladung zum Sommerball in Schelle zurückgezogen. Ein Handelsvertrag plötzlich verschoben, ein alter Freund seines Vaters plötzlich be verreist. Und dann kam der Schlag, der alle Zweifel beseitigte. Der Dorfpfahrer Vater Gruber, bat um ein vertrauliches Gespräch.
Ernst traf ihn in der Sakristi der Dorfkirche, wo der Geruch von Weihauch und altem Holz schwer in der Luft hing. Der Pfarrer sah ihn ernst an. Herr von der Zerne, es gibt Gerede und ich bin verpflichtet, sie zu fragen, was an den Gerüchten über die Herkunft des Kindes wahr ist. Ernst blieb wie erstarrt stehen.
Er versuchte sich herauszureden, sprach von entfernten polnischen Vorfahren, von Launen der Natur, von unwissenschaftlichen Gerüchten. Doch Vater Grober blickte ihn nur schweigend an und dann sagte er einen Satz, der Ernst Welt erschütterte. Ein Mann, der lügt, verliert zuerst sein Herz, dann seinen Verstand. Als der Pfarrer ging, blieb erst allein in der dunklen Sakristalli stehen, schwer atmend, mit schweißnassen Händen.
Er merkte erst jetzt, wie leicht die Wahrheit zu zerbrechen drohte. Als er zum Gutshaus zurückkehrte, bemerkte er, dass sich selbst die Bediensteten anders verhielten. Sie neigten den Kopf, aber kein Blick mehr hielt lange Stand. Niemand wagte etwas zu sagen, aber ihre Augen sagten alles.
Der Abstieg hatte begonnen und niemand, nicht einmal ernst selbst, konnte ihn jetzt noch aufhalten. Der Sommer 1849 brachte keine Ruhe. Die Felder standen zwar in sattem Grün, die Ernte versprach reichlich zu werden und die Knechte arbeiteten wie gewohnt von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Doch auf dem Gutshof St. Augustin herrschte eine Unruhe, die nicht von den Jahreszeiten kam.
Sie kam aus den Mauern selbst. Helene verfiel immer tiefer in eine seelische Dunkelheit, die niemand mehr übersehen konnte. Die Mägte flüsterten sie sei nicht mehr ganz da und es war nicht übertrieben. Mal saß sie stundenlang bewegungslos mit dem Kind im Arm. Mal lag sie im Bett und starrte an die Decke. Mal irrte sie nachts durch die Flure und murmelte Worte, die niemand verstand.
Der Arzt wurde erneut gerufen, doch Dr. Roselius konnte nichts tun. Erschöpfung, sagte er, seelischer Stress, ein schwacher Nervenzustand. Doch in seinen Augen lag etwas anderes. Er wusste, dass etwas Unnatürliches im Haus geschah, wollte es aber nicht aussprechen.
Ernst begann der Weil immer unruhiger zu werden. Die gesellschaftlichen Einladungen blieben aus. Die Briefe alter Bekannter wurden kürzer und kälter. In der Kirche mieden manche Gemeindemitglieder seinen Blick. Jeder Tag wurde zu einem Balanceakt, bei dem er versuchte, den Schein zu wahnen, während sein Inneres von Angst zerfressen wurde. Und dann geschah etwas, das alles verschlimmerte.
Helene wurde erneut schwanger. Es war im Juni, als sie die Übelkeit bemerkte. Die Symptome waren dieselben wie zuvor. Die morgendliche Erschöpfung, der Verlust von Appetit, die Veränderungen in ihrem Körper. Ernst reagierte mit einer Mischung aus Triumph und Panik. Ein zweites Kind könnte seine Ehre retten, wenn es richtig aussah.
Doch zugleich wusste er, dass der Preis für dieses neue Leben erneut getragen werden musste von Helen und indirekt von den sieben Männern, deren bloße Existenz ihn nun an den Rand des Wahnsinns trieb. Er entschied, die Treffen fortzusetzen. Zur Sicherheit, sagte er sich, zur medizinischen Stabilisierung.
In Wahrheit war es seine Angst, dass irgendjemand den Zeitpunkt der Empfängnis berechnen könnte. Die sieben Männer waren entsetzt. Die Wochen des Zwangs hatten sie verformt wie Eisen, das zu lange im Feuer lag. Johann hatte eine nervöse Zuckung entwickelt, die seinen rechten Arm unkontrolliert beben ließ. Michael schlief kaum noch. Anton hatte begonnen, abends die Grenzen des Gutshofes auszukundschaften.
Nicht als Rebellion, sondern als verzweifeltes Abtasten seiner Chancen. Peter sprach kaum noch ganze Sätze. Franz zog sich jeden Abend in den Wald zurück, um dort Kräuter zu suchen, die ihm halfen, zumindest für kurze Zeit zu vergessen. Josef hatte Albträume, die ihn im Schlaf ersticken ließen.
Ludwig weinte manchmal lautlos, die Hand vor dem Mund, damit niemand ihn hörte. Doch keiner wagte, den Befehl zu missachten. Die Angst war stärker als ihr Ekel, stärker als ihre Scham und stärker als die Ahnung, dass dieses zweite Kind alles endgültig zerstören würde. Helene reagierte auf die zweite Schwangerschaft mit noch tieferer Hoffnungslosigkeit.
Der erste Blick auf Maria Konstanze war schon wie ein Stich gewesen. Doch nun bedeutete jeder neue Tag eine Wiederholung des Schmerzes, der Erniedrigung, der Erinnerung daran, dass ihr Körper schon längst nicht mehr ihr gehörte. Sie sprach kaum noch. Manche Tage erkannte sie das Personal nicht.
Andere Tage murmelte sie den Namen ihres ungeborenen Kindes, als könne sie es anflehen, nicht zu kommen. Der Sommer ging über in den Herbst. Die Heide färbte sich wieder blass rosa, Nebel kroch über die Felder und morgens lag reif auf den Karrenrädern. Das Herrenhaus wurde kälter, dunkler, bedrückender. Die sieben Männer begannen zu spüren, dass etwas sich zusammenzog, wie ein Sturm, der sich ankündigt, bevor man ihn sieht.
Dann geschah im August etwas, das die dünne Fassade des Schweigens zum Erzittern brachte. Josef Zelinski wurde betrunken gefunden. Er war bis dahin immer der schweigsamste gewesen, der am wenigsten auffiel. Doch an diesem Abend fand man ihn in der Nähe der Scheune, torkelnd, mit glasigem Blick eine halbgelehrte Flasche Schnaps in der Hand, Schmuggelware, die irgendwo auf dem Hof ihren Weg gefunden haben mußte.
Jof murmelte unzusammenhängende Worte: “Kinder, nicht meine, Blut, nicht rein.” Die Knechte hörten es. Ein einfacher Betrunkener hätte Mitleid erregt. Doch Josef war keiner. Er war einer der sieben, einer, der zu viel wusste. Als Ernstes erfuhr, erstarrte er. Seine Angst verwandelte sich in brutale Entschlossenheit. Noch in derselben Nacht schickte er Josef mit einem Wagen nach Osten, angeblich zur Verstärkung der Arbeiten auf einem entfernten Gutshof in Pommern. In Wahrheit war es bloß ein Weg, ihn loszuwerden.
Josef würde dort sterben. Daran zweifelte niemand. Die anderen sechs Männer verstanden die Botschaft sofort. Niemand war sicher. Jeder konnte verschwinden. Jederzeit. Die Angst verwandelte sich in nacktes Entsetzen. Die Arbeit ging weiter, doch die Unruhe wurde zum ständigen Begleiter.
Helen inzwischen im sechsten Monat war ein blasses Gespenst ihrer selbst. Ihre Augen lagen tief, ihre Wangen waren eingefallen, sie sprach nur noch in Bruchstücken. Die Dienerschaft fürchtete sie fast, nicht aus Verachtung, sondern weil ihr Zustand, wie ein schlechtes Oben wirkte. Im November na schließlich die Geburt. Helene war kaum noch bei Bewusstsein, als die Wehen einsetzten. Der Arzt wurde gerufen, die Hebarme ebenso.
Der Wind pfiff wie ein Tier um die Ecken des Gutshauses und die Fensterläden schlugen, als wollten sie fliehen. Die Geburt dauerte nicht so lange wie die erste. Stunden kurze abgehackte Schreie, schwere Atemzüge und dann kurz nach Mitternacht ein zweiter Schrei der eines Neugeborenen. Ernst stürmte die Treppe hinauf.
Margarete die Hebarme stand am Bett, bleich wie Kreide. Helene lag bewußtlos, ihr Haar klebte an der Stirn und in den Armen der Hebamme lag ein Junge, ein kräftiger, lebender Junge. Doch seine Haut war noch dunkler als die seiner Schwester, sein Haar noch schwärzer, seine Gesichtszüge noch eindeutiger. Ernst starrte ihn an, unfähig zu atmen.
Er hatte nicht erwartet, dass Gott ihm ein zweites Mal so deutlich die Wahrheit ins Gesicht schreiben würde. Aber Gott war unerbittlich. Der Junge wurde Joakim ernst von der Zerne getauft und mit seiner Geburt begann der vollständige Untergang des Hauses St. Augustin. Die Tage nach der Geburt von Joakim Ernst von der Zerne waren erfüllt von einer bedrückenden Stille, die schwerer wog als jede Winterkälte. Das Herrenhaus St.
Augustin wirkte nicht mehr wie ein Ort des Adels, sondern wie ein Gebäude, das langsam in sich selbst zusammenfiel. Niemand wagte laut zu sprechen, niemand stellte Fragen, doch in den Augen aller lag dieselbe unheimliche Gewissheit. Etwas Unheilbares war geschehen und es würde niemanden auf dem Hof verschonen. Ernst schloss sich nach der Taufe des Jungen in seinem Arbeitszimmer ein.
Stundenlang ging er auf und ab. Die Hände ineinander verschränkt, die Stirn schweißnass. Er dachte an seine Ahnen, an die Portraits, die im Flur hing. Männer mit steifen Kragen, strengen Blicken, stolzen Haltungen. Alle würden ihn verachten, wenn sie ihn sehen könnten. Ein Adliger, der die Reinheit seines Geschlechts verloren hatte. Ein Herr, der die Kontrolle über sein Haus eingebüß hatte.
Ein Mann, der durch seine eigene Verzweiflung den Untergang herbeigeführt hatte. Doch Ernst war nicht bereit, die Wahrheit anzuerkennen. Er suchte Ausreden, Erklärungen, Lügen, die selbst er kaum glauben konnte. Doch die Gesichter der beiden Kinder widerlegten alles. Helen hingegen war längst jenseits jeder Verleugnung.
Sie erwachte nach der schweren Geburt erst am dritten Tag vollständig und erfuhr die Nachricht kaum bewusst. Die Hebamme legte ihr das Neugeborene in den Arm und Helen schrie. Ein Schrei roh, fremd, durchdringend. Dann war sie still. Sie drückte das Kind nicht an sich. Sie sprach kein Wort.
Sie sah nur mit einem Ausdruck reiner Verzweiflung, der die Hebaramme dazu brachte, das Kind schnell wieder an sich zu nehmen. Von diesem Moment an Helenes Zustand katastrophal. Sie verweigerte Nahrung. Sie schlief kaum. Sie reagierte nicht auf Worte, nicht auf Berührungen, nicht einmal auf ihre Tochter oder ihren Sohn. Der Arzt wurde erneut gerufen. Sein Urteil war düster.
Die Frau ist am Rande eines Zusammenbruchs. Vielleicht darüber hinaus. Doch Ernst hörte nicht zu. Er beschäftigte sich nur noch mit der Frage, wie er die Gerüchte stoppen, die Wahrheit verbergen, die Zukunft seines Namens retten könnte. Er begann Listen zu führen, Namen, Orte, Verbindungen, Männer, die zu viel wußten, Frauen, die zu viel redeten, Knechte, die flüsterten die sechs verbliebenen Zwangsarbeiter.
Jeder von ihnen wurde zu einer Bedrohung, einer stillen, lauernden Gefahr. Er verglich ihre Gesichter mit denen der Kinder. Die Nase des Jungen schien ein wenig wie die von Anton. Die Augenform erinnerte an Ludwig. Der dunkle Hautton könnte von Franz stammen. Jeder dieser Männer wurde nun zu einem lebendigen Zeugen seines Scheiterns und ernst wusste, Zeugen konnte er sich nicht leisten. Während der Winter sich näherte, wurde das Herrenhaus noch unheimlicher.
Das Personal begann, nächtliche Schritte zu hören. Schritte, die nicht zugeordnet werden konnten. Türen öffneten sich lautlos. Kerzen erloschen ohne Grund. Manche sagten es sei der Wind. Andere sagten es sei die Verzweiflung, die zwischen den Wänden umging. Die Kinder hingegen gedienen.
Maria Konstanze lernte früh zu sitzen und Joakim war ein überraschend kräftiges Neugeborenes. Doch jeder Fortschritt der Kinder schien Helene weiter zu zerstören. Einmal sah eine Markt, wie Helene ihre Tochter ansah, mit einem Ausdruck, der zwischen Liebe und Abgrund schwankte. Doch diese Momente waren selten und kurz. Die meiste Zeit vegetierte sie dahin, ein Schatten ihrer früheren Selbst.
Im Dezember kam es zu einem Ereignis, dass das fragile Schweigen endgültig zerbrechen ließ. Ein Brief aus Hannover erreichte den Gutshof. Das Siegel war das eines Richters. Ernst öffnete ihn mit bebenden Händen. Darin stand eine höfliche, aber unmißverständliche Einladung, sich vor einem gesellschaftlichen Gremium zu erklären, da bestimmte Gerüchte den guten Ruf der Familie betreffen.
Ernst las die Zeilen wieder und wieder, bis die Worte verschwammen. Es war nicht nur die Gesellschaft, die ihn verurteilte, es war das gesamte System, dem er angehört hatte, sein Titel, sein Name, sein Besitz. Alles drohte ihm zwischen den Fingern zu zerrinnen. In dieser Nacht kostete er keinen Schlaf.
Er ging hinaus auf den Hof, in der Hand eine Laterne und betrachtete die Steinhütte, die der Ursprung allen Unheils geworden war. Der Schnee glitzerte im Schein des Lichts. Der Wind trug den Geruch von Rauch und Kälte mit sich. Ernst trat näher. Er spürte die Schuld dieser Mauern so deutlich, als würden sie atmen.
Und dann faßte er eine Entscheidung, eine Entscheidung, die den Weg in den Abgrund unvermeidbar machte. Am folgenden Morgen ließ er die sechs Männer antreten. Johann, Michael, Anton, Peter, Franz und Ludwig standen in einer Reihe. die Gesichter müde, die Augen leer. Ernst erklärte ihn, dass der Gutshof Umstrukturierung, Vornehme und dass einige von ihnen auf andere Güter verlegt würden.
Die Männer hörten schweigend zu, doch in ihren Blicken lag Panik, blank und schneidend. Sie wussten, was das bedeutete. Josef war bereits verlegt worden. Niemand hatte je wieder von ihm gehört. Ernst sah die Angst und sie gab ihm Macht. Doch in diesem Moment geschah etwas, das er nicht erwartet hatte. Anton Quertkowski trat einen Schritt vor.
Sein Blick war nicht unterwürfig, nicht ängstlich, sondern klar, scharf und voller brennender, jahrzehntelang angestauter Wut. “Was Sie uns angetan haben”, sagte Anton mit ruhiger Stimme, “wird nicht mit dem Schweigen der Toten begraben.” Einer der Aufseher hob sofort den Stock. Doch ernst hob die Hand. Er wollte hören, was Anton zu sagen hatte.
“Sie haben ihre Frau zerstört”, fuhr Anton fort. “Sie haben uns zerstört und nun wollen sie die Spuren beseitigen. Aber Spuren verschwinden nicht, nicht solche, nicht in diesem Leben.” Die anderen Männer erstarrten. Niemand hatte es gewagt, mit Ernst so zu sprechen. Doch Anton wusste, dass sein Leben ohnehin kaum noch etwas wert war.
Er hatte nichts mehr zu verlieren. Ernstgesicht blieb unbeweglich, doch seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. “Du hast mir die Antwort gegeben, die ich brauchte”, sagte er leise. Am nächsten Morgen war Anton verschwunden. Die Aufseher sagten, er sei noch vor Sonnenaufgang nach Pommern aufgebrochen.
Doch die Männer wussten die Wahrheit. Alle wussten sie. Der Winter 1849 wurde zu einem der Härtesten in der Region und auf dem Gutshof St. Augustin begann ein Schatten zu wachsen, der unaufhaltsam alles verschlang. Jede Hoffnung, jede Menschlichkeit, jede Zukunft. Der Winter 1849 war einer der dunkelsten, den die Menschen im Norden Niedersachsens je erlebt hatten.
Schneestürme jagten über die Heide wie weiße Bestien, die den Himmel verschluckten. Frost überzog die Fenster des Herrenhauses St. Augustin in kristallenen Mustern, die wie erstarrte Spuren vergessener Geister wirkten. Doch die wahre Kälte kam nicht von draußen. Sie saß in den Mauern des Gutshofes, in den Herzen der Menschen, in den Gedanken, die niemand laut aussprach.
Nach Antons Boset Versetzung schwiegen die restlichen Männer Johann, Michael, Peter, Franz und Ludwig noch mehr als zuvor. Der Gedanke, daß sie der Nächste sein könnten, war allgegenwärtig. Niemand wusste, wen Ernst als nächsten entfernen würde. Niemand wusste, wie viel Zeit ihnen blieb. Und jeder von ihnen verspürte etwas, dass sie vorher kaum gekannt hatten.
Den unstillbaren Hunger nach Rache, nach Gerechtigkeit, nach einem Ende dieser Hölle. Helen, inzwischen beinahe völlig in sich selbst zurückgezogen, verließ kaum noch ihr Zimmer. Sie war blaß wie Schnee, ihre Augen dunkel und ausgehüllt wie die eines Menschen, dessen Seele sich zurückgezogen hatte. Manchmal hielt sie Joakim, manchmal Maria Konstanze, aber ihr Blick wanderte durch sie hindurch, als seien die Kinder schäben. Sie erkannte die Welt nicht mehr. Sie erkannte sich selbst nicht mehr.
Die Mägte wagten kaum, ihr nahe zu kommen, denn Elena hatte oft plötzliche Ausbrüche. Sie schrie, weinte oder vergrub die Finger in ihrem Haar. während sie Gebete murmelte. Der Arzt sprach von Nervenfieber, die Hebarme von gebrochener Seele. Ernst sprach nicht, er beobachtete nur. Und sein Schweigen war das Schlimmste. Seine Paranoia wuchs.
Jede Bewegung eines Knechtes, jedes geflüsterte Wort, jede zufällig geöffnete Tür ließ ihn zusammenzucken. Selbst der Wind, der nachts an den Fensterläden rüttelte, brachte ihn dazu, aufzuschrecken und an den Pistolen zu tasten, die er neuerdings in seiner Kommode aufbewahrte. In diesen Wochen begann Ernst, die Steinhütte aufzusuchen, nicht mehr als Ort eines grausamen Rituals, sondern als Schauplatz seines Schreckens.
Er stand stundenlang darin, starrte auf die Bettstadt, auf die Wände, auf den Boden. Jeder Fleck, jeder Kratzer schien ihn anzustarren wie ein Auge, als wäre die Hütte ein lebendiges Zeugnis seiner Sünden. Währenddessen formierte sich unter den fünf verbliebenen Männern ein Schweigen, das nicht der Angst, sondern einer wachsenden Entschlossenheit entsprang.
Sie hatten lange genug gehorcht, lange genug ertragen, lange genug geschwiegen. Anton war der mutigste gewesen und er hatte den höchsten Preis dafür gezahlt. Doch sein letzter Satz lebte weiter. Ein Funken, der langsam ein Feuer in ihnen entfachte. Eines Abends, als die Aufseher bereits schlafen gegangen waren und nur das Dröhnen des Windes von draußen zu hören war, trafen sich die fünf im alten Getreidespeicher.
Es war einer dieser Nächte, in denen die Welt völlig dunkel war, ohne Mond, ohne Sterne. Johann schloss die schwere Tür hinter ihn. Michael zitterte so stark, dass seine Zähne klapperten. Franz zündete eine kleine Öllampe an. Das gelbe Licht machte die Schatten an den Wänden noch bedrohlicher. Sie sprachen leise, sehr leise. Worte, die sie monatelang verschluckt hatten, brachen nun hervor.
Sie sprachen über Anton, über Josef, über Helen, über die beiden Kinder und über Ernst. Peter, der sonst immer vorsichtig war, flüsterte: “Wenn wir nichts tun, sterben wir alle, einer nach dem anderen.” Ludwig starrte lange auf seine Hände, als sähe er Blut darauf. “Er lässt uns nicht gehen”, sagte er leise. “Er wird uns nie gehen lassen.” Johann hob den Kopf. Sein Blick war hart wie Stein.
“Dann müssen wir ihm zuvorkommen.” In diesem Moment wurde aus Angst Absicht. Und aus Absicht wurde Plan. Es gab nur ein Problem. Ernst war nicht allein. Die zwei Aufseher, beide treue, harte Männer, würden keine Meuterei dulden. Wenn die fünf Männer handeln wollten, mussten sie schnell und klug sein.
Die kommenden Tage verbrachten sie mit heimlichen Beobachtungen, mit kleinen Zeichen, die sie austauschten, mit stillen Gesten, die niemand verstand, außer ihnen. Doch einer verstand. Das war das Erschreckende. Ein Mann, den sie nicht bemerkt hatten. Ein Mann, der stiller war als sie. Ein Mann, der die Hütte öfter sah als jeder von ihnen. Franz Jasinski. Franz war seit Monaten seltsam geworden, ruhiger, verschlossener, mit einem Ausdruck, der nicht zu deuten war.
Wenn er abends in den Wald ging, dachten die anderen, er suche nur Kräuter zur Beruhigung. Doch er sammelte mehr als Kräuter. Er sammelte Wissen. Er sah Spuren, Geräusche, Zeichen und er hörte Dinge. Eines Abends im November, während ein Sturm durch die Kiefern peitschte, erwischte Franz zufällig ein Gespräch zwischen zwei Mägten in der Küche. Worte, die sein Innerstes erstarren ließen. “Die Herrin ist nicht nur verzweifelt”, sagte die eine.
“Sie ist überzeugt. Das Haus sei verflucht. Verflucht? Fragte die andere. Von wem? Die Antwort kam so leise, dass Franz kaum glauben konnte, was er hörte. Von den Männern, die der Herr gezwungen hat. Franz blieb wie versteinert stehen, verflucht. Ein furchtbares Wort. Aber vielleicht, und dieser Gedanke traf ihn wie ein Blitz, war es gar nicht so falsch, denn etwas stimmte tatsächlich nicht auf dem Gutshof, etwas Unausgesprochenes, etwas Unnatürliches, eine Art unsichtbare Präsenz.
Franz hatte in den letzten Wochen Geräusche gehört, die keine natürlichen waren. Schritte in dem Korridor, der seit Jahren unbenutzt war, ein Flüstern auf dem Feld, obwohl niemand dort war. Schatten, die sich bewegten, obwohl kein Licht brannte. Vielleicht war es Einbildung, vielleicht der Schnee, der Wind, der Winterhunger oder vielleicht war es das Echo von etwas, das sich aus Leid, Scham und Angst zusammengesetzt hatte.
Etwas, das eine Form angenommen hatte, etwas, das im Haus umging. Doch bevor Franz diesen Gedanken zu Ende denken konnte, geschah etwas, das alles veränderte. Am Morgen des 4. Januar 185, die Sonne war kaum aufgegangen, der Schnee lag schwer auf den Dächern, fand man Peter Kowald tot im Stall. Er hing an einem Balken. Der Strick war grob geknotet.
Seine Füße hatten den Boden nicht ganz verlassen. Es war möglich, dass er selbst hinaufgestiegen war. Es war ebenso möglich, dass jemand ihm geholfen hatte. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffe durch den Gutshof. Die Mägte kreuzten die Finger, die Knechte wurden bleich und ernst, ernst lächelte ein dünnes, hartes, tödliches Lächeln, denn für ihn war der Tod Peters eine Bestätigung.
Die Männer waren instabil, gefährlich, und er musste sie loswerden, bevor sie ihn verrieten. Doch für die übrigen vier Männer war Peters Tod der Wendepunkt. Kein Schweigen war mehr möglich, kein Zögern, kein Warten. Sie wussten jetzt, wenn sie nicht handeln, würden sie alle enden wie Peter und ernst würde sie begraben wie Vieh.
Der Tag des Aufstands rückte näher und im Herrenhaus St. Augustin begann etwas zu erwachen. Nicht menschlich, nicht göttlich, sondern geboren aus Schmerz, Blut und der Verzweiflung aller, die unter diesem Dach gelitten hatten. Der Tod von Peter Kowal veränderte den Gutshof St. Augustin wie ein Donnerschlag. Nichts blieb mehr, wie es war.
Die Luft selbst schien schwerer, dichter, als würde sie etwas Unsichtbares tragen. In den Fluren des Herrenhauses knarrten die Dielen lauter als zuvor. Der Wind heulte nachts um die Mauern und jeder Schatten schien länger. Die vier verbliebenen Männer, Johann, Michael, Franz und Ludwig, wußten, dass Peters Tod kein Unfall gewesen war, auch wenn niemand es laut aussprach. war jedem klar, daß Ernst seine Finger im Spiel gehabt hatte.
Vielleicht nicht direkt. Vielleicht hatte er nur einen Wink gegeben. Doch das Ergebnis war das gleiche. Peter war tot und sie waren die nächsten. Die Aufseher gaben die offizielle Erklärung aus. Selbstmord aus Schwermut. Niemand glaubte es. Selbst die Mägde kreuzten sich und flüsterten, dass der Geist des hängenden nachts im Stall gesehen worden war. Franz Jasinski wußte es besser.
Er hatte in Peters Gesicht etwas gesehen, dass er nicht vergessen konnte. Nicht Angst, nicht Schmerz, sondern Überraschung, als hätte er in den letzten Sekunden etwas erkannt, etwas, das nicht menschlich war. Der Wind pfiff an diesem Abend so laut durch die Kiefern, dass das Haus erbebte.
Und genau in dieser Nacht trafen sich die vier Männer erneut im selben Getreidespeicher wie damals. Die Öllampe war diesmal niedriger gedreht, das Licht kaum mehr als ein Flackern. Johann war der Erste, der sprach. Er wird uns alle umbringen, sagte er leise mit einer Stimme, die rau war wie Schmirgelpapier. Michael nickte heftig. “Wir müssen etwas tun. Und zwar schnell.
” Ludwig sah aus wie ein wandelnder Schatten. “Wir sind keine Soldaten”, flüsterte er. “Wir sind Arbeiter. Was können wir tun gegen einen Mann wie ihn?” Johann antwortete ohne Zögern: “Mhr als du denkst.” Franz hörte schweigend zu. Seine Augen wirkten tiefer und dunkler als zuvor, als hätten sie etwas gesehen, dass die anderen nicht gesehen hatten, als wäre er in ein Geheimnis eingeweiht, das ihn gleichzeitig stärkte. und zerstörte. Schließlich öffnete er den Mund.
Vielleicht sind wir nicht allein. Die anderen drei sahen ihn überrascht an. Franz hob den Blick und sprach langsam, vorsichtig. Habt ihr es nicht gemerkt? Seit Wochen ist etwas auf dem Hof. Etwas, das nicht menschlich ist. Ich habe es gesehen. Ich habe es gehört. Michael verzog das Gesicht. Du bist überarbeitet.
Nein”, sagte Franz mit einer Schärfe, die die anderen verstummen ließ. “Ich weiß, was ich sage. Es ist etwas in der Steinhütte, etwas im Herrenhaus, etwas, das nachts über die Felder geht.” Ludwig schüttelte den Kopf, doch Johann sah Franz aufmerksam an. “Was genau meinst du?” Franz atmete schwer. Ein Mädchen aus dem Dorf.
Sie ist vor zwei Wochen bei Sonnenuntergang am Gut vorbeigegangen. Sie hat mir erzählt, sie hätte Schatten gesehen. Zwei Schatten, einer groß, einer kleiner. Sie sagten: “Es seähe aus, als würden sie die Mauern berühren.” Michael presste die Lippen zusammen. “Und was soll uns das sagen?” Franz Stimme wurde tiefer. “Dass wir nicht die einzigen sind, die diesem Ort noch etwas schulden.
Die anderen verstanden nicht, noch nicht. Doch Franz wußte, etwas, das mit Gewalt, Schmerz und Schande erschaffen wurde, verschwindet nicht einfach. Vielleicht hatte Helene es gefühlt. Vielleicht hatten die Kinder es gespürt. Und nun begann es Form anzunehmen, ein Echo der Verzweiflung, das in den Mauern lebte.
Doch noch bevor Franz erklären konnte, was er meinte, geschah etwas, das alle Überlegungen zu nichte machte. In dieser Nacht, kurz nach Mitternacht wurde das Herrenhaus von einem Scheppernden Laut geweckt. Metall auf Stein, ein Schrei, dann wieder Stille. Die Dienerschaft riss die Türen auf, die Aufseher rannten hinaus. Johann und die anderen Männer sprangen aus ihren Betten. Alle liefen in Richtung Stall.
Dort fanden sie den älteren Aufseher Heinrich Bruck, halb bewussttlos auf dem Boden liegend. Sein rechter Arm war grotesk verdreht, als hätte ihn eine Gewalt gepackt, die nicht menschlich war. Sein Gesicht war eischfahl, seine Augen weit aufgerissen. “Was ist geschehen?”, schrie der zweite Aufseher. Heinrich bewegte kurz die Lippen, dann fiel er in Ohnmacht.
Ernst wurde herbeigerufen, wütend, verwirrt, voller Argwohn. Er sah die Spuren im frischen Schnee, eine Schleifspur, die bis zur Tür des Stalls führte, aber keine Fußabdrücke, keine. Nicht eine. Als hätten Geister Heinrichs Körper dorthingezogen. Die Männer sahen einander an und in diesem Moment wussten alle, es war nicht nur ihr Hass, nicht nur ihre Angst, nicht nur ihre Pläne, etwas anderes war erwacht. Etwas, das sich nicht an Regeln hielt. etwas, das stärker war als ernst.
Der Arzt kam erst gegen Mittag und erklärte, der Arm sei gebrochen, aber das sei durch einen Sturz aus großer Höhe möglich. Niemand widersprach, doch der Schnee erzählte eine andere Geschichte. Und in den folgenden Tagen geschahen weitere Dinge. Türen öffneten sich nachts von selbst.
Die Kinder, besonders Maria Konstanze, begannen in den Flur zu zeigen und zu lachen, obwohl niemand dort war. Die Dienerschaft hörte Schritte auf dem Dachboden und Helen. Helene lächelte plötzlich. Einmal mitten in der Nacht sah eine Magie lächeln, während sie im Bett lag und die Augen geschlossen hatte. Ein Lächeln, das nicht zu ihrem Zustand pasße.
Ein Lächeln, das gleichzeitig friedlich und unheimlich war. Als wüßte sie etwas, daß niemand sonst wußte, als würde etwas sie trösten. Ernst bekam davon nichts mit. Er arbeitete Tag und Nacht an einem Plan, der alles richten sollte. Er wollte die drei verbliebenen Männer verschwinden lassen. Franz, Johann und Michael und Ludwig, obwohl er kaum noch sprechen konnte.
Er wollte die Kinder fortschaffen lassen, sobald ein plausibler Vorwand gefunden war. Er wollte Helene in eine Klinik bringen, weit weg, damit niemand ihre Worte hören würde. Er wollte das Haus reinigen, tilgen, säubern. Ein neuer Anfang, ein reiner Ruf, ein letztes Zurückschlagen gegen das Schicksal. Doch je mehr Ernst versuchte, die Kontrolle zurückzuerlangen, desto deutlicher wurde ihm, dass er längst nicht mehr der Herr des Hauses war. Die Schatten bewegten sich zu diesem Zeitpunkt schon, auch wenn er sie noch nicht sehen konnte.
Und die vier Männer wußten, die Zeit der Rache war gekommen. Die Frage war nicht mehr, ob, sondern wann und wer am Ende des Winters noch leben würde. Der Januar 1850 kroch wie ein Raubtier über den Gutshof. Die Kälte schien eine eigene Absicht zu haben. Sie kroch in die Mauern, in die Kleider, in die Knochen der Menschen.
Und mitten in dieser frostigen Starre begann sich die Atmosphäre im Herrenhaus St. Augustin endgültig zu verändern. Es war nicht mehr bloß Angst, nicht Misstrauen. Nein, es war etwas größerem Gewichen, etwas dunklerem, etwas, das unausweichlich schien. Ernst bemerkte es zuerst an den Blicken der Dienerschaft.
Früher hatten sie sich gesenkt, wenn er den Raum betrat. Doch nun glitten die Blicke kurz zu ihm und dann rasch wieder weg, so als trage er etwas bei sich, das ansteckend war. Ein Makel, ein Fluch. Er spürte, wie sich die Menschen um ihn herum zurückzogen, als sei er mit unsichtbarem Gift belegt. Selbst im Dorf war es nicht anders.
Wenn er den kleinen Markt besuchte, konnte er die stummen Urteile spüren wie Nadelstiche an seiner Haut. Und doch glaubte er weiterhin, alles unter Kontrolle zu haben. Ein fataler Irrtum. Die vier Männer warteten derweil auf den richtigen Moment. Johann wurde zum Wortführer. Seine Bewegungen waren langsamer geworden, aber sein Wille schärfer als je zuvor. Meichel war nervös, zitterte oft, doch hinter seiner Furcht brannte ein Funken, der gefährlicher war als Mut. Ludwig war kaum wieder zu erkennen.
Er sprach fast nicht mehr, doch seine Augen hatten einen Blick, der sogar Johann erschaudern ließ. Und Franz, still, wachsam, mit einer Unruhe in der Brust, die sich nicht mehr ignorieren ließ. Er sah Dinge, Dinge, die die anderen nicht sahen, Schatten, die sich an falschen Orten bewegten, Schritte über seinem Kopf, selbst wenn niemand oben war, ein leises Atmen im Wald, wenn kein Tier dort sein konnte.
Und jedes Mal, wenn er an der Steinhütte vorbeiging, verspürte er den Drang, stehen zu bleiben, als lausche dort jemand oder etwas. Der Hof begann zu flüstern. Manche sagten sie hätten nachts eine Kindergestalt gesehen, die durch den Flur huschte, obwohl Maria Konstanze tief schlief. Andere berichteten von einer Frau, deren Form sich im Fenster spiegelte, obwohl Helene in ihrem Bett lag.
Eine Markt schwor, sie habe Schritte in der Kapelle gehört, begleitet von einem Flüstern, das fast wie ein Gebet klang. Doch niemand wagte, solche Geschichten laut zu erzählen. Niemand außer Franz. Er sprach schließlich mit Johann. Ettwas bewegt sich im Haus, flüsterte er. Etwas, das nicht von uns kommt. Johann presste die Lippen zusammen. Wir haben genug Probleme mit den Lebenden. Franz aber schüttelte den Kopf.
Du verstehst nicht. Es ist nicht gegen uns, es ist mit uns. Johann wollte protestieren, doch dann erinnerte er sich an die Schleifspur, die man nach Heinrichs Sturz gefunden hatte, ohne Fußabdrücke, an den Schatten auf dem Heuboden, an die seltsame Stille in der Steinhütte. Er seufzte schwer.
Was immer es ist, Franz, wir dürfen uns davon nicht ablenken lassen. Unser Ziel ist ernst. Franz nickte, doch in seinen Augen lag etwas. dass die anderen beunruhigte. Eine unruhige, brennende Überzeugung, als könne er den Puls eines unsichtbaren Wesens hören. Die Tage vergingen in eisiger Dunkelheit. Helene verlor den Bezug zur Realität fast vollständig.
Sie sprach mit den Kindern in Sprachen, die sie nicht beherrschte. Manchmal nannte sie Maria beim Namen Anna, vielleicht nach der Heiligen, die sie in ihrer Jugend verehrt hatte. Manchmal sah sie Joakim an und lächelte ein Lächeln, daß er einem Abschied glich als mütterlicher Zuneigung.
Einmal fand man sie auf dem Boden der Kapelle, barfuß knienend, mit dem Gesicht nach oben gerichtet, als erwarte sie eine göttliche Erscheinung. Als man sie ansprach, schrie sie so laut, dass selbst die Männer im Stall zusammenzuckten. Ernst hielt sich nun fast durchgehend in seinem Arbeitszimmer auf. Karten, Dokumente, alte Familienregister lagen ausgebreitet vor ihm.
Er versuchte eine Geschichte zu erfinden, die die Herkunft der Kinder erklären konnte. Eine entfernte Verwandtschaft in Böhmen, eine polnische Großtante mütterlicherseits, eine abwegige Mischung aus genetischen Launen. Doch alles wirkte lächerlich, halbherzig, nutzlos. Er wußte es, aber er konnte nicht aufhören. Der Wahnsinn des Kontrollverlustes nagte an ihm wie Ratten an Brot.
Es war Franz, der als erster begriff, wann der Moment gekommen war. Der 4. Februar, 1850. Ein Tag, an dem der Himmel so bleiern war, daß es schien, als würde die Sonne nie wieder erscheinen. Ein Tag, an dem der Wind heulte wie eine trauernde Seele. Ein Tag, an dem Helene zum ersten Mal seit Wochen allein das Schlafzimmer verließ und mit langsam, vorsichtigen Schritten den Flur hinunterging. Sie sah niemandem in die Augen.
Sie trug ihr weißes Nachthemd, das an den Rändern über den Boden schleifte, und hinter ihr, davon waren mehrere Zeugen überzeugt, folgte ein kleiner Schatten. Ein Schatten, der nicht zu den Kindern gehörte. Noch am selben Abend versammelten sich die vier Männer ein letztes Mal im Getreidespeicher. Der Sturm draußen tobte. Der Wind rüttelte so heftig an der Tür, dass sie mehrmals aufsprang und wieder zufiel.
Franz sprach mit einer Stimme, die fester war als je zuvor. Heute Nacht. Johann nickte. Heute Michel rang nach Luft, aber er nickte ebenfalls. Ludwig sah zu Boden, doch sein Kiefer war angespannt. Sie wussten, dass es kein zurück mehr gab, dass sie entweder triumphierten oder starben.
Der Plan war einfach, sie würden warten, bis das Herrenhaus in Schlaf fiel. Dann würden sie ernst aufsuchen, ihn überwältigen, ihn zum Schweigen bringen und die Wahrheit mit ihm begraben. Doch Pläne, die in der Dunkelheit geschmiedet werden, werden selten von Menschen allein ausgeführt. Franz wusste das. Er wusste, dass etwas in jener Nacht mit ihnen gehen würde.
Und als die Männer kurz vor Mitternacht aus dem Speicher traten, bereit, den Lauf der Geschichte des Gutshofes endgültig zu ändern, bliß ein seltsamer Windstoß die Lampe aus. Ein Windstoß, obwohl alle Türen geschlossen waren. Johann sah Franz an. Warst du das? Franz schüttelte nur langsam den Kopf und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der die anderen erschaudern ließ. “Nein”, sagte er, “aber es ist bereit. Die Nacht des vierten auf den 5.
Februar 1850 wurde später unter den wenigen Überlebenden als die Nacht des Atems bezeichnet. Als hätte der Gutshof selbst geatmet, als würde ein unsichtbares Wesen durch die Flure streichen, ungeduldig, hungrig, voller Erwartung. Der Wind heolte so laut um die Mauern, daß selbst die Tiere unruhig wurden.
Im Stall schlugen Pferde mit den Hufen gegen die Wände, die Hunde jaulten und die Hühner drängten sich in die dunkelsten Ecken ihres Verschlags. Doch das eigentliche Unheil geschah im Inneren des Herrenhauses. Johann, Michael, Franz und Ludwig hatten sich in den Schatten des Nebengebäudes versammelt. Ihre Atemzüge dampften in der Kälte und die Schneeflocken, die vom Himmel fielen, wirkten grau, als saugten sie das Licht der Welt auf.
Niemand sprach. Ihre Augen sagten alles. Dies war ihr letzter Weg. Johann öffnete die Tür des Stalls, um ihre Werkzeuge zu holen. Keine Waffen im klassischen Sinne, denn solche besaß der Hof kaum. Stattdessen nahmen sie Mistgabeln, ein schweres Holzscheid, einen eisernen Haken und ein scharfes Messer, das die Köchin sonst für das Schlachten von Hühnern benutzte.
Franz hielt nichts in den Händen und doch wirkte er nicht unbewaffnet. Als sie sich in Richtung Herrenhaus bewegten, veränderte sich die Luft. Es war als würde der Sturm kurz nachlassen, als wartete er. Die Schneeflocken schienen langsamer zu fallen. Die Schatten der Bäume standen unbeweglich. Selbst der Wind, der eben noch wie ein Tier gebrüllt hatte, legte sich.
“Es ist so still”, flüsterte Michael, und seine Stimme klang wie das Knacken eines Zweiges im tiefsten Wald. Franz lächelte schwach, weil es zuhört. Die Männer sahen ihn an, wollten etwas sagen, doch die Tür des Herrenhauses knarrte in diesem Moment, als hätte sie selbst beschlossen, sie einzulassen. Das Gebäude war in Dunkelheit gehüllt.
Nur in Ernst Arbeitszimmer brannte noch Licht. Die anderen Räume waren wie tot. Die große Standuhr im Flur schlugf mal langsam, schwer, mit einem hallenden Echo, das sich wie ein Herzschlag durch die Wände zog. Johann gab das Zeichen. Langsam, auf leisen Sohlen, näherten sie sich dem Arbeitszimmer.
In den Fenstern spiegelte sich ihr Umriss, vier Silhouetten, die aussahen wie Männer, aber sich nicht mehr wie solche fühlten. In diesem Moment geschah das erste ungewöhnliche Ereignis der Nacht. Als sie die Klinke der Tür berührten, erlosch die Lampe im Flur. Einfach so, ohne Wind, ohne Grund. Meichel erstarrte. Johann atmete flach. Weiter, flüsterte er. Sie öffneten die Tür.
Ernst saß an seinem Schreibtisch, den Rücken zu ihnen gekehrt. Vor ihm lagen Dokumente, aufgeschlagene Familienregister, Briefe. Er schien sie nicht bemerkt zu haben, doch als die Tür leise ins Schloss fiel, hielt er inne. “Ich habe euch erwartet”, sagte er, “Nicht überrascht, nicht wütend, sondern mit der müden Stimme eines Mannes, der wusste, dass sein Ende gekommen war.
Langsam drehte er sich um. Seine Augen waren tief schwarz, die Pupillen weit erweitert von Schlaflosigkeit, Angst und Wahnsinn. Und in ihnen glomm ein Funke, den niemand verstand. Ein Funke, der zwischen trotz und vollkommenem Zusammenbruch schwankte. “Ihr glaubt, ihr könnt mich stoppen”, sagte er leise.
“Ihr Zwangsarbeiter, Fremde, Menschen ohne Namen.” Johann trat vor, das Holzscheid. fest in der Hand. “Wir sind nicht namenlos”, sagte er. “Wir sind Menschen.” Ernst lachte leise, ein gebrochenes heiseres Lachen. “Ihr seid Werkzeuge, ihr wart es immer.” Doch er sprach nicht weiter, denn in diesem Moment sah er etwas hinter den vier Männern.
Etwas, dass sie selbst nicht sahen. Seine Augen weiteten sich, sein Gesicht wurde kalkweiß. Nein”, flüsterte er, “Nicht du”. Die Männer drehten sich erschrocken um, doch da war nichts, nur der dunkle Flur. Ernstwig zurück, stolperte fast. “Sieh mich nicht an!”, keuchte er. “Geh zurück, du gehörst nicht hierher.” Sein Blick war auf etwas in der Luft gerichtet, auf etwas, das sich zwischen die vier Männer geschoben hatte.
Ein Schatten, den nur ernst sehen konnte. Franz fühlte plötzlich kalte Luft an seiner Seite, ein Hauch, der nicht von draußen kommen konnte. Er spürte einen kurzen Druck an seinem Arm, als würde ihn jemand sanft berühren. Und in diesem Moment begriff er, Helene hatte recht gehabt. Der Gutshof war verflucht.
Nicht durch sie, nicht durch die Männer, sondern durch die Tat selbst, durch die Nacht, in der Ernst seine Frau gebrochen hatte. Etwas war damals entstanden, etwas ohne Stimme, aber mit endlosem Schmerz. Etwas, das nicht ruhen konnte. Der Angriff begann, ohne dass jemand den ersten Schlag bewusst ausführte.
Vielleicht war es Johann, vielleicht ein anderer, vielleicht war es der Schatten, der durch den Raum glitt. Das Holzscheid traf ernst zuerst an der Schulter. Er schrie auf, griff nach einem Messer, das auf dem Tisch lag. Ludwig schlug es ihm aus der Hand. Michael stürzte vorwärts und rammte die Mistgabel gegen Ernst Brust, doch durch den dicken Mantel war sie nicht tief genug eingedrungen.
Ernst taumelte zurück, blutend, keuchend, und griff nach der Pistole in der Schublade. Doch bevor er sie ziehen konnte, schlug Franz ihn mit einer Kraft nieder, die er selbst nicht besaß. Seine Hand wurde geführt oder verstärkt. Etwas führte sie. Ernst fiel zu Boden, Blut sickerte in den Teppich. Er röchelte, versuchte zu sprechen, doch seine Worte waren unverständlich.
Vielleicht ein Gebet, vielleicht ein Fluch, vielleicht eine Bitte um Gnade. Keiner der Männer rührte sich. Sie sahen nur zu. Und dann geschah es. Der Raum wurde eisig, so kalt, daß ihr Atem sichtbar wurde. Die Schatten an den Wänden begannen sich zu bewegen, langsam, als tanzten sie. Eine Gestalt formte sich, oder vielleicht war es keine Gestalt, sondern bloß der Eindruck einer.
Ein Schwirren in der Luft, ein Flüstern, das keiner von ihnen verstand. Ernst starrte in diese Richtung. Ein letzter Schrei entriss sich seiner Kehle. Sein Körper spannte sich und dann lag er still, tot. Die Männer standen wie versteinert. Niemand wußte wie lange. Minuten, eine halbe Stunde, eine Ewigkeit.
Erst als die Kälte wich und der Raum wieder atmen konnte, wagten sie sich zu rühren. “Es ist vorbei”, sagte Johann schließlich. Aber Franz schüttelte den Kopf. Seine Stimme war kaum hörbar. Nein”, flüsterte er. “אתwas ist gerade erst begonnen.” Nachdem Ernst von der Zerne leblos auf dem Teppich lag, breitete sich eine Stille aus, die beinahe körperlich spürbar war. Schwer, drückend, wie ein Schleier aus Eis.
Die vier Männer standen um den toten Gutsherrn herum, unfähig sich zu bewegen. Ihre Herzen schlugen schnell, doch ihre Gedanken schienen erstartt. Es war nicht nur Mord, der sie erschüttert hatte, es war das, was sie vorher gespürt hatten, die Kälte, der Schatten, die Bewegung, die keiner von ihnen recht gesehen hatte, die aber jeder fühlte.
Johann strich sich über die Stirn und bemerkte erst jetzt, dass seine Hand zitterte. Wir müssen weg”, sagte er heiser, bevor die Aufseher. Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment hörten alle etwas, ein leises, regelmäßiges Ticken. Die große Standuhr im Flur schlug erneut, obwohl es längst keine volle Stunde mehr war.
Ein einziger Schlag, tief, vibrierend wie ein Herz, das langsam wieder zu schlagen begann. Die Männer tauschten Blicke, dann eilten sie zur Tür und hinaus in den Flur. Alles war dunkel, nur der Schein der Lampe aus Ernst Arbeitszimmer fiel auf die Holzpaneele. Sie bewegten sich schnell, geduckt, leise. Für einen Moment glaubten sie, alles sei geglückt, dass sie nur noch die Aufseher überwinden mussten und dann würden sie vielleicht fliehen können irgendwohin, wo niemand sie kannte und wo der Winter nicht mehr wie ein Raubtier lauerte.
Doch der Gutshof hatte andere Pläne. Als sie die Treppe erreichten, hörten sie plötzlich Schritte von oben. Schnelle Schritte, leichte Schritte, Schritte eines Kindes. Franz blieb wie angewurzelt stehen. Das flüsterte er. Das ist Maria. Die anderen erstarrten ebenfalls nachts um diese Stunde im oberen Stockwerk.
Unmöglich. Die Kinder schliefen. Die Kinder schliefen immer. Doch da war es wieder. Ein Hüpfen, ein Trippeln, ein leises Kichern. Johann presste die Zähne zusammen. “Wir dürfen nicht stehen bleiben. Wir müssen wartet”, sagte Franz und klang, als würde er etwas hören, das die anderen noch nicht wahrnahmen.
Er ging die ersten Stufen hinauf, die anderen wollten ihn zurückhalten, doch etwas an seiner Haltung ließ sie innerhalten. Franz bewegte sich wie ein Mann. der nicht gegen eine Gefahr ging, sondern auf einen vertrauten Ruf zu. Der Flur im oberen Stockwerk war in tiefste Dunkelheit gehüllt.
Nur ein schwacher Schein vom Ende des Ganges deutete an, wo sich das Kinderzimmer befand. Franz machte drei Schritte nach vorne und blieb abrupt stehen. Ganz am Ende des Flures stand jemand, klein in einem weißen Kleidchen, das Haar schwarz wie Pech im Kerzenlicht. Maria Konstanze. Das kleine Mädchen wippte leicht vor und zurück, als würde sie ein Lied hören. Dann hob sie langsam den Kopf.
Ihre Augen glänzten, aber nicht wie Kinderaugen glänzen sollten. Nicht vor Neugier, nicht vor Schläfrigkeit, sondern wie zwei dunkle Spiegel, in denen sich nichts Menschliches spiegelte. Franz flüsterte ihren Namen Maria. Sie lächelte, doch der Ausdruck pasß nicht zu einem Kind. Und bevor Franz begreifen konnte, was geschah, bewegte sich die Luft hinter dem Mädchen.
Ein Umriss, ein Schatten, eine Gestalt, die weder Mann noch Frau war, weder groß noch klein, weder nah noch fern. Der Schatten legte sich sanft um das Mädchen wie ein Mantel. Franz stolperte rückwärts. In seinem Blick lag keine Angst, sondern Erkenntnis. Sie ist nicht allein”, sagte er mit einer Stimme, die kaum hörbar war. Sie war nie allein.
Die anderen zogen ihn zurück und zusammen flohen sie die Treppe hinunter. Sie mussten ernst tot zurücklassen. Sie mussten das Haus verlassen. Jetzt sofort. Doch gerade als sie die Eingangshalle erreichten, öffnete sich mit einem donnernden Schlag die Tür zur Kapelle. Die Männer erstarrten. Ein kaltes Licht flackerte darin.
Sie hörten eine Frauenstimme, klare, helle, gebrochene Töne. Es war Helen. Sie sang. Ein Kirchenlied. Alt, zart. Der Klang ließ die Luft vibrieren. Frans Gesicht wurde weiß. Das ist das Lied, das sie im Kloster lernte, dass sie sang, bevor er brach ab. Johann faßt ihn am Arm. Wir müssen raus. Nein, flüsterte Franz. Wir müssen sehen. Die Männer wußten, dass es Wahnsinn war, aber etwas in Franz Stimme ließ sie folgen.
Die Kapelle war nur schwach von den Kerzen erleuchtet. Der Wind pfiff durch eine zerbrochene Stelle im Fenster. Helen kniete vor dem Altar. Ihr weißes Nachthemd lag wie eine zweite Haut über ihren Schultern. Sie wiegte sich sanft vor und zurück, die Hände gefaltet, und um sie herum, als wäre ein Teil des Schattens von oben hinabgestiegen, schwebte ein kaum sichtbarer Schleier, wie Atem, wie Nebel, wie die Spur eines unsichtbaren Kindes, das seine Mutter berührt. Helene bemerkte die Männer nicht.
Vielleicht war sie nicht mehr in dieser Welt. Ihre Stimme zitterte. Vergib ihn. Vergib uns. Laß mich nicht allein. In diesem Moment verstanden die Männer. Helene war nicht das Opfer eines bloßen Wahnsinns. Sie war verbunden auf eine Weise, die sie nicht erfassten. Auf eine Weise, die aus Schmerz, Gewalt und Verzweiflung etwas hervorgebracht hatte, das sich nun im ganzen Haus bewegte. Franz trat einen Schritt vor.
Helen, sagte er leise. Sie hob den Kopf. langsam. Ihre Augen waren weit geöffnet und sie sah ihn nicht. Sie sah durch ihn hindurch. “Es ist hier”, flüsterte sie. “Es ist endlich hier.” Und dann geschah es. Aus dem Dunkel hinter dem Altar löste sich ein Umriss. Nicht wie vorhin, nicht schämenhaft, nicht entfernt.
Diesmal war die Gestalt deutlicher, wie der Schatten eines Kindes und einer Frau zugleich, ineinander verwoben, formlos, aber dennoch erschreckend vertraut. Die Kerzen flackerten. Helene lächelte schwach, dann brach sie zusammen.
Die Männer rannten zu ihr, aber bevor sie sie berühren konnten, fuhr ein Windstoß durch die Kapelle. der so stark war, daß alle Kerzen gleichzeitig erloschen. Finsternis verschlang alles. Michael schrie. Ludwig stürzte zu Boden. Johann tastete nach der Wand und Franz Franz spürte den Atem direkt an seinem Ohr. Kalt, fremd und doch auf unbegreifliche Weise mit ihm verbunden.
Dann hörte er die Worte: “Nicht laut, nicht menschlich, ein Flüstern, das nur für ihn bestimmt war. Es ist noch nicht vorbei. Als das Licht zurückkehrte, war die Gestalt verschwunden. Helene atmete flach und im Herrenhaus St. Augustin begann der Schrei eines Kindes, einer Stimme, die nicht nach einem der beiden lebenden Kinder klang.
Johann flüsterte, “Wir müssen jetzt rennen.” Und in diesem Moment wußten alle vier Männer, das Haus würde sie nicht so leicht gehen lassen. Die vier Männer rannten durch die dunkle Eingangshalle, während hinter ihnen der Schrei des unsichtbaren Kindes wieder erklang. lang, vibrierend, heiser wie das Echo eines Schmerzes, der nie enden würde.
Der Ton drang in die Wände des Herrenhauses ein, ließ den Boden zittern, kroch ihn wie kaltes Wasser die Wirbelsäule hinab. Johann drängte die anderen vorwärts. Zur Tür! Rief er los! Michael stolperte, Ludwig keuchte. Franz drehte sich immer wieder um, als erwarte er etwas hinter ihn.
Die große Eichentür des Herrenhauses kam näher, als plötzlich die Kerzenhalter an den Wänden flammend auflackerten, obwohl niemand sie berührt hatte. Die Flammen ragten hoch auf, wie Hände aus Feuer, die versuchten, die Männer festzuhalten. Der Wind sauste durch die Halle, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Ein Kreischen ertönte aus dem oberen Stockwerk. Ein Laut, der wie eine Mischung aus Lachen und Weinen klang.
Kein menschliches Geräusch, nicht von dieser Welt. Ludwig schrie: “Öffnet die Tür!” Johann warf sich gegen das schwere Holz, doch es rührte sich nicht, nicht ein Millimeter. Michael zog an den Eisenring, bis seine Hände bluteten, aber es war vergeblich. Die Tür war nicht verschlossen. Sie war wie angewachsen, festgehalten, nicht von Menschenhand. Franz stand plötzlich still.
Seine Augen waren groß und dunkel. als könnte er etwas sehen, das den anderen verborgen blieb. “Es will nicht, daß wir gehen”, flüsterte er. Johann packte ihn am Kragen, dann kämpfen wir. Doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hörten sie ein langes, tiefes Stöhnen, das durch das gesamte Gebäude wanderte, vom Dach bis in die Fundamente. Ein Ton, der klang, als würde ein uraltes, schweres Wesen erwachen.
Die Männer wichen zurück. Die Tür vibrierte leicht, als atme sie. Franz legte zitternd eine Hand darauf. Die Holzmaßerung fühlte sich warm an, warm wie Haut. Er riss die Hand zurück. Wir müssen wir müssen einen anderen Weg finden. Fenster, rief Michael zum Hof hinaus. Sie rannten in Richtung des Speisesaals. Dort gab es ein großes Fenster, das zum Innenhof führte.
Doch als sie es erreichten, erstarrten alle vier. Die Scheibe, die normalerweise aus klaren rechteckigen Gläsern bestand, war schwarz, pechschwarz, nicht wie Nacht, sondern wie Tinte, die in jeden Spalt gedrungen war. Johann schlug mit dem Holzscheid gegen die Scheibe. Es gab keinen Klang, keine Risse.
Es war als schlüge er gegen nichts. Ludwig drückte seine Stirn dagegen und schrie, als hätte er sich verbrannt. Was? Was ist das? Franz flüsterte. Es ist nicht Glas. In diesem Moment hörten sie Schritte im Flur. Kleine Schritte, Kinderfüße, doch nicht die von Maria oder Joakim. Diese Schritte waren schneller, unruhiger, zu hastig, als würde das Wesen, dem sie gehörten, keine Pause kennen. Die Schritte kamen näher. Franz wich zurück.
Es kommt. Dann erschien die Gestalt. Ein kleines Mädchen, aber nicht Maria. Die Silhouette war ähnlich, doch der Körper war anders. schlanker, durchscheinender. Die Haare wten wie in Wasser. Das Gesicht war blass, zu blass, die Augen viel zu dunkel.
Als sie den Kopf hob, bewegte sich der Hals mit einer unnatürlichen Geschmeidigkeit, als hätte sie kein Skelett. Die Männer wichen zurück, bis sie mit dem Rücken an die Wand stießen. Die Gestalt blieb im Türrahmen stehen und beobachtete sie mit neugieriger kalter Aufmerksamkeit. Dann öffnete sie den Mund und aus ihrem Hals kam kein Schrei. Es kam der Klang eines Atemzugs.
Lang, schwer, zischend, ein Ton, der das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Franz konnte nicht mehr atmen. Er sank auf die Knie, hielt sich die Brust. “Ich kenne Sie”, flüsterte er heiser. “Ich kenne sie.” Johann packte ihn, schüttelte ihn. “Wer ist sie? Das was zurückblieb, flüsterte Franz mit weit aufgerissenen Augen. Das was Helen verloren hat, bevor all das begann.
Die Männer verstanden nicht, doch der Schatten hinter der Gestalt begann sich zu bewegen, als würde eine zweite Silhouette aus ihm heraussteigen. Eine größere, ein Umriss, der stark an eine Frau erinnerte. Die Luft im Raum wurde so kalt, daß sich Frost auf den Wänden bildete. Der Schatten der Frau streckte die Hand aus, lang, dünn, verzerrt wie ein Zweig. Die Männer hörten ein Kratzen an der Wand hinter sich. Die Tür des Speisesals knallte zu.
Johann schrie: “Wir sterben hier!” Der Schatten machte einen Schritt nach vorn. Franz sprang plötzlich auf. Er wirkte verändert, nicht panisch, nicht verzweifelt, sondern entschlossen, als wäre er in diesem Moment nicht mehr nur Franz, sondern etwas, das durch ihn sprach.
“Lass uns gehen”, rief er in die Dunkelheit. “Es ist vorbei, er ist tot.” Die Gestalt des Mädchens legte den Kopf schief, langsam wie eine Puppe. Die Frauengestalt hinter ihr hielt inne. Dann ertönte ein Flüstern, kaum hörbar, wie Wind, der durch ein Schlüsselloch dringt. Franz schloss die Augen, lauschte und antwortete: “Ja, ja, wir gehen und du bleibst.
” Die Männer starrten ihn an, als wäre er verrückt geworden. Doch in diesem Moment begann die Temperatur wieder zu steigen. Der Frost schmolz, die schwarze Scheibe im Fenster wurde wieder durchsichtig. Die Schatten zogen sich zurück wie Nebel, der von der Sonne vertrieben wird. Die kleine Gestalt drehte sich um. Der Schatten der Frau folgte ihr.
Beide verschwanden im Flur ohne einen Laut. Die Tür sprang auf. Johann verlor fast den Halt. Michael brach Weinen zusammen. Ludwig sank auf die Knie. Franz war blass, aber ruhig. Kommt, sagte er, jetzt läßt es uns gehen. Zum ersten Mal seit Monaten schien der Gutshof atmen zu können.
Die vier Männer rannten hinaus in die Nacht, stolperten durch den Schnee, vorbei an den Stellen, an der Steinhütte, an den Feldern, die im Mondlicht wie ein Meer aus Silber glitzerten. Keiner von ihnen wagte sich umzudrehen. Erst als sie den Wald erreichten, keuchten die Männer und sanken erschöpft zu Boden. Johann sah Franz an. Was? Was war das? Franz blickte in den Himmel.
Der Sturm war abgeklungen. Der Mond war klar. “Nicht was”, sagte er leise. “Wer?” Dann schloss er die Augen. Der Gutshof St. Augustin blieb in der Ferne zurück, doch niemand von ihnen wusste, dass die größte Prüfung noch bevorstand. Denn der Fluch eines Hauses endet nicht, nur weil seine Opfer fliehen.
Die vier Männer blieben noch lange im Wald liegen, unfähig zu sprechen, unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war. Ihre Körper zitterten durch Kälte und Angst, aber etwas anderes lämte sie viel stärker. Das Wissen, dass der Gutshof St. Augustin sie hatte gehen lassen. Nicht, weil sie gewonnen hatten, nicht weil sie entkommen waren, sondern weil das, was im Herrenhaus erwacht war, es so wollte. Johann rang als erster nach Atem.
“Wir können nicht hier bleiben”, sagte er heiser. “Wenn uns jemand verfolgt, niemand wird uns verfolgen”, antwortete Franz leise. “Nicht heute.” Die anderen sahen ihn an. Franz wirkte merkwürdig klar, beinahe gefaßt, als sei er durch etwas hindurchgegangen, was sie nicht verstanden.
Der Himmel über ihnen war dunkelblau, die Wolken rissen langsam auf. Ein fahler Mondschein drang durch die Äste der Eichen und Kiefern. Der Schnee glitzerte, als läge er über einem Grab. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie sich aufraffen und tiefer in den Wald liefen. Sie wollten so weit weg wie möglich. Die Kälte brannte in ihren Lungen und ihre Füße versanken im Schnee.
Doch der instinktive Drang zu überleben triebärs. Gegen Morgengrauen erreichten sie eine abgelegene Waldhütte, die einst einem Förster gehört hatte. Das Dach war halb eingefallen, die Tür hing schief in den Angeln, doch sie bot Schutz vor dem Wind. Sie krochen hinein, legten sich zwischen vermoderte Holzscheite und altes Stroh. Keiner schlief.
Jeder von ihnen hörte Geräusche, die nicht da waren. Flüsternde Stimmen, das leise Tappen kleiner Füße, ein Atem holen, das nicht von ihnen stammte. Franz saß mit dem Rücken zur Wand und blickte in die Dunkelheit. Seine Augen glänzten. Irgendwann flüsterte Michael. Franz, was hast du in der Kapelle gehört? Franz antwortete nicht sofort.
Er schien darüber nachzudenken, ob er überhaupt antworten sollte. Schließlich hob er den Kopf. Es wollte, daß wir gehen. Was wollte? Franz Stimme wurde kaum hörbar. Das, was sie verloren hat. Niemand stellte weitere Fragen. Der Rest der Nacht verging in erstickender Stille. Als der Morgen dämmerte, hatten sie einen Plan. Sie würden auseinandergehen, jeder in eine andere Richtung. Zusammen waren sie zu auffällig, zu gefährlich.
Getrennt hatten sie vielleicht eine Chance zu überleben. Johann würde nach Osten gehen in Richtung der Dörfer bei der Elbe. Michael wollte nach Süden wandern, vielleicht bis nach Hessen. Ludwig war so erschöpft, dass er kaum laufen konnte, doch er sagte, er würde es bis in die Gegend von Kassel schaffen. Franz jedoch blieb still. “Und?” fragte Johann.
Franz sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zum Gutshof. Ich gehe zurück. Die anderen erstarrten. Bist du verrückt? Schrie Michael nach allem, was da was da. Er konnte den Satz nicht beenden. Franz schloss die Augen. “Es lässt mich nicht gehen”, sagte er leise. “Ich spüre es. Es hat mich berührt. Es weiß meinen Namen.” Franz.
Du wirst sterben. Franz lächelte schwach. Vielleicht will es das, vielleicht nicht, aber ich kann nicht fort. Es war keine Diskussion möglich, keine Überzeugung. Etwas an Franz Blick sagte ihn, dass dies nicht mehr allein seine Entscheidung war. Die Männer verabschiedeten sich wortlos. Umarmungen waren in dieser Welt selten.
Doch in dieser einen Nacht hielten sie sich fest, als wüßten sie, daß dies der letzte Moment war, in dem sie einander als Menschen begegneten. Dann trennten sich ihre Wege. Johann, Michael und Ludwig verschwanden in den Wald, jeder in eine andere Richtung. Franz wartete, bis sie außer Sicht waren.
Dann wandte er sich dem Pfad zum Gutshof zu. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, aber der Himmel blieb bleiern. Kein Vogel sang, kein Wind regte sich. Als er das Herrenhaus erneut erreichte, schien es völlig still zu sein. Der Schnee lag unberührt. Kein einziges Fußabdruck führte hinein oder hinaus. Doch die Tür stand offen, weit, als hätte das Haus auf ihn gewartet.
Franz trat hinein. Der Flur war leer. Die Standuhr war stehen geblieben, auf der Zeit, zu der ernst gestorben war. Kein Laut drang aus den Zimmern. Der Geruch von kaltem Wachs hing in der Luft. Franz ging langsam durch die Räume. Alles war so, wie sie es in der Nacht verlassen hatten. Umgestürzt, durchwühlt, düster.
Schließlich hörte er es. Ein leises, rhythmisches Geräusch. Atmen. Er folgte dem Klang und fand Helene in der Kapelle. Sie lag auf einer Bank, die Hände über der Brust gefaltet. Sie schien zu schlafen. Franz trat näher. Helene, ihre Augen öffneten sich langsam. Sie sah ihn an und sie lächelte. Nicht verrückt, nicht verzweifelt, sondern friedlich.
Dann glitt ihr Blick an ihm vorbei zur Tür. Franz drehte sich um und sah das Mädchen, nicht Maria, nicht Joakim, die andere, die aus Dunkelheit und Schmerz geformte. Sie stand da wie eine Gestalt zwischen Licht und Schatten. Ihre kleinen Füße hinterließen keine Spuren auf dem Boden. Ihr Kleid bewegte sich, als wäre Wasser darin. Ihre Augen waren tief und schwer wie die Nacht. Franz kniete nieder.
Er wusste nicht warum. Es geschah einfach. Die Gestalt trat auf ihn zu, berührte seine Stirn mit einer Hand, die kalt war wie Schnee und zugleich weich wie Haut. Franz schlooss die Augen. Es war kein Angriff, keine Qual, nur ein Gefühl von Erkenntnis, von Rückkehr, von Schuld, von Erlösung. Als er die Augen wieder öffnete, war die Gestalt verschwunden. Helene lächelte noch immer schwach.
“Es ist vorbei”, flüsterte sie. “Unser Leiden ist nicht umsonst gewesen.” Franz nickte einmal. Dann legte er sich auf den Boden der Kapelle, als wäre er endlich angekommen. Sein Atem wurde ruhig, seine Augen schlossen sich und er starb leise, ohne Schmerz. Am Morgen des nächsten Tages fand die Dorfmarkt, die Milch bringen wollte, das Herrenhaus offen.
Ernst tot, Franz tot, Helene bewusstlos, aber lebend, die beiden Kinder schlafend, als wäre nichts geschehen. Der Gutshof St. Augustin wurde später verlassen. Die Menschen erzählten sich viele Geschichten, dass der Ort verflucht sei, dass dort Schatten hausten, dass man nachts ein Kind weinen hörte, dessen Stimme nicht von dieser Welt war.
Manche sagten Helene sei wahnsinnig geworden. Andere meinten, sie sei erleuchtet worden. Niemand sprach laut über die zwei Kinder, deren Augen die Vergangenheit verrieten. Doch jene, die genauer hinsahen, sagten, dass Maria Konstanze manchmal mit jemandem sprach, der nicht zu sehen war und dass Joakim in einer Sprache lachte, die niemand verstand.
Der Gutshof verfiel langsam, doch es heißt, an besonders kalten Nächten könne man einen Atem hören, der durch die kaputte Kapelle streicht. Nicht feindselig, nicht grausam, eher wie der Atem eines Kindes, das endlich schlafen kann. Und so endete die Geschichte von St. Augustin nicht mit dem Tod der Menschen, sondern mit der Geburt eines Flüsterns, das in den Mauern weiterlebte.
Ein Flüstern, das nie wieder ganz verstummte. M.

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