Ende April 1945, als die Generäle ihre Karten über Europa fast fertig umgezeichnet hatten, gab es in Brandenburg noch Orte, an denen der Krieg sich weigerte zu enden. Auf dem Papier waren Armeen zerschlagen, Frontbögen begradigt, Pfeile in Rot und Blau markierten den historischen Wendepunkt.

Aber unter diesen Pfeilen lagen kleine Städte, in denen eine andere Art von Kämpfen begann. Keine heroische Schlacht, kein Endkampf zwischen Eliteverbänden, sondern eine ungleiche Konfrontation zwischen erschöpften, bewaffneten Einheiten und Menschen, an die niemand gedacht hatte und an die auch niemand denken wollte. Frauen ohne Waffen, Kinder, alte Leute, Männer ohne Gewehr, die schwächsten, die am Ende zwischen alle Fronten gerieten, ohne jemals gefragt worden zu sein.
Bevor der Blick auf Plessa fällt, steht Treuenbrietzen wie ein düsterer Vorbote im Hintergrund. Die Stadt hisst weiße Tücher am Rathaus, um die kampflose Übergabe zu signalisieren. Die deutschen Soldaten kapitulieren. Die Rote Armee zieht ein. Für einen Atemzug lang sieht es so aus, als sei alles vorbei. Dann fällt ein Schuss. Ein sowjetischer Offizier wird getötet. Bis heute bleibt unklar, ob durch die Kugel eines Hitlerjungen, eines Zivilisten oder durch einen Schuss im Streit während eines Siegesgelages der eigenen Truppen. Die Versionen widersprechen sich, die Details verschwimmen, die Folgen nicht. Deutsche Truppen schlagen zurück, erobern Teile der Stadt und erschießen hundert italienische Kriegsgefangene an einer Sandgrube.
Menschen, die schon längst aus der faschistischen Allianz ausgestiegen waren und dennoch am Rand einer chaotischen Frontlinie sterben. Als die Rote Armee zurückkehrt, dreht sich die Gewaltspirale erneut. Deutsche Zivilisten werden aus Häusern geholt, in den Wäldern getötet, in Eilgräbern verscharrt.
Lokale Forscher sprechen von hunderten Toten, vielleicht nahe an tausend. In den offiziellen DDR-Darstellungen werden viele von ihnen später zu Opfern eines Luftangriffs erklärt. Zahlen werden herunterkorrigiert, Ursachen umbenannt, damit das Bild vom makellosen Befreier nicht beschädigt wird. Vor diesem Hintergrund wirkt Plessa wie ein Punkt in derselben Schattenskizze.
Ein kleiner Ort mit knapp 3000 Einwohnern, einer wichtigen Kraftwerksanlage, Bahngleisen, ein paar Straßen, umgeben von Wäldern und Abbauflächen. Ein Ort, der auf keiner strategischen Übersicht prominent auftaucht und gerade deshalb zum Schauplatz einer Form von Krieg wird, für die es in den Lagebesprechungen keine eigene Legende gibt. Am 16. April beginnt die große Offensive der Roten Armee.
Die Heeresgruppen von Schukow und Konew rollen mit überwältigender Überlegenheit nach Westen. 8- bis 20-fache Stärke, je nach Waffengattung. In den Befehlen stehen Parolen vom Zerschlagen des Faschismus, aber zwischen den Zeilen finden sich Versprechen, die auf die erschöpften Soldaten mindestens genauso stark wirken.
Beute, Häuser, Alkohol, das Recht, sich endlich zu nehmen, was man vier Jahre lang nur im Propagandafilm gesehen hat. Für die Angreifer ist es der Weg nach Berlin. Für die Einwohner Plessas eine Welle, die sich über sie legt. Noch bevor die ersten Panzer der Roten Armee tatsächlich das Ortsbild berühren, ist der Krieg spürbar näher gerückt.
Das Hydrierwerk Schwarzheide wird wiederholt bombardiert. Flakstellungen feuern fast täglich. Sirenen heulen. Am Bahnhof trifft ein Angriff eine Lok. Der Lokführer stirbt an seinem Arbeitsplatz. Ein schlichter Hinweis, dass selbst die Flucht auf den Schienen keine wirkliche Option mehr ist. Der Plessaer Volkssturm, einige ältere Männer, kaum ausgebildet, stellt ein paar Panzerhindernisse auf, die niemand wirklich für sinnvoll hält. Und die gleichen Männer, die sie errichten, gehen kurz darauf nach Hause, weil sie wissen, dass sie weder den Krieg aufhalten, noch die Dorfbewohner schützen können.
Am 20. April werden zum letzten Mal die jüngsten Jahrgänge zusammengerufen. Jungen von 10, 12, 14 marschieren noch einmal in einer Kolonne. Die Papiere, die ihnen gefährlich werden könnten, werden verbrannt. Das Bataillon der Jungen wieder aufgelöst. Ein spätes Eingeständnis, dass man wenigstens diese Kinder nicht mehr in den direkten Kugelhagel schicken will.
Als am Abend des 21. April die ersten sowjetischen Vorausabteilungen aus Richtung Hirschfeld auftauchen, haben viele Plessaer längst Zuflucht gesucht in den Wäldern zwischen stillgelegten Gruben, in Erdlöchern, Kellern, auf dem Weinberg über dem Ort. In derselben Nacht explodiert das Munitionslager Hohenleipisch, eine Druckwelle, die Fenster bersten lässt und vielen klarmacht, dass nun nichts fernes mehr geschieht, sondern etwas, das ihnen direkt gilt.
Am 22. April besetzen sowjetische Truppen Plessa. Haus für Haus wird durchsucht, Schränke geöffnet, Keller ausgeleuchtet. Was mitgenommen werden kann, wird auf Lastwagen geladen, Möbel, Kleidung, Lebensmittel, alles was als Kriegsbeute gilt. In den Gassen sind es vor allem Frauen, Kinder, alte Menschen, die zurückgeblieben sind. Sie erleben, dass ihr Zuhause nicht mehr als Schutzraum zählt, sondern als Raum, durch den sich Soldaten bewegen, die auf dem Weg nach Westen sind.
Wer versucht, ein brennendes Haus zu löschen, gerät in Gefahr mit einem Befehl oder einem kurzen Feuerstoß zum Störfaktor gemacht zu werden. In den Außenbereichen, wo Menschen glaubten, dem Gröbsten entkommen zu sein, werden Gruppen entdeckt, auseinandergetrieben, misshandelt. Einige kehren nie zurück, andere leben den Rest ihres Lebens mit dem Gefühl, dass ihr Status als Zivilist niemanden interessiert hat.
Es hätte an diesem Punkt enden können. Plessa als ein Ort, der wie so viele andere einmal eingenommen, geplündert, terrorisiert und dann vom Krieg überrollt wird. Aber wie in Treuenbrietzen dreht sich die Schraube weiter. Nicht weit entfernt sind die Reste der Zehnten SS-Panzerdivision “Frundsberg” und andere Verbände bei Spremberg eingeschlossen.
In der Hoffnung, einen Korridor zu der Zwölften Armee Wenck zu schlagen, entscheiden die Kommandeure sich für einen Ausbruch durch die Niederlausitzer Wälder. Ein schwerer taktischer Fehler wiederholt sich. Zeit und Richtung des Durchbruchs werden über Funk übermittelt, unverschlüsselt. Die sowjetische Funkaufklärung, die seit Jahren an der deutschen Meldedisziplin arbeitet, fängt die Signale ab.
Artillerie und MG-Stellungen werden an den Flanken der erwarteten Route vorbereitet. Als der gemischte Zug aus Soldaten und Zivilisten am Dorf Kausche ankommt, marschiert er in eine Falle, die niemand im Ort je auf einer Karte gezeichnet gesehen hat, die aber tödlich präzise funktioniert. Kausche, ein Dorf, das heute fast aus dem Landschaftsbild verschwunden ist, wird am Abend zurückerobert.
Die Deutschen drängen sowjetische Einheiten hinaus, doch am nächsten Tag zeigt sich, dass der Sieg nur ein kurzes Aufatmen war. Der Ring um das Dorf hat sich geschlossen. Kausche ist eingekesselt. Am Morgen des April beginnt ein weiterer Ausbruchsversuch. Wieder auf Grundlage funktechnisch offener Informationen.

Die Kolonne setzt sich in Bewegung nicht nur aus waffentragenden Männern, sondern aus Frauen mit Kinderwagen, alten Leuten mit Bündeln, Wagen mit Habseligkeiten. Sie zieht über eine sumpfige Wiese, links und rechts begrenzt von Waldstreifen. Dort, unsichtbar für die im Morast vorankämpfenden Menschen stehen sowjetische Maschinengewehre und Geschütze bereit.
Zeitzeugen sprechen später davon, dass es wirkte wie ein Übungsschießen auf eine Menschenmenge, ein Satz, der das Grauen nur andeutet. Die genaue Zahl der Toten wird nie ermittelt werden. Man spricht von mehreren Tausend Deutschen, deren Leichen in Feldern, Wäldern, Notgräbern verschwinden. Die Rote Armee meldet vergleichsweise geringe eigene Verluste.
In diesem Raum, in dem Waffen-SS und Rote Armee einander mehrfach begegnet sind, ist der Krieg zu einer Form von Kampf geworden, in der Gefangene kaum noch gemacht, Verwundete oft nicht mehr als Menschen behandelt werden, sondern als Teil eines Feindbildes, das man nicht mehr differenziert. Die wenigen, die Kausche überleben, tragen mehr als nur physische Verletzungen mit sich.
Soldaten, die eben noch Kameraden, Flüchtlinge, ganze Familien auf diesem Totenfeld zurücklassen mussten, sind keine unberührten Kämpfer mehr, sondern zugleich Akteure und Opfer einer Eskalation, die jede Grenze verwischt. Am Nachmittag des 24. April steht ein zerschlagener Restverband von etwa 500 Frundsberg-Soldaten mit einer Kolonne traumatisierter Zivilisten vor Plessa.
Sie bringen ein paar Schützenpanzerwagen, einige Geschütze mit, aber vor allem die Erfahrung, dass man selbst zum Ziel hemmungsloser Gewalt geworden ist. Für sie ist Plessa nur eine Station auf dem Marsch Richtung Elbe, wo sie hoffen, sich amerikanischen Truppen stellen zu können. Für die Menschen, die sich in Kellern und Nebengebäuden des Ortes versteckt halten, bedeutet ihr Auftauchen die zweite Befreiung innerhalb weniger Tage.
Diesmal durch Truppen der eigenen Seite, getragen von Zorn und Erschöpfung. Der Angriff auf Plessa verläuft schnell. Die sowjetische Garnison wird überrascht. Deutsche Truppen dringen in den Ort ein. In der Logik dieser letzten Kriegstage, in der kaum noch jemand daran glaubt, in Gefangenschaft überleben zu können, wird jeder Gegner zum Ziel.
Berichte sprechen davon, dass selbst sowjetische Soldaten, die ihre Waffen niedergelegt hatten, erschossen wurden. Nach einer knappen Stunde ziehen die deutschen Verbände und der Flüchtlingstross weiter. Auf den Straßenzügen bleiben zerstörte Fahrzeuge, tote Soldaten und Zivilisten zurück und eine Wut, die sich nun nicht mehr abstrakt gegen ein feindliches Heer, sondern sehr konkret gegen den Ort selbst richtet. Am Morgen des 25. April kehren sowjetische Einheiten nach Plessa zurück und sehen die Leichen ihrer eigenen Leute.
Wer in den folgenden Stunden mit Lastwagen in den Ort geschickt wird, braucht keine schriftlichen Befehle mehr, um zu verstehen, was erwartet wird. Eine Einheit beginnt Häuser mit Benzin zu übergießen, Zündhölzer zu werfen, während die Flammen von Dach zu Dach springen. Wer versucht, mit Wasser, Decken, Eimern gegen das Feuer anzurennen, kann zur Zielscheibe werden. Eine zweite Einheit zieht durch die Straßen, zwingt Bewohner aus ihren Wohnungen, behandelt jeden, der geblieben ist, als Teil eines feindlichen Kollektivs. Manche werden auf der Stelle erschossen, andere misshandelt, viele so zugerichtet, dass später 160 Tote nicht mehr identifiziert werden können.
Schätzungen sprechen von mehreren hundert Toten allein in diesen Stunden, von rund 740 zerstörten Gebäuden. Plessa wird als Partisanenort abgestempelt. Ein Etikett, das für die militärische Logik bequem ist, weil es zwischen Kämpfer und Kind, zwischen bewaffnetem und bettlägerigem Alten nicht mehr unterscheiden muss. Für die Überlebenden beginnt nach diesem Tag eine andere Art von Rechtlosigkeit.
Ein Ort, der einmal als Partisanennest markiert worden ist, bleibt in den ersten Nachkriegsmonaten weitgehend schutzlos. Bewaffnete Gruppen, ehemalige Zwangsarbeiter, Versprengte aus allen Richtungen nutzen das Machtvakuum, um sich zu nehmen, was sie wollen. Plessa nicht mehr nur ein Schauplatz von Frontkämpfen, sondern ein Beispiel dafür, wie eine Dorfgemeinschaft zwischen militärischen Kategorien zerrieben wird, die keiner der Betroffenen mitformuliert hat.
In den Jahrzehnten danach werden viele dieser Vorgänge nur am Rand oder gar nicht erzählt. In der DDR gilt jede Kritik an der Roten Armee als Tabubruch. Ein NVA-Soldat, der einem Kameraden von Erschießungen in Treuenbrietzen berichtet, wird bei der Stasi denunziert und landet als warnendes Beispiel im Gefängnis.
Offizielle Stellen drücken Opferzahlen herunter, erklären Tote von Ende April kurzerhand zu Luftkriegsopfern vom 20. desselben Monats. Wenn Staatsanwälte in Brandenburg und anderswo später versuchen, Ermittlungen aufzunehmen, stoßen sie auf juristische Barrieren. Alliierte Kontrollratsgesetze schließen deutsche Zuständigkeit für Taten von Angehörigen der Siegermächte aus.
So bleiben viele Gräber in Plessa und Treuenbrietzen Gräber mit Datum, aber ohne benannten Verantwortlichen. All das zu benennen heißt nicht, die Geschichte umzuschreiben oder Täterrollen zu verwischen. Der Angriffskrieg des nationalsozialistischen Deutschland, die Verbrechen in Polen, in der Sowjetunion, auf dem Balkan, die Massaker von SS- und Wehrmachtseinheiten. Sie sind der Ausgangspunkt, ohne den die Ereignisse in Brandenburg nicht zu verstehen sind.
Aber gerade deshalb liegt in Plessa und Kausche eine andere ergänzende Lehre. Wenn Gewalt einmal als legitime Vergeltung akzeptiert wird, wenn man beginnt Zivilisten in Kategorien von weniger und auch mehr unschuldig einzuteilen, dann verschwimmt die Grenze, die eigentlich jede Armee schützen muss.
Auf dem Schlachtfeld stehen sich Soldaten gegenüber, die einander als Gegner sehen. In Orten wie Plessa trifft die Wucht bewaffneter Verbände auf Menschen, die weder Waffen noch Einfluss hatten, sondern schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort lebten. Dort wird aus Krieg eine Form kollektiver Bestrafung, die sich vor allem gegen diejenigen richtet, die am wenigsten mitzureden hatten.
Aus der Distanz von 8 Jahrzehnten wirkt die humanitäre Konsequenz selbstverständlich. Und doch musste sie immer wieder neu erkämpft werden. Kein militärischer Vorteil, kein Befehl von oben rechtfertigt es, Zivilisten zur Zielscheibe zu machen, sie zu entwürdigen oder ihrem Leid nachträglich den Status abzusprechen.
Frauen, Kinder, alte Männer in Plessa oder Treuenbrietzen waren nicht repräsentative Deutsche, keine verkörperten Sünden eines Regimes, sondern Menschen, denen niemand die Wahl gelassen hat. Die Generäle, die Funkzeiten festlegten, die Kommandeure, die Ausbruchsrichtungen bestimmten, hatten Handlungsoptionen. Diejenigen, die auf der Flucht im Sumpf zusammenbrachen oder im eigenen Haus vom Feuer eingeschlossen wurden, hatten sie nicht.
Wenn man heute auf Treuenbrietzen und Plessa schaut, stellt sich deshalb nicht nur die Frage, wer zuerst geschossen oder wer welchen Befehl unterschrieben hat, sondern auch warum dauerte es so lange, bis die Geschichten der Schwächsten überhaupt als erzählenswert galten? Warum wurden Kinder, Frauen, alte Menschen aus diesen Orten in der Erinnerungspolitik so oft zu einer Art Randnotiz, als wären ihre Tode eine logische Folge der großen Schuld, die dann Genüge getan sei? Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sie beginnt, Opfer nach politischer Nützlichkeit zu sortieren? Hier trauerwürdig, dort besser zu verschweigen?
Die Karten mit roten und blauen Pfeilen aus dem Frühjahr 194 liegen heute in Archiven. Erschlossen für Forschungsprojekte und militärhistorische Analysen. In Plessa und Treuenbrietzen aber stehen noch immer kleine Friedhöfe, einfache Steine, Geschichten, die in Familien weitergegeben werden über Tage, an denen Krieg und Frieden ununterscheidbar schienen.
Vielleicht liegt die eigentliche Lehre dieser Orte darin, dass ein Europa, das sich als Raum gleicher Würde versteht, sich keine bequemen Lücken mehr in seiner Erinnerung leisten darf, auch dann nicht, wenn es um die Kinder und Alten des besiegten Landes geht. Denn wenn das Schicksal der Wehrlosen immer wieder der Bildpflege der Sieger geopfert wird, woraus speist sich dann am Ende die behauptete moralische Überlegenheit? Und wenn schon die Erinnerung an kleine Orte wie Plessa im Schatten der großen Schlagworte verblasst, wer kann sicher sein, dass nicht eines Tages ein anderer Ort mit anderen Menschen genauso still zu Kollateralschäden auf einer neuen Karte erklärt wird.