„Elena. Letzte Nacht sah ich etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich sah Liebe in Ruinen. Ich sah Stärke als Stille getarnt. Und ich verstand auf eine Weise, wie ich fast nichts verstehe, dass vielleicht kein Geld der Welt so viel wert ist wie der Mut, ein Abendmal aus Resten zuzubereiten und dennoch drei Kinder glauben zu lassen, sie erlebten ein Wunder. Diese Karte deckt eine Jahresmiete im voraus und genug, damit ihre Kinder sich keine Matratze mehr teilen müssen. Ich verlange nichts im Gegenzug. Aber wenn Sie Ihre Geschichte eines Tages erzählen möchten, ich bin da. Konrad“
Elena setzte sich auf die hintere Bank in der Küche, ihre Hände zitterten. Sie weinte still, aber sie sagte niemandem etwas.
Sie kehrte einfach mit der versteckten Karte in der Tasche nach Hause zurück. Als ihre Kinder fragten, warum sie anders sei, sagte sie nur: „Der Weihnachtsmann war da. Er hatte nur etwas Verspätung.“
In den Tagen nach Weihnachten änderte sich etwas in der Villa von Bruckner. Doch nur wenige bemerkten es.
Es war, als wäre die Luft weniger dicht geworden. Konrad, der sonst immer mit festen schnellen Schritten lief, verharrte nun eine Sekunde länger, um die Gesichter der Angestellten zu mustern. Er verbrachte mehr Zeit im hinteren Teil des Hauses, wo er zuvor nie einen Fuß gesetzt hatte, und manchmal blieb er vor den langen Fenstern der Bibliothek stehen und starrte in den Schnee mit Augen, die etwas in der Vergangenheit zu suchen schienen.
Elena setzte ihre Arbeit mit der gewohnten Sorgfalt fort, doch nun lag eine Spannung in der Luft. Sie wußte, daß er wußte, und sie konnte nicht entscheiden, ob dies Erleichterung oder Angst war. Erst in der ersten Januarwoche waren die beiden zum ersten Mal zufällig allein. Sie ordnete Bücher im Leseflügel, eine Aufgabe, für die sie Überstunden bekam, als Konrad unvermittelt eintrat.
Sie drehte sich schnell um, das Tuch noch in der Hand. Er hielt inne. Das Schweigen zwischen ihnen wog schwer wie angesammelter Schnee auf dem Dach.
„Haben Sie die Karte erhalten?“ fragte er ohne Umschweife.
Sie nickte, den Blick gesenkt.
„Nutzen Sie sie?“
„Noch nicht. Ich habe sie weggeschlossen.“
„Warum?“
„Weil ich nicht verstehe, was Sie wollen.“
Konrad atmete tief durch, trat langsam näher und sprach in einem Ton, den sie nie von ihm gehört hatte.
„Ich will nichts. Ich kann nur nicht mehr so tun, als hätte ich das, was ich sah, nicht gesehen. Und ich will auch nicht länger die Art Mann sein, die die Welt ignoriert, indem sie vorgibt, sie existiere nicht.“
Elena sah ihn an. Zum ersten Mal waren ihre Augen nicht matt. Da war eine ganze Frau, müde, aber ganz.
„Die Welt, in der ich lebe, passt nicht in ihre“, sagte sie. „Man kann keinen schwarzen Karton über die Risse kleben. Ich will kein Mitleid. Ich will einfach nur weitermachen.“
„Sie wollen keine Hilfe.“
„Ich will sie nicht brauchen.“
Er schwieg. Es gab kein Argument, nur die nackte Wahrheit dieser Frau. Tage später erhielt Elena einen Brief nach Hause. Handschriftlich, ohne sichtbaren Absender. Nur ein Satz:
„Wenn Sie bereit sind, nicht nur weiterzumachen, sondern zu wählen, was danach kommt, sagen Sie es mir.“
Im Brief befand sich eine Kopie ihres Arbeitsvertrages nun mit einer Anmerkung: „Flexible Arbeitszeiten, Priorität für die Kinder.“
Da begann Elena langsam ihre Schutzmauer fallen zu lassen. Sie sprach mit ihren Reinigungskollegen über ihre Kinder. Sie zeigte ein Foto, erzählte, dass sie Tobias, Lina und Jonas hießen, dass sie Frühchen gewesen waren, dass ihr Vater sie noch während der Schwangerschaft verlassen hatte und dass das Wenige, was sie schaffte, von Gelegenheitsjobs, Zeitarbeit und einer älteren Nachbarin Frau Brand stammte, die sich aus Liebe und Erbarmen um die Kinder kümmerte.
Hanna, die Haushälterin, hörte zu und begann, sie mit mehr Menschlichkeit zu behandeln. Herr Keller, der Fahrer, bot diskrete Mitfahrten an. Die Villa reagierte allmählich auf die Wahrheit, die unter der blauen Uniform verborgen lag. Doch der wahre Wendepunkt kam an einem eiskalten Morgen, als ein luxuriöser Van der Firma von Bruckner vor Elenas Wohnblock parkte.
Darin Kisten mit Spielzeug, Büchern, Decken und gebrauchten Möbeln in sehr gutem Zustand. Keine Notiz, keine Unterschrift. Sie stand mit Tränen in den Augen auf dem Bürgersteig, nicht wissend, ob sie lachen oder weinen sollte. Frau Brand erschien in der Tür lächelnd: