Elara war in dem riesigen Herrenhaus ihres Sohnes zu einem Geist geworden. Eine flüsternde Gestalt, die durch vergoldete Gänge glitt. Jeder Tag stahl ihr ein weiteres Stück Substanz, bis ihre Kleider an ihr hingen wie an einem Vogelscheuchengestell und ihre Augen in den Höhlen ihres schmalen Gesichts versunken waren.

„Sie war ein Schatten am Rande eines Festes, eine Mutter, die im Überfluss langsam verhungerte. Ihr Sohn Liam sah es, aber er verstand es nicht, bis ein einziges zufälliges Ereignis, das leise Klicken einer versteckten Kamera, die monströse Wahrheit über seine Frau Isabella ans Licht brachte und die Fundamente seiner Welt erschütterte.“
Liam stand vor der Tür zum Zimmer seiner Mutter, die Hand zum Klopfen erhoben, doch er zögerte. Ein Gefühl kalter Vorahnung kroch ihm den Rücken hinauf, eine vertraute Angst, die in den letzten Monaten zu seinem ständigen Begleiter geworden war. Durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür sah er Elara in ihrem Sessel am Fenster sitzen.
„Sie blickte hinaus auf die makellos gepflegten Gärten, aber ihre Augen schienen nichts zu sehen. Das Sonnenlicht, das durch das Glas fiel, beleuchtete die erschreckende Zerbrechlichkeit ihrer Gestalt. Ihre Wangenknochen standen scharf hervor und die Haut an ihren Armen war dünn wie Pergament. Sie hatte wieder abgenommen. Der Gedanke traf ihn nicht wie ein Blitz, sondern sickerte langsam und giftig in sein Bewusstsein, so wie es schon seit Wochen der Fall war.“
Er erinnerte sich an den Tag, an dem Elara zu ihnen gezogen war, vor etwas mehr als einem Jahr. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters war sie ein Wrack gewesen, aber selbst in ihrer Trauer hatte sie eine innere Stärke, eine Lebenskraft, die den Raum erfüllt hatte. Sie war eine Frau gewesen, deren Lachen ansteckend war und deren Hände immer beschäftigt waren, sei es beim Backen ihrer berühmten Apfelkuchen oder beim Umtopfen von Geranien auf der Terrasse.
„Isabella hatte den Vorschlag, sie aufzunehmen, mit einer zur schau gestellten Wärme begrüßt, die Liam damals das Herz erwärmt hatte. Er hatte gedacht, er sei der glücklichste Mann der Welt mit einer liebenden Mutter und einer verständnisvollen Frau unter einem Dach. Doch die lebhafte Frau, die damals angekommen war, war verschwunden.“
„An ihre Stelle war diese stille, gebrechliche Kreatur getreten, die kaum noch sprach und deren Appetit scheinbar versiegt war. Anfangs hatte Liam es auf ihre anhaltende Trauer geschoben. Dann hatten die Ärzte eine Reihe von Tests durchgeführt, aber keine körperliche Ursache gefunden. ‚Manchmal ist es psychologisch‘, hatte Dr. Evans sanft gesagt. ‚Depression kann den Appetit stark beeinträchtigen.‘ Liam hatte sich an diese Diagnose geklammert, weil sie eine Erklärung bot, die niemanden beschuldigte. Isabella schien sich rührend um sie zu kümmern. Sie bereitete spezielle nahhafte Brühen zu, saß an Elaras Bett und versuchte sie zum Essen zu überreden.“
„‚Sie will einfach nicht, Liebling‘, sagte sie oft zu Liam, ihre Stimme voller gespielter Sorge. ‚Ich versuche alles, aber sie schiebt den Teller einfach weg.‘ Liam sah die vollen Tablets, die aus dem Zimmer seiner Mutter zurückkamen und sein Herz wurde schwer vor Schuld und Hilflosigkeit. Er war ein Millionär, ein Mann, der komplexe Geschäftsabschlüsse mit einem Fingerschnippen regelte, aber er konnte seine eigene Mutter nicht dazu bringen, zu essen.“
„Die ersten leisen Zweifel hatten sich vor ein paar Monaten eingeschlichen. Elara hatte versucht mit ihm zu sprechen, ihre Stimme ein zittriges Flüstern. Sie hatte von Isabella gesprochen, von kleinen Grausamkeiten, die so subtil waren, dass sie kaum greifbar schienen. Sie hatte gesagt, das Essen schmecke manchmal seltsam, metallisch.“
„Sie hatte erwähnt, daß Isabella ihr sagte, sie sei eine Last, daß Liam sie nur aus Pflichtgefühl ertrage. Als Liam Isabella damit konfrontierte, brach diese in Tränen aus. Sie warf ihm vor, den verwirrten Worten einer alten Frau mehr zu glauben als seiner eigenen Ehefrau. Sie malte ein Bild von sich selbst als aufopferungsvolle Pflegerin, die undankbar behandelt wurde.“
Liam, gefangen zwischen Loyalität und einem aufkeimenden Verdacht, hatte sich bei seiner Frau entschuldigt und die Worte seiner Mutter als Symptome ihrer Depression abgetan. Die Schuld daran nagte an ihm, jedes Mal, wenn er seine Mutter ansah. Jetzt, als er sie durch den Türspalt beobachtete, wusste er, dass er nicht länger wegschauen konnte.
„Dies war mehr als Trauer. Dies war ein Verfall, ein aktives Auslöschen. Er sah, wie die Haushälterin Maria ein Tablett mit einem duftenden Eintopf und frischem Brot brachte. Maria war schon bei seiner Familie, seit er ein kleiner Junge war, eine stille, aber aufmerksame Präsenz. Sie stellte das Tablett auf den kleinen Tisch neben Elara und sagte ein paar leise, aufmunternde Worte.“
„Elara nickte nur schwach, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Wenige Minuten später erschien Isabella in der Tür, ihr Lächeln so strahlend und falsch wie ein Juwel aus Glas. ‚Na, wie geht es meiner liebsten Schwiegermutter heute?‘, zwitscherte sie. Sie ging zu Elara, strich ihr über das Haar und nahm den Löffel in die Hand.“
„‚Lass mich dir helfen, liebes.‘ Liam beobachtete, wie Isabella versuchte, Elara zu füttern. Elara wandte den Kopf ab. Nach nur zwei oder drei erfolglosen Versuchen seufzte Isabella theatralisch. ‚Du siehst, sie will nicht‘, sagte sie zu der leeren Tür, als wüsste sie, dass er zusehen könnte. Sie nahm das fast unberührte Tablett und verließ den Raum.“