Die Wahrheit über die 7,62 cm ‘Ratsch-Bumm’: Einsatz, Wirkung und Mythos

Die Wahrheit hinter dem Donnerhall: Wie die sowjetische „Ratsch-Bumm“-Kanone den Mythos deutscher Überlegenheit zerbrach


Die Legende des „Ratsch-Bumm“: Wie eine sowjetische Kanone zum Synonym für Schrecken und Niederlage wurde

Die Kriegsberichterstattung und die Memoiren von Frontsoldaten sind reich an spezifischen Begriffen, die die brutale Realität des Kampfes verdichten. Kaum ein lautmalerischer Ausdruck des Zweiten Weltkriegs hat jedoch eine solche mythische Tiefe erlangt wie das Wort „Ratsch-Bumm“. Dieser von deutschen Soldaten an der Ostfront geprägte Begriff beschreibt die 7,62 cm Divisionskanone M1942, in der Sowjetunion als ZiS-3 bekannt. Sie war nicht nur ein gewöhnliches Geschütz; sie war ein psychologisches Phänomen und ein Symbol für die schiere, erdrückende Übermacht der Roten Armee.

Dieser Artikel beleuchtet die Entstehung dieses berühmten Namens, die technischen Fakten, die ihn untermauern, und die faszinierende Ironie, dass die Waffe des Feindes bald zu einem lebensrettenden Rückgrat der deutschen Panzerabwehr wurde – ein Umstand, der die weit verbreitete Vorstellung von der technologischen Überlegenheit der Wehrmacht in ein neues Licht rückt.


Die Psychologische Kriegsführung der Akustik

Der Begriff „Ratsch-Bumm“ ist ein Onomatopoetikum, ein Kunstwort, das die zeitlich versetzte Wahrnehmung des Artilleriefeuers durch die beschossenen Soldaten widerspiegelt. Die lautmalerische Nachahmung setzt sich zusammen aus dem „Ratsch“ des Geschosseinschlags im Zielgebiet und dem verzögerten „Bumm“ des eigentlichen Abschussknalls in der Feuerstellung.

Für die deutschen Soldaten, die im Sommer 1941 an der Ostfront erstmals auf diese Weise beschossen wurden, war die Geräuschfolge eine schreckliche Erfahrung, die jede Vorwarnung zunichtemachte. Technisch lässt sich dies leicht erklären: Die sowjetische 7,62-cm-Kanone feuerte eine Sprenggranate mit einer Anfangsgeschwindigkeit von etwa 648 Metern pro Sekunde ab. Auf eine Distanz von beispielsweise 3.000 Metern benötigte das Geschoss rund sieben Sekunden bis zum Ziel. Der Schall des Abschusses – mit einer Geschwindigkeit von etwa 330 Metern pro Sekunde – brauchte jedoch über neun Sekunden, um dieselbe Strecke zurückzulegen. Das Ergebnis war, dass die ersten Granaten ohne jede akustische Vorwarnung einschlugen, abgesehen von einem kurzen pfeifenden Fluggeräusch. Dieses Phänomen verwandelte Artilleriebeschuss in ein noch unberechenbareres, traumatisch wirkendes Ereignis.


Ein Mythos, der auf Masse basierte

Interessant ist die Tatsache, dass der so gefürchtete „Ratsch-Bumm“-Effekt keine technische Besonderheit der sowjetischen Kanone war. Er trat vielmehr beim Schießen aller damaligen Hochleistungskanonen auf, deren Geschossgeschwindigkeiten über der Schallgeschwindigkeit lagen. Ein Vergleich mit dem viel älteren französischen Feldgeschütz MLE 1897 aus dem Ersten Weltkrieg beweist, dass bereits 1914 an der Westfront eine – wenn auch französische – „Ratsch-Bumm“ existierte.

Woran lag es also, dass gerade die russischen Divisionskanonen mit dieser legendären Lautmalerei belegt wurden? Die Antwort liegt nicht in der Ballistik, sondern in der schieren, erdrückenden Zahl dieser Geschütze.

Die Wucht der Roten Armee Artillerie

Die Artillerie der Roten Armee war im Zweiten Weltkrieg numerisch außerordentlich stark. Während eine deutsche Infanteriedivision lediglich über 24 leichte und 12 schwere Feldhaubitzen verfügte, umfasste eine sowjetische Schützendivision im Juni 1941 bereits 78 Feldkanonen und Haubitzen, darunter 20 Stück des 76,2-mm-Kalibers. Bis 1943 wurden diese Bestände in Garde-Schützendivisionen und Artilleriedivisionen kontinuierlich erweitert.

Diese massive zahlenmäßige Überlegenheit führte zu einer Wahrnehmung, die bei den deutschen Soldaten für besondere Verbitterung sorgte: die gefühlte Allgegenwart der „Ratsch-Bumm“. Deutsche Frontberichte beklagten die Praxis, mit der Kanone sogar auf kleine Gruppen und Einzelschützen – das sogenannte „Schießen auf Spatzen“ – gefeuert wurde. Diese gefühlte Verschwendung von Munition und die damit verbundene permanente Bedrohung trugen maßgeblich zum gefürchteten Ruf der Waffe bei.

Hinzu kam ein massenpsychologischer Faktor: Die Legende diente den teils schwer traumatisierten und gedemütigten deutschen Soldaten nach ihrer Rückkehr als scheinbar rationale Begründung für die empfundene tiefe Schuld und die Niederlage im Osten.


Von Putilov zur ZiS-3: Die Evolution eines Arbeitspferdes

Die 7,62-cm-Divisionskanone M1942 ZiS-3, die als berühmteste Vertreterin der „Ratsch-Bumm“-Klasse gilt, war der Höhepunkt einer langen Entwicklungslinie, die auf die 3-Zoll-Feldkanone Modell 1902 von Putilov zurückging. Im Zuge der Modernisierung der sowjetischen Artillerie in den 1930er Jahren entstanden Modelle wie die F-22 (Modell 1936), die mit ihrer hohen Rohrerhöhung von +75° theoretisch sogar zur Flugabwehr genutzt werden sollte.

Die ZiS-3 (benannt nach dem Hersteller Sawod imeni Stalina und der Baureihennummer 3) revolutionierte die Artillerie, da sie das Ziel der Vereinheitlichung verfolgte. Konstrukteur Wassili Grabin vereinfachte die Lafette der Vorgängermodelle, senkte das Gewicht auf nur 1.200 Kilogramm und vereinheitlichte viele Teile mit der 57-mm-Panzerabwehrkanone ZiS-2.

Das Ergebnis war ein leichtes, robustes, massenproduzierbares und hochwirksames Geschütz, das sowohl hervorragende Artillerie-Leistungen (Schussweite über 13 Kilometer) als auch herausragende Panzerabwehr-Fähigkeiten aufwies. Mit der Panzergranate BR-350A durchschlug die ZiS-3 auf 1.000 Metern Distanz bis zu 67 mm Panzerung und stellte somit eine existenzielle Bedrohung für deutsche Panzer III und IV dar. Diese Vielseitigkeit machte sie zum idealen Rückgrat der Divisionen und zur Hauptbewaffnung der 14.000-fach gebauten Selbstfahrlafette SU-76.


Die Waffe des Feindes wird zum Lebensretter der Wehrmacht

Die größte Ironie der „Ratsch-Bumm“-Legende liegt in der Tatsache, dass die Wehrmacht, deren Soldaten sie so fürchteten, die erbeuteten Kanonen selbst in großem Umfang nutzte. Schon im August 1941, kurz nach dem Überfall, hatte das Oberkommando der Wehrmacht (OKH) über 10.000 erbeutete Geschütze gemeldet.

Die deutsche Führung war von der ballistischen Überlegenheit der russischen 76,2-mm-Kanone erstaunt. Dokumente belegen, dass Rüstungsminister Albert Speer und sogar Hitler selbst die „artilleristischen Eigenschaften“ der Beutewaffen als teilweise „der deutschen Artillerie überlegen“ bewerteten. Es wurden Anweisungen erlassen, die Reichweite der deutschen Geschütze nach dem Vorbild der sowjetischen Konstruktion zu steigern.

Da die deutschen Verluste im Winter 1941/42 gewaltig waren und ein eklatanter Mangel an leichten Feldgeschützen in der Infanteriedivision herrschte, wurden die unveränderten Beutegeschütze als 7,62 cm Feldkanone 288(r) oder 296(r) in der Feldartillerie eingesetzt. Sie halfen nicht nur, die Verluste auszugleichen, sondern erhöhten auch die Panzerabwehrfähigkeit der Artillerieregimenter.


Meisterstück der Improvisation: Die Pak 36(r)

Die entscheidende Rolle erlangte die „Ratsch-Bumm“ jedoch in ihrer umgebauten Form als Panzerabwehrkanone. Die 7,62-mm-Divisionskanonen wurden von deutschen Ingenieuren so modifiziert, dass sie zur 7,62 cm Panzerabwehrkanone 36(r) wurden. Diese Umrüstung war ein technisches Meisterstück der Improvisation und Notwendigkeit.

Die wichtigste Änderung war die Vergrößerung des Ladungsraums (Kammer) des Rohres, um eine wesentlich längere deutsche Patronenhülse aufnehmen zu können. Dies erlaubte eine größere Treibladungsmenge, die in Kombination mit der neuen deutschen Panzergranatpatrone 39 die Anfangsgeschwindigkeit auf 740 Meter pro Sekunde steigerte. Mit dieser Munition durchschlug die Pak 36(r) auf 1.000 Metern Distanz beeindruckende 88 mm Panzerstahl. Damit war die umgebaute Beutewaffe leistungstechnisch mit der neu entwickelten deutschen 7,5 cm Pak 40 vergleichbar und den bis dato gängigen deutschen Panzerabwehrwaffen weit überlegen.

Diese Pak 36(r) wurde ab April 1942 an die Truppe ausgeliefert, sowohl auf Radlafette als auch auf gepanzerten Selbstfahrlafetten wie dem Marder I und dem Marder III. Das OKH unterstrich im August 1942 die Bedeutung der Waffe und ordnete an, alle Beutestücke zu sichern und beschleunigt zur Umrüstung rückzuführen, da das Geschütz „zu den besten Erfolgen geführt und Blut deutscher Soldaten gespart“ habe.


Fazit: Ein Symbol der militärischen Realität

Die Geschichte der „Ratsch-Bumm“ ist weit mehr als nur die eines gewöhnlichen Geschützes. Sie ist ein mikrokosmisches Abbild der brutalen Realitäten des Ostkrieges. Der Mythos, der um ihren Namen entstand, basierte auf der tiefen psychologischen Wirkung des unvorhergesehenen Einschlags und der erdrückenden quantitativen Übermacht der Roten Armee.

Die Ironie, dass die Wehrmacht in ihren kritischsten Phasen – insbesondere im Kampf gegen den T-34 – auf die umgebaute „Ratsch-Bumm“ angewiesen war, dient als historisches Korrektiv: 1942 waren die wirkungsvollsten Waffen, die die Panzerjägertruppe gegen moderne sowjetische Panzer aufbieten konnte, Geschütze russischer Herkunft.

Die 7,62 cm Divisionskanone ZiS-3 bleibt damit nicht nur ein legendäres Geschütz der sowjetischen Artilleriegeschichte, sondern auch ein stummer Zeuge für die Grenzen der deutschen Kriegsanstrengungen und ein Denkmal für die militärische Notwendigkeit, die den Mythos der technologischen Überlegenheit in den Schützengräben der Ostfront unwiderruflich zerbrach.

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