Die Akte Naidoo: Von „Adriano“ zum Hass-Prediger – Die Chronik eines tiefen Sturzes und das Schweigen der Musikindustrie

Die Akte Naidoo: Von „Adriano“ zum Hass-Prediger – Die Chronik eines tiefen Sturzes und das Schweigen der Musikindustrie

Es war ein Video, das Deutschland überraschte. Im April 2022 sitzt dort ein Mann, der jahrelang als Ikone und “Gallionsfigur” einer radikalen Bewegung galt, und spricht leise in die Kamera. Es ist Xavier Naidoo. “Ich habe mich Theorien, Sichtweisen und teilweise auch Gruppierungen geöffnet”, sagt er, “von denen ich mich ohne Wenn und Aber distanziere und lossage. Insbesondere und vor allem auch von rechten und verschwörerischen Gruppen.”

Diese drei Minuten erschütterten die Szene, die er jahrelang befeuert hatte, in ihren Grundfesten. Rechte Ideologen wie Attila Hildmann schäumten, bezeichneten ihn als “Verräter” und die Entschuldigung als “ekelerregend”. Andere Fans spekulierten, er sei erpresst worden oder das Video sei ein “Fake”. Für viele Beobachter war es schlicht der “erste notwendige Schritt für ein geplantes Comeback”.

Was war passiert? Eine monatelange Recherche zeichnet den Weg eines Mannes nach, der sich “vor den Augen der Öffentlichkeit radikalisiert” hat. Sie enthüllt ein Jahrzehnt voller antisemitischer Songtexte, Allianzen mit verurteilten Neonazis und einer erschreckenden “Mauer des Schweigens” in der deutschen Musikbranche, die all dies wusste, unterschätzte und, wie ein Insider berichtet, am Ende sogar aktiv vertuschen wollte.

Der Sound der “Montagsspaziergänger”

Um Naidoos Rolle zu verstehen, muss man ins Mannheim des Februars 2022 blicken. Monate vor seiner Entschuldigung ist er hier der unangefochtene Held der “Montagsspaziergänge”. Hunderte versammeln sich, um gegen Corona-Maßnahmen zu protestieren, und es dauert nicht lange, bis “der Soundcheck der Bewegung” ertönt: Xavier Naidoo. Seine Lieder werden hier nicht trotz, sondern “wegen seiner Ansichten gehört”.

Er ist mehr als nur ein Musiker; er ist ihr Megafon. Über seinen Telegram-Kanal, eine Parallelwelt mit über 100.000 Abonnenten, hetzt er, verbreitet “verschwörungsideologie und krude Thesen”. Er spricht von “Tribunalen” und schwört seine Anhänger auf einen Kampf “bis zum Tod” ein. Der Netzexperte Josef Holnburger analysiert die fatale Wirkung Naidoos: Er war eine “dankbare Persönlichkeit”, die ein “breiteres Publikum erreichen konnte”. Er holte seine eigenen Musikfans, die “mit dem Milieu bis jetzt noch keinen Kontakt hatten”, in eine Welt voller Hass. Holnburgers Analyse zeigt auch: Naidoo teilte und verstärkte aktiv “teilweise sehr kleine” und “aus dem rechtsterroristischen Bereich” stammende Kanäle. Über Naidoos Kanal landete man “relativ schnell bei Glorifizierung Adolf Hitlers, bei Hakenkreuzfahnen oder tatsächlich im Rechtsterrorbereich”.

Die frühen Warnsignale – “Baron Totschild”

Die Recherche zeigt: Diese Radikalisierung fiel nicht vom Himmel. Sie begann lange vor Corona. Während Deutschland Naidoo als den Mann feierte, der mit “Adriano (Letzte Warnung)” ein starkes Zeichen gegen Rechts setzte, schlichen sich bereits dunkle Töne in seine Musik. Eine Sprachwissenschaftlerin analysierte Naidoos Texte und datiert eine klare “Politisierung” und “Radikalisierung” auf das Jahr 2009.

In diesem Jahr, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, bedient sich Naidoo offen antisemitischer Codes. Im Lied “Verschieden” (2009) findet sich eine “Zinskritik”, die typisch für “rechtslibertäre Wirtschaftsideologien” ist. Der Weg vom Zins als “allem Übel in der Welt” ist, so die Expertin, “ganz schnell auch bei der antisemitischen Idee das Geldverleihers”.

Noch deutlicher wird es im Song “Raus aus dem Reichstag” (ebenfalls 2009). Dort textet Naidoo: “…wie ‘Baron Totschild’ euch mit ‘nem Riesen-Schmock aufmischt…”. Die Linguistin ist sich sicher: “Baron Totschild” ist eine “Verballhornung des Wortes Rothschild”, “Schmock” ein jiddisches Schimpfwort. Im Text wird eine “Geldelite”, eine “Finanzelite, die jüdische”, konstruiert, die “die Deutschen” als Opfer ausbeutet. Es sind klassische antisemitische Narrative.

Der öffentliche Absturz (2011-2014)

Trotz dieser Texte geht Naidoos Karriere weiter. 2010 gewinnt er einen Echo. 2011 wird er Juror bei “The Voice”. Im selben Jahr sitzt er im ZDF-Morgenmagazin und verbreitet zur besten Sendezeit lupenreine Reichsbürger-Theorien: “Wir sind immer noch ein besetztes Land. Deutschland hat keinen Friedensvertrag.”

Spätestens 2014 wird die Ideologie zur Aktion. Naidoo tritt in Berlin bei einer Reichsbürger-Demonstration auf. Sein Management behauptet, er sei “zufällig mit dem Fahrrad” vorbeigekommen. Eine Lüge, wie Naidoo Jahre später selbst auf Telegram zugibt. Er habe sich “zu Rüdiger Claßen und Carsten Halfter gesellt”.

Die Recherche enthüllt, wer diese Männer sind. Carsten Halfter, ein “Friedensaktivist”, der die Bundesrepublik als “Nazi-Verwaltungsregime” bezeichnet. Und Rüdiger Hoffmann (ehemals Klasen), Gründer von “staatenlos.info”, einer Seite voller antisemitischer Ideologien. Hoffmann, ein ehemaliges NPD-Mitglied, wurde 1994 “wegen versuchten Mordes verurteilt”, nachdem er 1992 einen “Anschlag auf eine Asylbewerbereinrichtung” mitorganisiert hatte. Mit diesen Leuten stand Xavier Naidoo 2014 auf einer Bühne.

Der Autor Tobias Ginsburg, der die Szene infiltriert hat, nennt Naidoo ein “Megafon”: “Das größte Geschenk, das du Antidemokraten geben kannst, das ist Plattform. Und das ist das, was Xavier Naidoo als Minimum getan hat.”

Die Mauer des Schweigens: Wie die Musikbranche Naidoo schützte

Erst jetzt, 2015, gibt es erstmals Konsequenzen. Nach öffentlicher Kritik wird Naidoos Nominierung für den Eurovision Song Contest zurückgezogen. Doch statt einer Distanzierung der Branche passiert das Gegenteil. Marek Lieberberg, einer der mächtigsten Konzertveranstalter Deutschlands und “langjähriger Geschäftspartner”, schaltet eine “Solidaritätsanzeige” in der FAZ.

Über 100 Prominente unterschreiben – ein Jahr nach Naidoos Auftritt bei verurteilten Neonazis und Reichsbürgern. Die Liste ist ein Schock: Til Schweiger, Jan Delay, Samy Deluxe.

Die Journalisten der Dokumentation erleben bei ihrer Recherche eine “Mauer des Schweigens”. Sie fragen fast 100 Promis an, die damals unterschrieben oder mit Naidoo gearbeitet haben: Cool Savage, Dieter Bohlen, Atze Schröder, Die Prinzen. Das Ergebnis: Absagen. Niemand will vor der Kamera reden. Auch Naidoos langjährige Band, die Söhne Mannheims, schickt nur ein nichtssagendes Statement.

Nur ein einziger Musiker ist bereit zu sprechen: Smudo von den Fantastischen Vier. Er gesteht, was viele nur dachten: Die Branche wusste Bescheid. “Ich weiß, dass wir viel darüber geredet hatten, untereinander im Kollegenkreis: ‘Hast du schon gehört, was der gemacht hat?’”. Doch man habe es verharmlost. “Ich habe das für eine Spinnerei, bekloppten Quatsch gehalten und habe das unterschätzt.” Smudo erklärt die Zurückhaltung auch mit Dankbarkeit: Naidoo habe viele Talente gefördert, war ein “riesengroßer Held”, und es falle schwer, sich “von dem ehemaligen Helden und Vorbild zu distanzieren”.

Der endgültige Absturz und das Schweigen des Geldes

Obwohl die Branche Bescheid wusste, geht Naidoos Karriere weiter. 2019 ist er Juror bei DSDS. Erst als 2020 ein Video auftaucht, in dem er rassistische Zeilen singt (“…was, wenn fast jeden Tag ein Mord geschieht, bei dem der Gast im Gastgeber ein Leben stiehlt”), wird der öffentliche Druck zu groß. Er wird aus allen TV-Formaten geworfen.

Jetzt “legt Naidoo erst richtig los”. Auf Telegram fällt die letzte Maske. Er postet offen antisemitisch: “Ich kann den sogenannten Juden nichts mehr glauben” und “Ich glaube die Lügen der Zionisten nicht mehr”. Seine Fans jubeln ihm zu. Sein letztes Projekt vor der plötzlichen “Pause” im Juli 2021 ist ein Song mit Hannes Ostendorf von der Band Kategorie C, die der “rechtsextremen Hooliganszene” zugeordnet wird. Ostendorf wurde ebenfalls “in den 90ern wegen eines Anschlags auf ein Flüchtlingsheim verurteilt”.

Trotz alledem: Sein Management hält an seiner Tour fest. Sie wird nicht abgesagt, nur wegen der Pandemie “immer wieder verschoben”.

Kurz vor Abschluss der Recherche meldet sich ein “Insider aus der Musikindustrie” anonym. Er enthüllt den möglichen Grund für die Mauer des Schweigens: “Marek Lieberberg hat die Leute, die ihr angefragt habt, davor gewarnt, mit euch zu sprechen.” Lieberberg, heute Deutschland-Geschäftsführer bei Live Nation, dem “größten Konzertagentur der Welt”, habe die Tür für Naidoo nie ganz zugemacht. Der Grund: Geld. Naidoo war eine “wichtige Einnahmequelle”. Mit den Vorwürfen konfrontiert, bestreitet Lieberberg, Dritte gewarnt zu haben.

Eine vage Entschuldigung

Während die Journalisten in Marbella, Naidoos Rückzugsort, vergeblich auf ein Interview warten, platzt das Entschuldigungsvideo in die Welt. Mitte April kontaktieren sie Naidoo erneut, konfrontieren ihn mit seinen Aussagen und bitten ihn noch einmal um eine Stellungnahme. Eine Woche nach Ablauf der Frist: dann die Überraschung. Er veröffentlicht auf Social Media ein Video, distanziert sich von seinen Aussagen und entschuldigt sich. “Ich habe erkannt, auf welchen Irrwegen ich mich teilweise befunden habe, und dass ich in den letzten Jahren viele Fehler gemacht habe”, sagt Naidoo, bleibt aber vage, schiebt immer wieder ein “teilweise” dazwischen.

Die Szene ist in Aufruhr und schockiert. Einige bezeichnen ihn als Verräter, beispielsweise Attila Hildmann, prominenter veganer Koch und rechter Verschwörungsideologe: “Ich empfinde das auch als ekelerregend und als Dolchstoß.” Andere wollen die Entschuldigung und Distanzierung nicht wahrhaben und spekulieren über die möglichen Hintergründe seines Videos: “Ich glaube also nicht, dass er den Text selber geschrieben hat. Was natürlich dahinter stecken könnte, ist, dass man das von ihm verlangt hat.” Viele mutmaßen, das Video sei ein erster notwendiger Schritt für ein geplantes Comeback.

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