Warum die Rolling Stones nicht bei Charlie Watts’ Beerdigung waren – und warum das kein Verrat war
Gibt es etwas Unheimlicheres als eine Beerdigung, bei der genau jene fehlen, die man am meisten erwartet? Als Charlie Watts, der stoische Puls der Rolling Stones, im August 2021 starb, rechnete die Welt mit einem stillen Bild: Mick Jagger, Keith Richards und Ronnie Wood, vereint in Trauer am Grab. Stattdessen blieben die Plätze der Bandkollegen leer. Das Echo war heftig: Empörung, Unverständnis, der leise Vorwurf der Lieblosigkeit. Doch die Wahrheit ist komplizierter – und am Ende ein Spiegel von Timing, Pandemieprotokollen, logistischer Realität und dem Charakter eines Mannes, der das Spektakel stets mied.

Anfang August wurde bekannt, dass Watts die anstehende „No Filter“-US-Tour verpassen würde. Ein Einschnitt von historischem Ausmaß: Über sechs Jahrzehnte hatte der Schlagzeuger keine Show ausgelassen – durch Krebsdiagnosen, Knochenbrüche, Familienkrisen und den unerbittlichen Takt globaler Tourneen. Er erklärte lakonisch, ein medizinischer Eingriff – mutmaßlich am Herzen – verlange Genesungszeit; Steve Jordan, ein enger Freund, solle vorübergehend einspringen. In den Ohren der Öffentlichkeit klang das nach kurzer Pause. Auch intern glaubte niemand an ein Ende. Drei Wochen später starb Watts friedlich in London im Kreis seiner Familie. Der Abschied war rasch und diskret – so, wie er gelebt hatte.
Die Trauerfeier fand in einem kleinen Ort in Devon statt. Kein Blitzlichtgewitter, keine Staffage, nur Familie und engste Freunde. Was fehlte, war die Band. Zu diesem Zeitpunkt steckten Jagger, Richards und Wood in Boston mitten in den finalen Proben für den bereits pandemiebedingt verschobenen US-Abschnitt der Tour, Start: 26. September in St. Louis. Wer je die Apparatur einer Stadionproduktion gesehen hat, weiß: Lkws, Bühnen, Gewerkschaften, Technik, Hotels – jedes Glied ist vertraglich verknüpft. Ein Probentag bedeutet Kosten. Ein Ausfall erzeugt Kettenreaktionen. Drei Hauptakteure in der „Countdown“-Phase transatlantisch zur Beisetzung zu fliegen, hätte nicht nur Sentiment, sondern ein ganzes Räderwerk ins Wanken gebracht – bis hin zu potenziellen Absagen für Fans, die seit 2019 Tickets hielten.
Hinzu kam 2021 die Realität der Gesundheitsprotokolle. Zwar waren Regeln gelockert, doch Tests, Fristen und Dokumentationen blieben Pflicht; ein einziger positiver Befund riskierte Isolation. Für eine streng abgeschirmte Tour-Bubble war das Risiko untragbar. Auch die Rückreise barg Unsicherheiten: keine generelle Quarantäne, aber interne Sicherheitsregeln, Delta-Welle, Flughäfen. Kurz: Selbst „entspannte“ Regeln waren nicht entspannt genug, um eine globale Produktion kurz vor dem Start nicht zu gefährden.
Und schließlich war da Charlie selbst. Der Mann, der Rampenlicht verachtete, hätte kaum gewollt, dass seine Beisetzung zum Medienspektakel gerät. Das Auftauchen von Mick Jagger und Keith Richards – Symbole der Popgeschichte – hätte jede Stille pulverisiert. Die Entscheidung der Familie für eine private Zeremonie war Programm: Würde statt Wirbel. In diesem Licht war das Fernbleiben der Band keine Kälte, sondern Konsequenz – und Loyalität zu einem, der das große Getöse immer anderen überließ.
Die Trauer äußerte sich anders – unmittelbar und unmissverständlich. Jagger teilte ein Foto, das mehr sagte als Worte: Watts lachend, Falten um die Augen, Wärme statt Pose. Richards postete ein leeres Schlagzeug mit einem Blatt Papier: „Closed“. Stiller konnte man den Verlust des Bandherzens nicht benennen. Ronnie Wood sprach von einem „Bruder“, vom Zwillingsbund der Sternzeichen – intime Sprache für eine Kameradschaft, die das Berufliche längst überstieg. Später legten Interviews die seelische Topografie frei: Watts als Fels, als leise Autorität, als Balancegeber im ewigen Sturmlauf dieser Band.
Als die „No Filter“-Tour am 26. September 2021 weiterging, war die Bühne Gedenkraum. Die Lichter erloschen, Leinwände zeigten Schwarz-Weiß-Bilder: Watts’ elegante Hände auf der Snare, sein seltenes schelmisches Lächeln, Augenblicke aus sechs Jahrzehnten. Ein einzelner Schlag hallte. Sekunden ehrfürchtiger Stille. Dann der Schrei aus Trauer und Dank. Jagger sagte sichtlich bewegt: „Dies ist unsere erste Tournee ohne ihn. Wir werden Charlie so sehr vermissen.“ Richards ergriff Jaggers Hand – eine Geste, die tief und hoch zugleich wirkte. „Tumbling Dice“ wurde Charlie gewidmet, das ikonische Zungenlogo erschien in Schwarz-Weiß, und jede Show begann fortan mit einer Montage zu seinen Ehren. Der Herzschlag blieb – nur anders.
Wer war dieser Mann, dessen Abwesenheit die lauteste Rockband der Welt leiser machte? 1941 in Kingsbury geboren, wuchs Charlie Watts in bescheidenen Verhältnissen auf. Seine erste Liebe galt dem Jazz. Duke Ellington, Miles Davis, vor allem Charlie Parker – die Musik, die er hörte, zeichnete er als Teenager in Skizzen: Kunst und Rhythmus als Zwillingspfade. Er studierte Grafik, wurde eine feste Größe in Londons Jazz- und R&B-Szene, spielte bei Alexis Korner – Keimzelle der britischen Rockrevolution. Als Jagger, Jones und Richards fragten, sagte er zunächst ab: ein sicherer Job, eine unsichere Bluesband. Im Januar 1963 kam der Sinneswandel; am 2. Februar bestritt er sein erstes Konzert mit den Stones.
Watts’ Spiel war das Gegenteil von Spektakel: kein Feuerwerk, kein Ego-Drumming. Präzision, Zeitgefühl, der subtile Swing des Jazz. Er gab Jagger und Richards den Raum, über einem Groove zu tanzen, der nie wankte. „Charlie gibt mir die Freiheit zu fliegen“, bekannte Richards. Die Jahre hatten Schatten: Mitte der 1980er stürzte Watts in Alkohol und Heroin, kämpfte sich 1986 – mit Unterstützung seiner Frau Shirley – zurück, legte auch das Rauchen ab. 2004 die Kehlkopfkrebsdiagnose, Therapie, Genesung – und die Rückkehr, die wie ein stiller Trotz wirkte: weitermachen, weiterspielen, weitertragen.
Privat lebte Watts gegen die Rock-Mythologie. Seit 1964 verheiratet mit Shirley, ein Band, das fast sechs Jahrzehnte hielt – seltene Konstanz in einer Branche des Verschleißes. Zuhause in Devon, Halton Manor, züchtete er arabische Pferde – eine Passion aus Disziplin, Eleganz, Struktur. Er fuhr nie Auto, bewunderte Fahrzeuge als Designobjekte. Er zeichnete Hotelzimmer – fast jedes, in dem er je schlief. Er sammelte Bücher, Cricket-Memorabilien, sogar eine Replik des Teppichs von Bayeux. Ein Connaisseur, der Tiefe suchte, nicht Krawall.
Sein Tod löste weltweite Resonanz aus. Paul McCartney nannte ihn „steady as a rock“, Ringo Starr verabschiedete sich schlicht: „Will miss you, Charlie.“ Kollegen sprachen weniger über Virtuosität als über Integrität. Und in der Band klang ein Gedanke nach: Ist eine Fortsetzung ohne Watts möglich – ja erlaubt? Bill Wyman, der 1993 ausgestiegen war, meinte, er habe geglaubt, es sei das Ende. Doch die Stones spielten weiter – nicht aus Verdrängung, sondern, wie Richards erzählte, auf Wunsch von Charlie selbst. Watts hatte Steve Jordan seinen Segen gegeben; die Tour sollte stattfinden.
Sein Nachhall reichte bis ins Studio: 2023 erschien „Hackney Diamonds“, das erste Stones-Album seit 18 Jahren – mit zwei Songs („Mess It Up“, „Live by the Sword“), auf denen Watts noch zu hören ist. Ein geisterhafter Herzschlag in neuer Musik; eine Brücke zwischen Epochen. Der Swing, der die Stones definierte, blieb hörbar – Erinnerung als Gegenwart.

War es falsch, nicht am Grab zu stehen? Wer reine Symbolik erwartet, mag das so sehen. Wer hinsieht, erkennt: Die Band entschied sich für einen Abschied in der Sprache, die sie spricht – auf der Bühne, im Bild, im Schlag, in der Geste. Und sie folgte der Logik eines Mannes, der es hasste, im Mittelpunkt zu stehen, wenn der Anlass Leid hieß. Charlies letzte Lehre an die lauteste Band der Welt war vielleicht diese: Würde ist leiser als Applaus. Die Stones waren nicht dort – und doch waren sie da. In jeder Hommage, in jedem Takt, in jedem Moment, in dem die Musik innehielt und der Rhythmus eines Lebens weiterklang.