Markanter Merz in Brüssel: Kanzler fordert Deutschlands Führungsrolle in Europa zurück – und blamiert seinen Vorgänger

Article: Markanter Merz in Brüssel: Kanzler fordert Deutschlands Führungsrolle in Europa zurück – und blamiert seinen Vorgänger
Die europäische Bühne ist sein Revier. Mit dem Selbstverständnis des Regierungschefs der größten Wirtschaftsmacht in Europa hat Friedrich Merz, der neue Bundeskanzler, beim EU-Gipfel in Brüssel einen Auftritt hingelegt, der die Absicht einer Rückkehr zur deutschen Führungsverantwortung unmissverständlich unterstrich. Merz, dessen politische Karriere einst als kleiner Abgeordneter in der belgischen Hauptstadt begann, ist 36 Jahre später an den Ort seiner Anfänge zurückgekehrt – dieses Mal als Kanzler, der von der ersten Minute an Führung ausstrahlen will. Es war nicht nur ein Debüt; es war eine politische Kampfansage.
Die Rückkehr des Brüsseler Kenners: Merz’ Charmeoffensive
Friedrich Merz fühlt sich sichtlich wohl auf dem internationalen Parkett und dem roten Teppich. Sein Auftreten ist das Gegenteil dessen, was er selbst an seinem Vorgänger Olaf Scholz so scharf kritisiert hatte. Er sei angetreten, um seinen persönlichen Beitrag dazu zu leisten, dass Europa erfolgreich in die nächsten Jahre geht. Diese Mission begann nicht erst in Brüssel, sondern unmittelbar nach seiner Wahl, mit demonstrativen Besuchen in Paris und Warschau und einer symbolträchtigen Zugreise mit anderen europäischen Führern in die Ukraine.
Dieser forsche, aktive Führungsanspruch wurde international goutiert. Der Politikberater Johannes Hillje bescheinigt dem Kanzler einen gelungenen Start und positive Rückmeldungen, die unter anderem Deutschlands Investitionen in die eigene Sicherheit und die Stärkung der Achse zu Frankreich und Polen begrüßten. Die Erwartungen an den neuen Kanzler waren nach dem zurückhaltenden Stil von Olaf Scholz möglicherweise niedrig, was Merz’ Start zusätzlich begünstigte. Die Botschaft des Kanzlers, die er auf G7- und NATO-Gipfel stets im Gepäck hatte, lautete: Deutschland geht voran, wir haben keine Zeit zu verlieren.
Der peinliche Kontrast: Vom „schlumpfigen Scholz“ zum „markanten Merz“
Ein zentrales emotionales und politisches Element von Merz’ Auftreten ist der scharfe Kontrast zu seinem Vorgänger. Merz hatte Scholz’ Verhalten auf EU-Ebene in der Vergangenheit mit vernichtenden Worten kritisiert. Er befand es als „peinlich“, wie sich Scholz „auf europäischer Ebene verhalten“ habe, und sprach von „Fremdschämen“.
Diese Rhetorik, die den „schlumpfigen Scholz“ durch den „markanten Merz“ ersetzt, ist mehr als nur eine stilistische Veränderung. Sie ist eine bewusste Neupositionierung der Bundesrepublik. Merz’ „Sauerländer Charmeoffensive“ wird von dem unmissverständlichen Signal begleitet: Deutschland übernimmt Verantwortung und Führung. Er will vom ersten Moment an in Brüssel eine aktive Rolle spielen und damit die durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg neu gewichteten Machtverhältnisse in Europa festigen.
Hartherziger Empfang: Zwischen Applaus und forscher Kritik
In der Tat wurde der Neue in Brüssel herzlich begrüßt. Er erhielt lange Zeit Applaus von den Staats- und Regierungschefs. Er ist kein Unbekannter; er kennt nicht nur viele in der Runde aus anderen Formaten, sondern auch den Brüsseler Betrieb, den er nun als Kanzler der größten europäischen Wirtschaftsmacht maßgeblich mitgestalten will.
Doch diese Herzlichkeit hielt den Kanzler nicht davon ab, sogleich „forsch“ aufzutreten, wie Korrespondentin Tina Hassel bemerkte. Gleich zu Beginn der Woche hatte Merz die EU-Kommission und damit auch seine Parteifreundin Ursula von der Leyen öffentlich kritisiert. Sein Vorwurf: Die Kommission verhandle mit den USA in Wirtschaftsfragen „viel zu kompliziert und zu lange“. Diese öffentliche Rüge an der Spitze der EU-Exekutive zeigt, dass Merz bereit ist, die Ellbogen auszufahren und notfalls auch im eigenen politischen Lager für klare Verhältnisse zu sorgen.
Die Gretchenfrage der Finanzen: Keine gemeinsamen Schulden für die Verteidigung
Die Agenda des Gipfels war überladen und von höchster Dringlichkeit. Themen wie Nahost, Migration, Ukraine-Hilfe, Verteidigung und die europäische Wirtschaft beherrschten die Debatte. Während um das 18. Sanktionspaket gegen Russland noch bis zum späten Abend gerungen wurde – Ungarn und die Slowakei sollen noch Widerstand geleistet haben – war eine Entscheidung Merz’ von Anfang an unumstößlich: die Finanzierung der Verteidigungsausgaben.

Die Staats- und Regierungschefs hatten bereits die Notwendigkeit enormer Summen für die europäische Verteidigung beschlossen, doch die Frage des „Wie“ spaltete die Runde. Kanzler Merz und Deutschland machten in Brüssel klar, dass für die Finanzierung dieser Ausgaben keine gemeinsamen Schulden infrage kommen. Dieses Diktat, das die Stabilitätskultur der Bundesrepublik unterstreicht, setzt die anderen Mitgliedstaaten unter Druck, aber definiert auch die finanzielle Schmerzgrenze für die deutschen Führungsansprüche.
Ein riskanter Poker: Die Profilierung als Außenkanzler
Die Profilierung als „Außenkanzler“, wie sie Merz betreibt, ist jedoch ein riskantes Unterfangen. Der Politikberater Hillje wies darauf hin, dass man außenpolitisch viele Faktoren schlichtweg nicht kontrollieren könne. Entscheidungen über ein mögliches neues Handelsabkommen zwischen Europa und den USA liegen beispielsweise in der Hand der EU-Kommission.
Merz muss daher stets die Gefahr einkalkulieren, dass die Realität auf internationaler Bühne seine Pläne durchkreuzt. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Handelsstreit mit den USA, bei dem das Ultimatum eines ehemaligen oder potenziellen US-Präsidenten im Raum steht. Deutschland drängte beim späten Abendessen darauf, lieber einen nicht optimalen Deal zu akzeptieren, als am Stichtag mit leeren Händen dazustehen. Dies zeigt, wie schnell der Führungsanspruch eines Kanzlers durch die Unwägbarkeiten der globalen Politik ins Wanken geraten kann.
Die Herausforderungen sind immens:
- Migration bleibt ein traditionell kompliziertes Dossier.
- Die Klimaziele 2040 müssen politisch tragfähig diskutiert werden.
- Der Streit um das 18. Sanktionspaket muss beigelegt werden.
Der Kanzler, der seine politische Laufbahn in Brüssel begann, ist mit der klaren Absicht zurückgekehrt, die Führungsrolle für Deutschland im Bündnis zurückzuerobern. Er genießt den Applaus, kennt die Mechanismen und scheut die Konfrontation nicht. Doch das Ringen um gemeinsame Entscheidungen am Runden Tisch der EU ist traditionell eine komplizierte Sache. Merz’ forsche Art und sein Drängen auf Tempo könnten das Bündnis voranbringen – oder aber in den sensiblen Fragen der Verteidigungsfinanzierung und der Handelspolitik zu Widerstand führen. Der markante Merz hat einen gelungenen, aber riskanten Start hingelegt. Der Fortgang seiner Kanzlerschaft wird maßgeblich davon abhängen, ob er seine Führungsrolle in beherrschbare Ergebnisse ummünzen kann.
 
								 
								 
								 
								 
								