Manchmal kommt sie spät. und manchmal durch Hände, von denen man es nie erwartet hätte. Nach dem Prozess verging ein Jahr schneller, als ich gedacht hatte. Der Winter kehrte zurück nach Frankfurt. Lichterketten über der Zeil, Glühweinstände vor der Kirche, dieselben Melodien, derselbe Geruch nach Zimt und Rauch. Die Stadt sah aus wie in jedem anderen Dezember.
Doch in mir war alles still geworden, als hätte jemand den Lautstärkeregler der Welt leiser gedreht. Sophie war wenige Monate nach dem Prozess nach Hamburg gezogen. Sie fand eine Stelle bei einer kleineren Bank, weit entfernt von jeder Verbindung zu Daniels früherem Umfeld.
Beim ersten Videoanruf aus ihrer neuen Wohnung sah ich hinter ihr das Fenster zum Hafen, ein halblees Bücherregal, ihr Haar streng zusammengebunden. “Die Arbeit ist gut, die Kollegen freundlich”, sagte sie. Ich habe Ihnen erzählt, ich hätte einmal eine unglückliche Ehe geführt. Mehr muß keiner wissen. Sie redete weniger als früher, aber jedes Mal, wenn sie anrief, wirkte ihr Blick fester.
Manchmal erzählte sie von schwierigen Kunden, von Kollegen, die Kuchen mitbrachten, vom Dauerregen in Hamburg. Daniel erwähnte sie nie mehr. Sein Name war ausgelöscht aus ihrer Geschichte, obwohl die Narbe, die er hinterlassen hatte, noch da war, nur überdeckt von neuer Haut. Von Erik wußte ich offiziell nichts. Doch eines Tages ließ der Ermittler beiläufig fallen.
Er arbeitet ehrlich, gar nicht so weit von Frankfurt in einer Autowerkstatt. Das passt zu ihm. Ein paar Wochen vor Weihnachten fand ich eine Karte I am Briefkasten. Weißer Umschlag, vertraute Handschrift. Kein Absender, nur ein Poststempel aus einem Vorort. Darin eine einfache Karte mit einer Tanne und der kurzen Zeile. Frohe Weihnachten und Frieden. EK nicht mehr, aber es brauchte auch nicht mehr.
Ich stellte die Karte auf das Regal am Wohnzimmer neben ein altes Foto von Sophie als Kind. An Heiligabend blieb ich dieses Mal zu Hause. Keine Freunde, kein Essen in Gesellschaft. Ich zog Mantel und Schal an und ging am Meinufer entlang. Die Stadt leuchtete, doch unten am Wasser war es stiller, nur ein paar Spaziergänger, ein Hund, ein Pärchen Arm in Arm. Ich ging langsam bis zur Bushaltestelle von damals.
Sie sah fast unverändert aus. Glasdach, Fahrplan, kalte Metallbank. Die Menschen kamen und gingen. Kaum jemand blieb stehen. Ich trat ans Geländer, blickte auf den Fluss und nahm eine kleine Kerze und ein Feuerzeug aus der Tasche. Der Wind bliß mehrmals aus. bis die Flamme endlich standhielt. Schwach, aber ruhig.
Ich stellte die Kerze neben das Geländer, genau dort, wo damals die silberne Decke gelegen hatte. Ich kannte den Namen der obdachlosen Frau nicht, die getroffen worden war, wusste nicht, ob jemand um sie getrauert hatte. Ich flüsterte nur leise. Für sie, die Frau, die die Kugel für meine Tochter getragen hat.
Feiner Schnee begann zu fallen, zart und flüchtig, schmolz beim Aufprall auf die Kerze. Ich stand da eine Weile, sah der kleinen Flamme zu, wie sie gegen den Wind ankämpfte. Als ich mich schließlich umdrehte, bemerkte ich auf der anderen Straßenseite neben einer Laterne einen Mann. Dunkler Mantel, Mütze tief ins Gesicht, die Hände in den Taschen. Wäre da nicht dieses seltsame Gefühl gewesen, die Silhouette wieder zu erkennen? Ich wäre einfach vorbeigegangen.
Der Wind drehte sich. Sein Ärmel rutschte ein Stück hoch. Eine blasse Narbe blitzte auf. Mehr musste ich nicht sehen. Ich blieb stehen. Er bewegte sich nicht. Zwischen uns lag die Straße. Ein paar Autos fuhren vorbei. Reifen zischten auf dem nassen Asphalt. Für einen flüchtigen Moment sahen wir uns an. Keine Geste, kein Wort, kein Lächeln.
Zwischen unseren Blicken lag eine ganze Geschichte aus Schuld und Wiedergutmachung. die regerasse Nacht auf der A6, die Schüsse an der Bushaltestelle, der Verhörraum, der Prozess, die Weihnachtskarte mit den zwei Buchstaben EK, dann fuhr ein Bus vorbei. Als er weiter rollte, war die Stelle neben der Laterne leer. Ich war nicht überrascht.
Ein Mann wie Erik erschien nicht, um sich zu verabschieden. Es reichte ihm zu wissen, dass ich ihn nicht vergessen hatte. Auf dem Rückweg ging ich langsamer. Jeder Schritt zog alte Bilder mit sich. Die blutige Hand, die meine auf der Autobahn festhielt, die angstvolle Frage: “Werde ich sterben? Mein zögerndes Nein, an das ich selbst kaum glaubte.