Wie deutsche Scharfschützen so präzise wurden, dass Sowjets an Zauberei glaubten

Östlicher Frontbogen bei Prokhorovka. Ein Lichtstreifen über dem vereisten Acker, kaum sichtbar, noch ohne Wärme. Der Schnee trägt die Abdrücke schwerer Stiefel wie alte Narben. Und genau in diesem Moment, kurz bevor die Dunkelheit der Dämmerung weicht, verharrt ein einzelner deutscher Schütze in einer ausgegrabenen Mulde, sein Atem dünn, kontrolliert, leise.
Der erste Schuss dieses Tages fällt, bevor überhaupt klar wird, wer geschossen hat. Der Rückstoß seines Karabiners ist kein Krachen, eher ein gedämpftes Pulsieren in den Händen. Der Schall, verschluckt von der feuchten Kälte, verliert sich zwischen den kahlen Bäumen der verwüsteten Steppe. In derselben Sekunde stürzt in rund 200 Metern Entfernung ein sowjetischer Melder in den Schnee, als hätte ihn etwas Unsichtbares weggerissen.
Für alle anderen Soldaten in der Nähe wirkt es wie ein Schlag aus dem Nichts. Ein sauberer, präziser Tod, ohne Warnung. Der Schütze bewegt sich nicht. Nicht die geringste Reaktion in seinem Gesicht. Nur in seinen Augen leuchtet für einen kurzen Moment eine Art nüchterne Bestätigung. Kein Stolz, kein Triumph, nur die Gewissheit, dass die Berechnungen stimmten. Er wartet, atmet zweimal, lauscht.
Die Steppe antwortet mit Stille, und genau in dieser Stille beginnt die Geschichte über ihn, nicht als Soldat, nicht als Jäger, sondern als Schatten, der mehr zu wissen scheint als jeder andere auf diesem Feld. Die ersten sowjetischen Stimmen brechen hervor, gedämpft, panisch durcheinander.
Einer schreit etwas über einen Hexer, ein anderer über einen Unsichtbaren, der den Wind schneiden kann. Der Schütze hört das nur als fernes Rauschen, doch er weiß, was es bedeutet. Die Männer dort drüben suchen eine Erklärung, die außerhalb ihrer Welt liegt. Etwas Übernatürliches, etwas, das leichter macht, die Angst zu ertragen. Er richtet sich einen Millimeter höher, gerade genug, um den Horizont erneut zu messen.
Der Wind war vor dem Schuss nur ein Zittern in den kahlen Ästen gewesen. Jetzt hat er nachgelassen. Die Luft ist schwerer, dichter. Feuchtigkeit schwebt über dem Boden wie ein dünner Schleier, kaum sichtbar, aber spürbar im Atem. Der Schütze nimmt die Hand vom Schaft, legt zwei Finger in die Luft, prüft das kaum merkliche Flimmern zwischen ihnen.
Sie vibriert heute stärker als gestern. Die Front ist unruhig. Geräusche tragen sich weiter als sonst. Es ist diese Summe aus Details, die ihn leitet, nicht irgendein mystischer Instinkt. Und doch, für jene, die seine Ergebnisse sehen, wirkt es wie Zauberei.
Hinter ihm liegt das deutsche Vorfeld, eine Reihe improvisierter Stellungen, teils zerstört, teils verlassen. Ein Versorgungswagen brennt noch immer aus, nur ein Gerippe aus Metall. Der Schütze hat sich absichtlich hier positioniert, nicht wegen des Schutzes, sondern weil die Geräuschkulisse aus knisterndem Metall und stotterndem Wind ihm eine zusätzliche Information liefert.
Je mehr Klang im Hintergrund, desto leichter spürt er Abweichungen. Je mehr Vibrationen im Boden, desto deutlicher erkennt er Bewegungen, bevor er sie sieht. Er taucht wieder vollständig in seine Mulde ab, zieht die Kapuze über die Stirn, legt die Wange erneut an den kalten Holzschaft.
Das Gewehr ist eingeölt, doch das Metall ist trotzdem frostig genug, um die Haut beinahe festfrieren zu lassen. Ein Pochen beginnt in der Ferne. Schritte, mehrere. Uneinheitlich, aber schwer. Wahrscheinlich ein kleines Aufklärungsteam, das versucht herauszufinden, woher der Schuss kam, oder vielleicht nur Männer, die in Panik Deckung suchen.
Der Schütze schließt kurz die Augen, nicht aus Müdigkeit, sondern aus Konzentration. Dann öffnet er sie und lässt den Blick über die Schneefläche gleiten. Da, ein Schatten bewegt sich unnatürlich. Ein Mann läuft zu tief gebeugt, zu schnell, zu unkoordiniert. Panik macht Menschen unberechenbar, aber ihre Muster bleiben nachvollziehbar. Er schiebt den Riemen des Gewehrs fester an den Unterarm, stabilisiert den Lauf.
Er prüft erneut den Wind. Nichts. Der Atem gefriert, der Schnee bleibt ruhig. Er wartet, bis der Mann das Tempo wieder ändert. Eine Sekunde. Die Finger erstarren. Er drückt. Der zweite Schuss ist fast lautlos. Mehr ein Flüstern als ein Knall. Der Mann fällt. Diesmal hören die anderen es. Und Angst wird plötzlich messbar, sichtbar, greifbar.
Einer der sowjetischen Soldaten rennt nicht weg, sondern erstarrt, wirft sich in Deckung und schreit erneut etwas über Kraft und erbösen Blick. Der Schütze richtet seine Waffe nicht sofort neu aus. Stattdessen hebt er das Kinn einen Hauch und lauscht. Denn dieser Schuss war kein perfekter Treffer, ein kleinster Ausschlag, vielleicht von einer zurückkehrenden Druckwelle eines weiter entfernten Geschützes.
Er hat es einkalkuliert, aber es irritiert ihn, dass die Abweichung diesmal stärker war als erwartet. Er setzt sich auf die Fersen und zieht aus seiner Tasche ein kleines Lederbuch. Keine Namen, keine Figuren, nur kleine Diagramme und markierte Beobachtungspunkte.
Er notiert den Zeitpunkt, die Temperatur, die Geräuschverteilung, die Intensität der Vibrationen im Boden. Hinter ihm beginnt plötzlich das dumpfe Stampfen deutscher Stiefel. Er dreht den Kopf nicht, er erkennt das Muster. Es ist der Unteroffizier, der für diese Linie zuständig ist. Die Schritte bleiben stehen. Ein kurzer Atemzug. “Wieder zwei?“, fragt der Unteroffizier. Die Stimme heiser von Kälte und Schlafmangel. Der Schütze nickt, ohne den Blick vom Schneefeld zu lösen.
“Sie suchen uns, nicht effizient, aber nervös genug, um Fehler zu machen.” Der Unteroffizier kniet sich neben ihn. “Unsere Jungs da hinten sagen, du hättest sie schon halb verrückt gemacht.” “Ich mache gar nichts“, antwortete der Schütze ruhig. “Sie hören bloß nicht genau hin.” Ein kurzer Moment Stille. Der Unteroffizier betrachtet die Sowjets in der Ferne, die sich verzweifelt ducken, auf den Boden pressen, sich anschreien.
Dann blickt er auf das kleine Lederbuch, das halb offen im Schnee liegt. “Du und dein Rechnen.” Der Schütze legt das Buch langsam zu. “Ich rechne nicht. Ich messe.” Der Unteroffizier will etwas erwidern, doch ein neuer Klang dringt über das Feld. Ein entferntes Motorengeräusch. Dumpf, aber rhythmisch. Entweder ein Panzer oder ein schwerer Transporter.
Der Schütze dreht leicht den Kopf, nicht zum Fahrzeug, sondern zum Boden. Der Boden zittert, ganz leicht, aber anders als vorhin. Tiefer, stabiler. “Das ist kein Panzer“, sagt der Schütze leise. “Sondern ein gepanzerter Schlitten, wahrscheinlich ein Vorstoßtrupp. Und wenn Sie so früh kommen, dann wissen Sie, dass wir hier sind.” Er legt sich wieder in Stellung.
Seine Hände bleiben ruhig, obwohl das Zittern im Boden stärker wird. Die sowjetischen Soldaten haben jetzt etwas Greifbares, etwas, das sie vor sich sehen, ein Fahrzeug, etwas Reales. Und doch gehen ihre Blicke immer wieder zur Steppe, zu jener Stelle, aus der die Schüsse kamen.
Als erwarteten sie den nächsten Schlag aus dem Nichts. Ein sowjetischer Unteroffizier tritt plötzlich aus der Deckung, hebt ein Fernglas und sucht hektisch die Umgebung ab. Der deutsche Schütze beobachtet ihn durch die Optik, nicht als Ziel, sondern als Informationsquelle. Die Bewegungen dieses Mannes sind geordneter, routinierter.
Er ist kein einfacher Soldat. Wahrscheinlich jemand, der den Auftrag hat, dem Phantom ein Ende zu setzen. Der Schütze lässt die Finger langsam über den Abzug gleiten, stoppt jedoch noch nicht. Diesen Mann zu früh zu eliminieren, würde wertvolle Informationen zerstören.
Und dann, für einen Moment, scheint alles über dem Feld stillzustehen. Keine Schritte, kein Wind, keine Rufe, nur die Geräusche des herannahenden Schlittens. Der deutsche Schütze atmet ein, flach, fast unhörbar, denn er spürt eine neue Variable, eine, die er nicht sofort einordnen kann. Der Boden bebt nicht mehr gleichmäßig. Die Luft trägt einen metallischen Klang, den er gestern nicht hörte.
Die Geräusche der Steppe haben sich verändert. Jemand oder etwas bewegt sich außerhalb seines Sichtbereichs, aber mit einer Präzision, die ihn eine Sekunde zu lang zögern lässt. Und in genau dieser Sekunde passiert etwas, das seine ganze Berechnung ins Wanken bringt.
Der Schlag, der seine Berechnung zum Stillstand gebracht hatte, war nicht laut, nicht einmal bedrohlich. Es war eher ein kurzes metallisches Knacken, so fein, dass es im Rauschen der Steppe leicht hätte verschwinden können. Doch für einen Mann wie ihn, einen Schützen, der jeden Vibrationston, jede Druckwelle kannte, wie andere Menschen ihre Atemzüge, bedeutete dieses Geräusch eine Störung im Muster.
Er verharrte, erstarrt wie ein Stein in seiner Mulde, die Finger noch am Abzug, ohne zu drücken. Die Steppe vor ihm blieb unverändert. Der sowjetische Unteroffizier suchte weiterhin, den Blick über das Feld werfend, aber irgendwo jenseits seiner Sichtgrenze hatte sich etwas verschoben, ein Detail, eine Variable. Und für jemanden, der mit Variablen arbeitete, war das genug, um die nächste Aktion aufzuschieben.
Er senkte langsam das Gewehr, zog es in die Mulde zurück und richtete sich ein Stück auf. Für Außenstehende mag es aussehen, als wolle er pausieren. Für ihn war es ein Wechsel der Rolle vom Schützen zum Analytiker. Die Kälte biss in seine Finger, doch er war daran gewöhnt.
Monate an der Front hatten seine Haut, seine Muskeln, seine Bewegungen in etwas verwandelt, das fast an ein Instrument erinnerte. Alles war geschult, die Reaktionszeit, die Wahrnehmung, selbst die Art, wie er den Atem zügelte. Er zog das Lederbuch aus der Tasche, schlug es an einer Seite auf, die mit kleinen Zahlen und Markierungen übersät war, Linien, Vektoren, Intervallskizzen.
Es wirkte nicht wie das Notizbuch eines einfachen Soldaten, sondern eher wie das Protokoll eines Ingenieurs. Der Unteroffizier, der noch immer neben der Mulde stand, betrachtete ihn eine Sekunde lang schweigend. Dann flüsterte er: “Du hast etwas gehört.” “Gehört? Gespürt? Schwer zu trennen“, antwortete der Schütze, ohne aufzusehen. “Es war nicht stark genug, um als Gefahr zu gelten, aber neu genug, um es zu prüfen.”
“Vielleicht nur der Schlitten.” Der Schütze schüttelte minimal den Kopf. “Der Klang war zu kurz und nicht tief genug. Das war Metall, dünnes Metall, keine Panzerung.” Er schloss das Buch wieder, steckte es fort und roch kurz an der Luft, ein Reflex, den er nicht mehr aktiv wahrnahm.
Die Feuchtigkeit hatte weiter zugenommen. Die weiße Decke über dem Feld lag schwer, als klebe sie am Boden. Geräusche veränderten sich bei dieser Art Wetter. Sie wurden gedämpfter, träge, und dennoch war eben dieser eine Ton eben nicht gedämpft gewesen. “Vielleicht ein Werkzeug“, murmelte der Unteroffizier, doch der Schütze schob die Aussage sofort beiseite.
“Vielleicht“, sagte er leise, “aber nicht zufällig.” Er hob sein Gewehr wieder an, doch diesmal richtete er es nicht auf die sowjetischen Linien. Stattdessen schob er den Lauf seitlich über die Steppe, weit außerhalb der direkten Gefechtszone. Eine Erhebung, kaum mehr als ein Hügel. Gestern noch war dort nichts gewesen.
Heute, er sah es erst nach einigen Sekunden, lag dort ein dunkler Fleck. Klein, unscheinbar, aber neu. Zu weit, um sicher zu sein, zu unklar, um zu schießen. Er konzentrierte sich erneut. Der Wind hatte sich verändert. Nicht stärker, aber anders, als würde etwas die Strömung leicht umlenken. Ein Zelt, ein Schild, ein Stab. Nein, nicht sowjetisch. Wenn die Rotarmisten so nah etwas aufgebaut hätten, hätte er die Bewegung bemerkt.
Das bedeutete: das Geräusch, der dunkle Fleck, die Abweichung der Luft. Es war ein Muster, und Muster bedeuteten Vorbereitung. Er senkte das Gewehr und schob ein Knie unter den Körper, bereit aufzustehen. Doch bevor er sich erhob, nahm er den Unteroffizier kurz am Ärmel. “Hol mir einen Spaten, einen kleinen, und den Stoff aus der Ersatzkiste.” “Wozu?“, fragte der Unteroffizier.
“Ich muss die Stellung anpassen. Sie beobachten uns.” Der Unteroffizier runzelte die Stirn. “Glaubst du, sie haben jemanden geschickt, der…” “Es ist keine Frage des Glaubens, nur der Logik.” Während der Unteroffizier verschwand, kroch der Schütze tiefer in die Mulde und begann, vorsichtig die Ränder abzuprüfen. Die Mulde war zwar gut gewählt, aber sie war nicht seine.
Er hatte sie gestern übernommen, weil die frühere Position durch Artillerie zerstört worden war. Das bedeutete, sie war sichtbar, zu sichtbar. Er zog seine Handschuhe aus und legte die rohe Handfläche auf den gefrorenen Boden. Kälte brannte, aber er ignorierte sie. Die Oberfläche vibrierte schwach, nicht wegen des Schlittens, nicht wegen der entfernten Schüsse.
Es war ein anderer Rhythmus. Die Sowjets bauten etwas auf, etwas mit Metall, etwas Leichtes, vielleicht ein tragbares Sichtgerät, vielleicht ein improvisierter Periskopmast, vielleicht etwas ganz anderes. Er dachte an die Gerüchte, die überall umhergingen. Die Sowjets seien übernatürlich vorsichtig geworden. Sie glaubten, jemand würde die Luft selbst beherrschen, dass er Wind und Geräusche lenken konnte, dass er nicht nur ein Schütze sei, sondern ein Fluch. Er wusste, dass sie sich irrten.
Seine Präzision war kein übernatürliches Talent, sondern Handwerk. Und dieses Handwerk hatte tiefe Wurzeln. Er erinnerte sich an seine Ausbildung, an die Monate voller monotoner Übungen. Stundenlanges Liegen in feuchten Wiesen, das Gewehr auf improvisierte Ziele gerichtet, das Zählen der Sekunden zwischen Windstößen, das Messen der eigenen Herzschläge, die Korrekturen im Millimeterbereich, die ständige Wiederholung, keine Romantik, keine Heldengeschichten, nur Disziplin.
Sein Ausbilder hatte ihn gezwungen, jeden Klang zu benennen, jeden kleinen Unterschied zwischen trockenem Wind und feuchtem Wind zu hören. Das Knistern von Frost auf Rinde, das Pfeifen, wenn Luft über einen losen Helmriemen strich, das Pulsieren von weit entfernten Motoren. Damals schien es absurd, heute war es sein Leben.
Der Unteroffizier kehrte zurück, reichte ihm den kleinen Spaten und ein zusammengerolltes Stück dunklen Stoffes. Der Schütze nahm beides und begann, die Mulde vorsichtig umzuformen. Er zog eine Seite etwas tiefer, die andere höher, verengte den vorderen Schusswinkel, weitete den hinteren Fluchtweg. Er arbeitete leise, konzentriert. Der Unteroffizier sah ihm zu, verstand aber nicht, was er tat.
“Wenn Sie uns beobachten“, sagte der Unteroffizier schließlich, “warum bewegst du dich so offen?” “Weil sie nicht wissen, wohin sie schauen sollen“, antwortete der Schütze. Er montierte den Stoff über einen niedrigen Ast und befestigte ihn mit Schnee und Erde. Der Stoff war dunkel, unauffällig, aber von einer speziellen Struktur.
Er hatte ihn aus einem zerstörten Werkstattwagen genommen, ein Material, das schalldämpfen konnte. “Das hält den Wind nicht ab“, sagte der Unteroffizier verwirrt. “Soll es auch nicht.” Der Schütze legte sich wieder hin und beobachtete den Stoff. Der Wind strich daran vorbei, und das Flattern erzeugte ein bestimmtes Geräusch. Ein rhythmisches Rascheln, kaum hörbar. Er lächelte schwach. “Das ist es.”
“Was?” “Das Rascheln maskiert die Mikroklänge meiner Schüsse. Mikroklänge, die kleinen Ausschläge, die nur jemand hören kann, der es gelernt hat. Und wenn jemand wie ich auf der anderen Seite sitzt, wird er diese Ausschläge suchen.” Der Unteroffizier starrte ihn an. “Du meinst, sie schicken einen Schützen nach dir?” “Ich glaube, sie schicken jemanden, der zumindest zuhören kann.”
Der Schütze zog das Gewehr an die Schulter, richtete den Blick erneut auf den dunklen Fleck auf dem Hügel. Die Luft hatte sich wieder verändert. Der metallische Klang kehrte nicht zurück, dafür aber bewegte sich etwas am Rand des Flecks. Ein Schatten, kaum sichtbar. Er schaltete seinen Atem ab, ließ nur das Nötigste in die Lungen strömen. Seine Hände wurden leicht, fast schwerelos.
Das Auge hinter der Optik schärfte sich, die Welt verengte sich zu einer Linie. Doch bevor er die Konturen zuordnen konnte, zog eine Druckwelle durch den Boden, nicht stark, aber gezielt. Ein Schuss, aber nicht sein eigener. Die Kugel schlug nicht in seine Mulde ein, nicht in seine Nähe.
Sie traf den Stoff, den er gerade befestigt hatte, präzise, sauber, genau in die Mitte. Der Stoff riss auf, der Klang verstummte. Der Schütze erstarrte, nicht wegen des Schusses, sondern wegen dessen Botschaft. Jemand auf der anderen Seite hatte eben verstanden, was er tat, und jemand auf der anderen Seite konnte rechnen. Der Einschlag im Stoff hatte die Stille der Steppe nicht zerrissen. Er hatte sie verwandelt.
Der deutsche Schütze lag regungslos in seiner Mulde und betrachtete das sauber gelochte Tuch, das noch immer leicht schwankte. Keine zerfetzten Ränder, kein ausgefranster Einschuss, eine glatte, saubere Öffnung, ein Zeichen, nicht für die Männer hinter ihm, nicht für das Kommando, sondern für ihn. Jemand hatte nicht nur seine Position geahnt, sondern auch die Funktion des Stoffes begriffen.
Und jemand hatte den Mut und die Präzision besessen, genau diesen Punkt zu treffen, anstatt die Person dahinter. Eine professionelle Antwort auf eine professionelle Geste. Er zog das Tuch vorsichtig herunter, schüttelte den Schnee ab und faltete es langsam zusammen. Der Unteroffizier starrte ihn an, sichtlich verunsichert. “Sie wissen, wo du bist.”
“Nicht genau“, erwiderte der Schütze. “Aber sie wissen genug.” Er legte das gefaltete Tuch in seine Tasche, als wäre es ein Beweisstück. Dann richtete er sich auf, nur so weit, dass das Sonnenlicht seinen Blick nicht blendete. Die Dämmerung war inzwischen der Wintersonne gewichen. Sie lag tief, fast horizontal und schnitt wie kaltes Glas über das weiße Feld. Die Steppe war nun ein offener Spiegel.
Wer sich bewegte, hinterließ eine Spur. Wer atmete, sah den Atem als Wölkchen. Er richtete das Gewehr auf die Erhebung, auf den dunklen Fleck, der nun nicht mehr still lag. Bewegung. Keine große, keine Offensive, eher das vorsichtige Verschieben eines Körpers, der sich nicht zeigen wollte.
“Ist das jemand?“, fragte der Unteroffizier. “Mindestens einer. Und er arbeitet sauber.” “Sehr sauber.” Ein kurzes Schweigen, ein leises Knacken im Frost. “Ein Scharfschütze.” Der deutsche Schütze überlegte einen Herzschlag lang. Dann antwortete er: “Vielleicht oder jemand, der versucht, einer zu sein.”
Er legte das Gewehr wieder ab, nicht aus Angst, sondern aus Respekt. Wer auch immer dort drüben lag, war kein gewöhnlicher Soldat. Der Schuss auf das Tuch war kein Zufall, keine Drohung, kein Versuch, ihn zu eliminieren. Es war ein Test, und Tests bedeuteten zweierlei: Fähigkeit und Interesse. Hinter ihm rückten nun mehrere deutsche Soldaten an, suchten Deckung, bauten nach Anweisung des Unteroffiziers die Stellung aus. Aber der Schütze schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.
Seine Welt war jetzt auf jenen Punkt reduziert, auf den Hügel, der zuvor unauffällig gewesen war. Der Wind setzte wieder ein, schwach, aber nun eindeutig aus Nordost. Die Luft war kälter geworden. Die Feuchtigkeit veränderte ihren Charakter, zog dichter am Boden entlang.
Er griff zum Lederbuch, schlug eine Seite auf und schrieb drei Worte: “Antwort erhalten, Beobachter präsent.” Danach legte er das Buch weg und senkte sich tiefer in die Mulde. Jede Faser seines Körpers schaltete auf jene Form der Wachsamkeit um, die nicht mit Aktivität, sondern mit Stille arbeitete. Stille war seine Waffe, doch auf der anderen Seite lauschte auch jemand.
Die sowjetischen Linien waren nicht mehr chaotisch. Die Panik, die er zuvor gespürt hatte, war einer Art diszipliniertem Schweigen gewichen. Der Schlitten, dessen Motor nun deutlicher zu hören war, hatte die Männer dort gesammelt. Er beobachtete, wie ein kleiner Trupp sowjetischer Soldaten aus der Deckung kroch. Einer trug etwas Kompakteres mit Rohren und Stäben.
Kein Gewehr, etwas Kompakteres mit Rohren und Stäben. “Periskopgerät“, murmelte der Schütze. “Improvisiert.” Der Unteroffizier knurrte. “Und das ist gefährlich.” “Für jemanden wie mich? Ja.” Die Männer bauten das Gerät auf, steckten zwei Metallstangen in den Boden und befestigten eine dünne rechteckige Platte daran. Keine Panzerung, kein Schutz, nur ein Beobachtungsfeld.
Was ihn überraschte, war die Geschwindigkeit. Sie arbeiteten präzise, ohne zu zögern, ohne sich umzusehen, als hätten sie Anweisungen von jemandem, der diese Art Arbeit kannte. Er legte sich wieder flach hin, drückte den Körper so tief wie möglich in den Schnee. Der Unteroffizier tat es ihm gleich.
“Kannst du ihr Gerät zerstören?“, flüsterte der Unteroffizier. “Natürlich“, erwiderte der Schütze trocken, “aber das wäre dumm. Warum? Weil das Gerät nicht das Ziel ist.” Er richtete den Blick erneut auf den dunklen Fleck. Die Erhebung selbst war unscheinbar, aber jetzt sah er neben dem Fleck eine zweite, kaum sichtbare Vertiefung, ein Schatten, der sich nicht wie Schnee verhielt, eine zweite Position.
Er schaltete sein Bewusstsein für den Wind ein, das Rascheln der kahlen Zweige, das leise Rieseln feinkörnigen Schnees, die dumpfen Schläge des herannahenden Motorgeräts. All diese Laute waren ihm vertraut, doch etwas dazwischen, ganz selten, sehr kurz, war fremd. Ein Atemzug, nicht sein eigener. Ein Atemzug, der durch eine dünne Metallröhre ging.
Er schob den Lauf des Gewehrs einen Millimeter zur Seite, wartete, ließ die Optik wie ein Auge über die Steppe wandern, und dann erkannte er es. Ein winziger Lichtreflex, nicht stark, kein glitzernder Punkt, nur ein Hauch metallischen Aufleuchtens. “Da“, murmelte er. “Er liegt tiefer als ich dachte.” Der Unteroffizier hob den Kopf ein Stück. “Wer?” “Der Beobachter.”
“Vielleicht Schütze, vielleicht beides. Kannst du ihn treffen?” Der Schütze atmete lange durch. “Ich kann, aber die Frage ist, sollte ich?” Der Unteroffizier starrte ihn an, verständnislos. “Wenn der Gegner etwas testet“, erklärte der Schütze, “zerschlägt man den Test nicht. Man beobachtet ihn. Aber er zielt auf dich. Noch nicht. Er studiert.”
Ein leiser, kaum wahrnehmbarer Klang vibrierte durch den Boden. Wieder dieses metallische Knacken, diesmal noch kürzer. Ein Zeichen, wieder ein Signal. Der Schütze lächelte nicht, aber in seinen Augen lag etwas, das fast wie Anerkennung wirkte. “Er kommuniziert“, sagte er. “Du meinst?” “Ja, er will, dass ich weiß, dass er da ist. Warum? Weil er lernen will, wer ich bin.”
Er richtete das Gewehr nicht auf den Reflex. Stattdessen schob er den Lauf seitlich und zielte auf die improvisierte Periskop-Platte. Nicht um zu schießen, sondern um den Gegner wissen zu lassen, dass er sie bemerkt hatte. Er drückte jedoch nicht ab. Er wartete. Die Sekunden dehnten sich. Das Motorengeräusch wurde lauter, vibrierte durch die gefrorene Erde. Der Wind frischte auf. Die sowjetischen Soldaten duckten sich.
Einer rief etwas in die Tiefe der Linie, und dann, wie als Antwort auf seine stille Geste, bewegte sich der Lichtreflex wieder. Nicht hektisch, nicht als Flucht, als Antwort. Der Schütze senkte das Gewehr langsam. “Zwischen uns“, sagte er leise, “liegt kein Hass, nur Berechnung.”
“Und was bedeutet das?“, fragte der Unteroffizier vorsichtig. “Es bedeutet“, antwortete der Schütze, “dass etwas kommt, sondern aus Logik.” Der Unteroffizier schwieg. Der Schütze hielt inne, lauschte erneut der Steppe, die sich nun mit dem Brummen des Schlittens füllte. Die sowjetischen Soldaten suchten Deckung, hielten Abstand vom neuen Beobachtungsgerät, und plötzlich begriff er es.
Nicht nur die Position, nicht nur die Reflexe, nicht nur der Test. Die sowjetischen Einheiten hatten etwas verändert. Sie rückten nicht vor. Sie wichen nicht zurück. Sie sammelten sich in einem Halbkreis um den Hügel, nicht um die deutsche Front. “Sie schützen ihn“, murmelte der Schütze. “Wen?” “Den Mann, der auf mich zielt.”
“Warum sollten Sie das tun?” Der Schütze richtete den Blick wieder auf die Erhebung. In seinem Inneren formte sich ein Gedanke, der ihm nicht gefiel. Nicht weil er beängstigend war, sondern weil er bedeutete, dass sein Gegner etwas verstand, was kaum jemand an der Front verstand: “Weil sie glauben, dass ich— (er stockte kurz) —kein Mensch bin.” Der Unteroffizier schluckte. “Sie glauben an das Phantom.”
“Sie brauchen einen Mythos“, sagte der Schütze. “Und Mythen bekämpft man nicht mit Soldaten, sondern mit Experten.” Er legte sich wieder vollständig in Stellung. Sein Herz schlug ruhig, die Hände ruhig, der Atem kontrolliert. “Das Spiel“, sagte er leise, “hat gerade erst begonnen.” Im selben Moment, als er den Satz beendet hatte, tauchte ein neuer Schatten neben der Erhebung auf.
Jemand Größeres, Schwereres, mit einer Haltung, die er sofort erkannte. Ein Mann, der nicht knickt, ein Mann, der nicht flieht, ein Mann, der gekommen ist, um den Mythos zu brechen. Und der deutsche Schütze wusste: Dies war keine Weiterführung des Gefechts. Dies war der Beginn einer Jagd. Einer Jagd zwischen zwei Köpfen, zwei Methoden, zwei Berechnungen, zwischen Glauben und Wissenschaft. Der Morgen brach nicht wirklich an.
Er löste sich nur aus der Schwärze, als hätte jemand einen Schleier aus kaltem Rauch über den östlichen Horizont gezogen. 14. Februar 1943, 05:00 Uhr. Am Rande eines ausgebrannten Dorfes südwestlich von Charkow saß Obergefreiter Ernst Klemperer im Schatten eines eingestürzten Stalls. Im feuchten Stroh unter ihm schimmerte Raureif.
Sein Atem hing in der Luft wie kleine Fahnen, die von den ersten Windstößen fortgerissen wurden. Er wusste, dass es heute enden konnte. Auf welche Weise, war unklar. Aber die letzten drei Wochen hatten die Welt um ihn enger gemacht. Der Kessel schloss sich.
Die gegnerischen Linien bewegten sich mit einer Präzision, die ihn misstrauisch machte, als würde irgendwo da draußen ein Verstand agieren, der dem seinen nicht unähnlich war. Sein Kommandant hatte es in der Nacht nur knapp formuliert: “Die Russen haben einen neuen Schützen im Feld. Er nimmt unsere Beobachter raus, einen nach dem anderen. Gleiche Distanz, gleiche Abdruckspur von der Kugel. Ein kurzer Blick. Wir vermuten, er sucht nach dir.”
Ernst hatte nur genickt. Es war keine Überraschung. Er hatte zu viele Markierungen hinterlassen, zu viele präzise Einsätze in denselben Abschnitten des Frontbogens. Irgendwann entwickelt jeder Gegner ein Gespür dafür, wo die Hand ist, die die Fäden zieht. Er richtete sich vorsichtig auf und schob das Fernrohr nur wenige Millimeter über die Kante des Stallrests.
Die Landschaft vor ihm lag flach und leer, doch die Leere schien zu horchen. Eine dünne Linie zerschlissener Birken führte wie ein Wegweiser in die Trümmer des Dorfzentrums. Die Häuser dort hatten keine Dächer mehr, manche keine Wände. Der Schnee in den Fenstern war glatt wie frisch gegossenes Glas. Er zählte die Sekunden zwischen den Windböen.
Eine, zwei, dann eine Pause, die länger dauerte als üblich. Ein gutes Zeichen. Heute konnte er mit diesen Intervallen arbeiten. Das Geheimnis seiner Genauigkeit, das angebliche Hexenwerk, von dem das russische Infanteriepersonal unruhig murmelte, war nichts weiter als Konzentration in ihrer härtesten Form: Schusswinkel, Luftfeuchte, Resonanzgeräusche in der Ferne.
Selbst die Art, wie Metall irgendwo klang, konnte ihm etwas über die Wucht eines nahenden Geschützes oder über einen sich bewegenden Verschluss verraten, und all das flocht sich in die Linie zwischen ihm und seinem Ziel. Er roch verbranntes Holz. Das Dorf hatte in der Nacht erneut gebrannt.
Von Westen her, kaum hörbar, kroch das Grollen von Motoren. Eigene Truppen oder zurückweichende Kolonnen. Die Front war zu zerrissen, um sicherzugehen. Er legte das Gewehr auf die Stütze, prüfte den Verschluss und die Ausrichtung des Glases. Eine leichte, unruhige Spannung in den Händen. Nicht die Angst, nur das Bewusstsein, dass heute jeder kleinste Fehler eine Antwort provozieren würde.
Dann sah er es, ein Funken, kaum mehr als ein unvermutetes Aufblitzen auf der Linie zweier eingestürzter Häuser am Rand des Marktplatzes. Keine Sonne, die sich bricht – zu früh, zu wolkig –, kein Splitter, kein Eis. Er kannte den Unterschied, den Rhythmus solcher Reflexe. Dies war kontrolliert, punktförmig, gerade lang genug sichtbar, um ein menschliches Auge herauszufordern.
Ein Gegner, der testete. Ernst zog sich sofort zurück, ohne Hast, aber in einer perfekten Linie, sodass das Glas nicht erneut in die Lichtbahn geraten würde. Der fremde Schütze hatte vermutlich denselben Schluss aus dem winzigen Reflex gezogen.
Die Entfernung schätzte Ernst auf 350 Meter, zu kurz, um Fehler zu verzeihen, zu weit, um Instinkt genügen zu lassen. Er wartete. Drei Atemzüge. Fünf. Dann verlagerte er seine Position um gut zwei Meter nach links, kroch in eine Vertiefung zwischen dem Stalldach und einem halb verfaulten Balken. Von hier war die Sicht schlechter, aber Winkel veränderten alles.
Er hob das Gewehr langsam, keine überflüssige Bewegung. Der Marktplatz lag wieder still. Die Lücke zwischen den Häusern war leer. Er beobachtete die schmalen Schattenspalten zwischen eingestürzten Dachsparren. Überall konnte ein Auge lauern. Ernst ließ die Zeit länger laufen als sonst.
Nicht aus Unsicherheit, sondern weil er erkannte, dass sein Gegner dieselben Methoden nutzte wie er selbst: geduldiges Prüfen der Windkämme, der feinen Bewegungen in der Luft. Er konnte förmlich spüren, wie am anderen Ende der Ruinen ein Mann mit kalten Händen und ruhigem Herzschlag lag. Ebenso angespannt, ebenso wach, ebenso bereit. Dann flackerte wieder etwas. Nicht Licht, Bewegung.
Ein Stück Stoff, kaum sichtbar, hob sich für einen Hauch eines Moments. Vielleicht ein Ärmel, vielleicht nur der Schatten eines Arms, der eine Position wechselte, aber Ernst genügte das. Ein guter Schütze testet nie zweimal auf dieselbe Art. Er stellte den Fokus nach. Lufthauch, Klang des Windes gegen das Holz, ein fernes Rasseln, Kette oder losgetretener Schnee. Keine Relevanz, nur Hintergrund.
Seine Finger fanden den Abzug. Das Schießen selbst war immer der einfachste Teil. Der Schuss geschah in einer gemessenen Einheit von Wahrnehmung und Kalkulation. Es war das davor, das ihn jedes Mal mehr forderte als alles andere. Er feuerte, der Rückstoß vibrierte kaum, die Mündung hob sich nicht spürbar. Der Knall rollte an den Häusern entlang und brach sich in stumpfen Echos.
Ein Schwarm Krähen stob aus dem Schornstein einer Ruine. Ernst blieb vollkommen still. Zwei Sekunden, drei. Dann hörte er etwas Schweres in sich zusammensinken. Kein Schrei, kein Ruf, nur ein dumpfes Klappen, als würde jemand einen Sack Korn fallen lassen. Er wusste, dass er getroffen hatte, aber etwas störte ihn.
Es war zu einfach gewesen. Sein Gegner hatte einen Fehler gemacht. Aber warum? Kein erfahrener Schütze zeigte sich so offen, nicht wenn er wusste, wer ihm gegenüber lag. Ernst rückte ein wenig vor, das Gewehr eng am Körper. Er verließ seine Deckung nicht, aber er schob sich entlang der Stallwand, bis er einen anderen Blickwinkel auf die Ruinen bekam.
Dann erkannte er es. Der Körper, der zwischen zwei Balken lag, war nicht der eines Scharfschützen. Kein Mantel, kein Scharfschützengewehr, kein Glas, nur ein junger Soldat mit einem Fernglas, kaum älter als 18. Die Hände noch um die Riemen des Beobachtungsgeräts geschlossen. Ein Köder.
Das bedeutete: Der eigentliche Schütze war noch da. Ernst erstarrte. Wenn er selbst diese Falle gestellt hätte, wo würde er die Position wählen? Ein Punkt mit minimalem Reflexionswinkel, aber optimaler Sicht auf beide Flanken. Er verschob das Fernglas nur einen Finger…