Sie ist das vielleicht größte und beständigste Mysterium der europäischen Popkultur. Amanda Lear, die Frau mit der tiefen, rauchigen Stimme, den endlosen Beinen und einer Aura, die zwischen Hochkultur und Disco-Dekadenz oszilliert. Sie war Sängerin, Malerin, Model, Moderatorin und Schauspielerin. Sie war die Muse von Salvador Dalí, die Geliebte von David Bowie und die Frau auf einem der ikonischsten Plattencover der Rockgeschichte. Doch über all dem schwebte jahrzehntelang eine einzige, alles überschattende Frage: Wer ist Amanda Lear wirklich?
Ihr Leben war ein Labyrinth aus Widersprüchen. Ihr Geburtsdatum? Mal 1939, mal 1946, mal 1950. Ihr Geburtsort? Saigon, Hongkong, vielleicht sogar Transsilvanien. Ihre Eltern? Ein Brite, ein Franzose, ein Russe, eine Vietnamesin, eine Chinesin. Und die größte Spekulation von allen, das Gerücht, das sich wie ein roter Faden durch ihre gesamte Karriere zog: War Amanda Lear als Mann geboren?
Jetzt, mit 85 Jahren, in einem Alter, in dem die Masken fallen und die Notwendigkeit der Inszenierung verblasst, öffnet die Diva die Tür zu ihrem sorgfältig konstruierten Leben. Sie bricht ihr Schweigen und spricht endlich über das, was die Welt seit über 60 Jahren vermutet. Die Wahrheit ist, wie zu erwarten war, weitaus komplexer und faszinierender als jede Schlagzeile. Es ist die Geschichte einer radikalen Selbsterschaffung, eines brillanten Marketingcoups und einer Frau, die die Regeln einer von Männern dominierten Welt nicht nur brach, sondern neu schrieb.

Das Konstrukt einer Identität: „Das ist die Grundlage, um interessant zu sein“
Um Amanda Lear zu verstehen, muss man ihre Fähigkeit zur Metamorphose begreifen. Nichts an ihr schien greifbar. Selbst ihr langjähriger Ehemann, Alain-Philippe Malagnac, wusste nicht, in welchem Jahr sie geboren wurde. Während die meisten offiziellen Quellen heute 1939 als ihr Geburtsjahr nennen, präsentierte sie selbst 2010 einer französischen Zeitung stolz einen Ausweis mit dem Geburtsdatum 18. November 1950, Saigon.
Diese Widersprüche waren kein Zufall. Sie waren Strategie. In einer Dokumentation von 2022 brachte es der Musikkritiker Gino Castaldo auf den Punkt: Lear und David Bowie waren Meister darin, die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion zu verwischen und ihre Biografien selbst zu Kunstwerken zu machen. Amanda Lear gab diese absichtliche Verwirrungstaktik offen zu: „Das ist die Grundlage, um interessant zu sein.“
Der Lehrmeister für diese Taktik war kein Geringerer als der Gott des Surrealismus selbst: Salvador Dalí. Er war es, der ihr den wichtigsten Rat ihrer Karriere gab, als sie ihre ersten Schritte als Sängerin wagte. Wie sie sich erinnerte, sagte Dalí ihr direkt ins Gesicht: „Du bist eine mittelmäßige Sängerin und brauchst etwas Außergewöhnliches, um Aufmerksamkeit zu erregen.“ Also erschufen sie gemeinsam die „mehrdeutige Figur der Amanda Lear“.
Das größte Tabu: War sie Alain Tap?
Dieses „Außergewöhnliche“ war das Spiel mit der ultimativen Provokation: der Geschlechtsidentität. Von Beginn ihrer Karriere an kursierten Gerüchte, sie sei entweder eine Drag Queen oder intersexuell. Medien in Frankreich, Großbritannien und Italien druckten in den 60er und 70er Jahren angebliche Geburtsurkunden, die einen Alain Maurice Louis René Tap, geboren am 18. Juni 1939 in Saigon, auswiesen. Es tauchten Fotos auf, die angeblich einen jungen Mann vor einer Geschlechtsumwandlung zeigten.
Die Gerüchte wurden von ihrem eigenen Umfeld befeuert. Die berühmte Stylistin Mary Quant beschrieb in ihrer Autobiografie, wie sich in den 60er Jahren andere Models weigerten, ein Zimmer mit Lear zu teilen, mit der Begründung: „Sie ist ein Mann.“ Die berühmte transgender Künstlerin Coccinelle, eine Pionierin der Geschlechtsangleichung, schrieb in ihren Memoiren, sie habe Lear in Casablanca getroffen, wo sich diese einer Operation durch Dr. Georges Burou unterzogen habe – damals bekannt als „Alain Tap“.
Und was sagte Amanda selbst? Sie jonglierte mit den Anschuldigungen. Mal wies sie es als „verrückte Idee eines Journalisten“ zurück. Mal deutete sie an, Dalí oder sie selbst hätten das Gerücht zur Provokation in die Welt gesetzt. Erst 2018, im Gespräch mit Mara Venier, gab sie die volle Absicht zu: „Ich tat so, als wäre ich ein Mann, nicht nur zur Provokation, sondern auch, weil ich keine echte Stimme hatte und nicht wusste, wie man singt.“