Als am 23. November 2020 die Nachricht vom Tod Karl Dalls durch die Medien ging, war die Bestürzung groß. Mit 79 Jahren verstarb der Mann, der über Jahrzehnte hinweg Millionen zum Lachen gebracht hatte – und der zugleich zu den schillerndsten, widersprüchlichsten Figuren der deutschen Unterhaltungslandschaft gehörte. Dall, der nie Everybody’s Darling sein wollte, bleibt in Erinnerung als Provokateur, Grenzgänger und Entertainer, der aus einer vermeintlichen Schwäche – seinem hängenden Augenlid – sein Markenzeichen machte.
Kindheit im Kriegsdeutschland – ein Junge mit „Makel“
Geboren wurde Karl Bernhard Dall am 1. Februar 1941 im ostfriesischen Emden, mitten im Zweiten Weltkrieg. Der Vater war Rektor, die Mutter Lehrerin – der Weg in eine bürgerliche Karriere schien vorgezeichnet. Doch Karl fiel früh aus dem Rahmen. Sein angeborenes hängendes Augenlid, medizinisch Ptosis, machte ihn zum Ziel von Hänseleien. Was für andere ein Handicap war, verwandelte er später in ein Alleinstellungsmerkmal. Schon in der Schule eckte er an – mehr Spaß an Witzen als an Vokabeln, mehr Respektlosigkeit als Disziplin.
Vom Schriftsetzer zum Bühnenclown
Nach dem Abbruch der Schule absolvierte er eine Lehre als Schriftsetzer. Doch die Druckmaschinen waren ihm zu eng, das Leben dahinter zu still. Ende der 1950er-Jahre zog es ihn nach Berlin – in eine Stadt, die zwischen Mauerbau und Aufbruch bebte. In kleinen Clubs erprobte er seine ersten Auftritte. Mit spitzer Zunge und anarchischem Humor wurde er schnell Teil einer Szene, die gegen die etablierten Formen der Unterhaltung rebellierte.
1967 gründete er zusammen mit Ingo Insterburg, Jürgen Barz und Peter Ehlebracht die Gruppe Insterburg & Co. – eine wilde Mischung aus Musik, Kabarett und Nonsens. Ihre Auftritte, etwa im „Musikladen“ von Radio Bremen, machten sie bundesweit bekannt. Dall, mit schrägem Blick und spöttischem Grinsen, stach heraus.
Karrierehöhepunkte im Fernsehen – der „Dall-As“-Star
Ende der 1970er-Jahre wechselte er ins Fernsehen. Ob in der „Plattenküche“ (1979) oder als Teil des Verstehen Sie Spaß?-Ensembles (1983–1990) – Dall provozierte, spielte mit Grenzen und traf den Nerv eines Publikums, das Unterhaltung ohne Filter wollte.
Unvergessen bleibt seine RTL-Talkshow Dall-As (1985–1991). Dort stellte er Fragen, die kein anderer Moderator wagte, unterbrach seine Gäste und trieb sie bis an die Grenze. Legendär der Auftritt von Roland Kaiser, der das Studio verließ – und zurückkam. Dall war kein Gentleman-Moderator, sondern ein Querkopf, der Unterhaltung durch Reibung schuf. Für die einen ein respektloser Störenfried, für die anderen ein Befreier aus dem Einerlei des Fernsehens.
Blödelschlager, Kino und Kultstatus
Parallel machte er Musik. Mit Insterburg & Co. landete er Hits wie „Ich liebte ein Mädchen“ (1970), später folgten Soloparodien wie „Diese Scheibe ist ein Hit“ (1975) oder „Millionen Frauen lieben mich“ (1988). Dall sang halb, sprach halb – und genau das machte ihn einzigartig.
Auch im Kino hinterließ er Spuren: In Kultfilmen wie „Sunshine Reggae auf Ibiza“ (1983) oder „Gib Gas – ich will Spaß“ (1983) verkörperte er fast immer den schrägen Spaßmacher. Kritiker rümpften die Nase, Zuschauer feierten ihn. Für Dall galt: Unterhaltung musste nicht hochkulturell sein, um Wirkung zu haben.
Privater Halt und familiäre Konstante
So wild seine Bühnenfigur war, so beständig zeigte er sich privat. Seit 1971 war er mit seiner Frau Barbara verheiratet, die bis zuletzt an seiner Seite blieb. Eine Tochter machte die Familie komplett. Für Dall, den Provokateur der Nation, war das Zuhause Rückzugsort und Erdung.
Skandal und Freispruch – dunkle Kapitel
2014 wurde Karl Dall von einer Frau in Zürich schwer belastet. Wochenlang stand er am Pranger. Boulevardblätter überschlugen sich. Dall beteuerte seine Unschuld – und 2015 folgte der Freispruch. Das Verfahren wurde eingestellt, doch die Erfahrung, ohne Schuld in den Schlagzeilen zu stehen, traf ihn hart. „Für einen, der sein Leben lang von Aufmerksamkeit lebte, war dies die falsche Art von Aufmerksamkeit“, sagte er später.
Gesundheitliche Probleme und ungebrochener Wille
Über die Jahre forderte das rastlose Künstlerleben seinen Tribut. Kreislaufprobleme, Erschöpfung, Augenleiden. Und doch: Dall stand bis ins hohe Alter auf der Bühne, schrieb seine Autobiografie, spielte in TV-Formaten mit. Kurz vor seinem Tod war er noch für die ARD-Telenovela Rote Rosen vor der Kamera.
Der letzte Akt – ein stiller Abschied
Im November 2020 erlitt Karl Dall einen schweren Schlaganfall. Wenige Tage später starb er im Alter von 79 Jahren. Eine Nation hielt inne. Wegen der Pandemie musste die Öffentlichkeit auf eine große Verabschiedung verzichten. Erst im Juni 2021 erfüllte ihm seine Familie den letzten Wunsch: eine Seebestattung vor Sylt. Frei, ungezähmt, ohne großes Pathos – so wie er gelebt hatte.
Vermächtnis eines Provokateurs
Nach seinem Tod erinnerten sich Kollegen an seine Schlagfertigkeit, Fans an Abende voller Tränen vor Lachen. Selbst Kritiker, die ihn oft als „Klamaukmacher“ abgetan hatten, erkannten an, dass mit ihm eine Lücke entstand, die niemand schließen konnte.
Karl Dalls Vermächtnis ist vielschichtig: Blödelschlager, freche Talkshows, schräge Filmauftritte – vor allem aber der Beweis, dass man aus einer Schwäche ein Markenzeichen machen kann. Er war der Mann mit dem hängenden Augenlid, der ganz Deutschland zeigte, dass Ecken und Kanten mehr Herz erobern können als jede Perfektion.
Und so hallt sein Lachen weiter – selbst wenn der Vorhang längst gefallen ist.