Irgendwo in der Ferne läutete eine Glocke, und es kam ihr vor, als sei es das Leben selbst, dass ihr dafür dankte, dass sie keine Angst gehabt hatte. Die dichte kalte Nacht über dem Anwesen der Harrisons war nicht nur ein Fehlen von Licht, sie war eine Präsenz. Sarah lag wach in ihrem kleinen Dachzimmer im Angestellten Flügel und starrte an die Decke.
Der Schock der vergangenen Nacht saß ihr noch tief in den Knochen. Sie sah immer wieder Dianas kalte Augen vor sich, hörte das Geräusch der Erde, die auf den kleinen Körper fiel. Sie hatte Timothy gerettet, ja, aber das Gefühl des Triumphs wurde von einer tiefen, nagenden Angst überschattet.
Was war das für eine Welt, in der eine Frau, eine Stiefmutter, zu einer solchen Tat fähig war? Und was für eine Frau war sie, Diana Harrison, die zweite Ehefrau des Milliardärs, die mit ihrem Lächeln die Titelseiten der Gesellschaftsmagazine zierte. Sarah kannte sie als eine Frau von kühler, distanzierter Schönheit, die selten ein Wort mit den Angestellten wechselte.
Es sei denn, um Befehle zu erteilen. Ihre Beziehung zu Timothy war ihr immer seltsam vorgekommen. Es war keine offene Feindseligkeit, sondern eine Art Gleichgültigkeit, die fast noch beängstigender war. Timothy selbst war ein ruhiger, fast schon melancholischer Junge, der seit dem Tod seiner leiblichen Mutter vor zwei Jahren oft allein im riesigen Garten spielte. Sarah stand leise auf.
Ihre Füße fanden den kalten Holzboden. Sie mußte nach ihm sehen. Sie schlich den Flur entlang, der zum Poolhaus führte. Sie hatte Mr. Harrison überzeugen können, dass Timothy vorerst dort bleiben sollte, weit weg von dem Haus, das nun ein Ort des Grauens war. Die Polizei hatte das Gelände abgeriegelt, aber das Poolhaus war privat, bewacht von Harrisons eigener Security.
Als sie eintrat, war es still. Ein kleines Nachtlicht brannte. Timothy schlief in einem provisorischen Bett, das sie hergerichtet hatten. Sein Atem ging ruhig. Neben ihm saß Mr. Harrison in einem Sessel, das Gesicht in den Händen vergraben. Er hatte seit Stunden nicht geschlafen. Er blickte auf, als Sarah eintrat. Seine Augen waren rot gerändert.
“Er ist aufgewacht”, flüsterte er. Er hat er hat gefragt, ob Diana jetzt ein Engel ist, so wie Mama. Saras Herz zog sich zusammen. Was haben Sie gesagt, Sir? Harrison schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich habe gelogen. Ich habe gesagt, sie sei weit weggereist. Er sah Sarah an, eine Verzweiflung in seinem Blick, die nichts mit seinem Geschäftsimperium zu tun hatte.
Sarah, wie konnten die Ärzte? Sie sagten er sei klinisch tot gewesen. Was haben Sie getan? Sarah setzte sich auf einen Hocker. Ich weiß es nicht, Sir. Ich habe gebetet. Sie erzählte ihm von ihrer Großmutter in Deutschland, von den alten Worten, die sie ihr beigebracht hatte, nicht als Magie, sondern als Akt des reinen Willens, als Forderung an das Leben nicht nachzugeben.
Harrison hörte schweigend zu. “Glaube”, murmelte er. “Ich habe seit Jahren an nichts mehr geglaubt, nur an Zahlen, an Bilanzen.” Er blickte auf seinen Sohn. Sie haben nicht nur ihn gerettet, sie haben auch mich gerettet. In diesem Moment wurde Sarah klar, dass ihr Leben nie wieder dasselbe sein würde.
Sie war nicht mehr nur die Hausangestellte. Sie war die Zeugin, die Retterin, die Trägerin eines Geheimnisses, das größer war als sie alle. Draußen vor den Toren begann der Medienzirkus. Die ersten Lieferwagen mit Satellitenschüsseln parkten am Straßenrand. Die Geschichte war zu perfekt. Reichtum, Schönheit, Verrat und ein Wunder.
Am nächsten Morgen war das Chaos perfekt. Dutzende von Reportern drängelten sich am Haupttor. Helikopter von Nachrichtensendern kreisten über dem Anwesen und verletzten den Luftraum. Sarah, die versucht hatte, in die Hauptküche zu gelangen, um Timothy eine richtige Mahlzeit zu kochen, wurde von dem Lärm überwältigt.
Mr. Harrison hatte ein Team von Anwälten und PR-Batern einberufen, die in der Bibliothek eine Krisensitzung abhielten. Sarah wurde hineingerufen. Der Hauptanwalt, ein Mann namens Warren, mit scharfem Anzug und eiskalten Augen, musterte sie. Miss, es ist Sarah, nicht wahr? Sarah Müller. Er sprach ihren Namen aus, als wäre er eine Fußnote.