Das Ehepaar, das Menschenfleisch servierte – Die Geschichte des Gasthauses zum stillen Tal

Währenddessen wandelte sich der Volksglaube erneut. In den Dörfern der Lüneburger Heide erzählte man, dass der Rauch des Gasthauses nie erloschen sei. Man sagte, wenn die Winterwinde aus Westen kam, bringe der Nebel den Duft ihrer Küche mit sich.

Alte Frauen verbrannten in diesen Nächten Wacholderzweige, um den Geschmack der Sünde fernzuhalten. In der aufkommenden politischen Unruhe der 20er Jahre begannen einige Redner die Geschichte auf gefährliche Weise zu nutzen. Ein nationalistischer Agitator in Bremen sprach auf einem Marktplatz über die Köchin, die das schwache Fleisch der Nation veredelte. Für ihn war Anna Hartmann kein Symbol des Bösen, sondern ein Sinnbild von Stärke und Reinheit, eine perverse Verdrehung, die die Zuhörer zugleich erschreckte und faszinierte.

So begann die Geschichte ein zweites dunkles Leben als Mythos, den jeder nach seinem Willen auslegte. Für die Armen war sie eine Meer vom Hunger und vom Mut zu überleben. Für die Reichen war sie ein warnendes Beispiel gegen den Verlust der Moral. Für die politischen Fanatiker aber wurde sie ein Werkzeug, mit dem man das Wort Reinheit vergiftete.

Im Jahr 1928 erschien in München ein kleines Buch, anonym veröffentlicht mit dem Titel Das Herz der Köchin. Es enthielt Tagebuchauzeichnung. angeblich von Anna Hartmann selbst. Später stellte sich heraus, daß der Text eine Fälschung war, doch er wurde populär. Darin schrieb die angebliche Anna: “Ich habe nicht gekocht, um zu töten, sondern um zu verstehen. Jeder Mensch will kosten, was er fürchtet.

” Das Buch verbreitete sich heimlich, weil es verboten war. Doch in Tavernen und Universitäten wurde es gelesen. Einige Philosophen nannten es das Evangelium der Sättigung. Und so kam es, dass zu Beginn der 30er Jahre die Hartmannsager längst kein Verbrechen mehr war. Sie war ein Symbol, ein Symbol für Hunger, Macht, Schuld, Angst für alles, was der Mensch ist, um zu vergessen, dass er selbst verzehrt werden kann.

Ein älterer Mann aus Hamburg schrieb damals an einen Freund: “Die Welt wird wieder hungrig und ich fürchte, der Rauch des stillen Tales wird bald zurückkehren.” Und tatsächlich, als der Himmel sich erneut verdunkelte, als neue Fahnen wehten und neue Feuer entzündet wurden, schien der Geruch von Rauch wieder über dem Land zu liegen. Unsichtbar, aber unausweichlich.

Als der Zweite Weltkrieg begann, war die Geschichte von Anna und Wilhelm Hartmann längst nicht mehr nur ein Märchen der Dörfer. Sie war zu einem dunklen Gleichnis geworden, ein Spiegel, in dem sich das ganze Land, ob bewusst oder unbewusst wiederkannte. In den Jahren zwischen 1939 und 1945 kehrte der Hunger zurück. Diesmal grausamer als je zuvor.

Städte brannten, die Felder lagen brach, Brot war rah, Fleisch, ein ferner Traum. Und in dieser Zeit, in der das menschliche selbst in Schutz erfiel, bekam die alte Geschichte neues Leben. Nicht in Büchern, sondern in Flüstern, in Gerüchten, in der Sprache der Angst. In den Lazaretten erzählten sich die Verwundeten nachts, wenn der Strom ausfiel, dass irgendwo im Norden eine Frau im Rauch der Ruinen wandle. die den sterbenden Frieden schenke.

Manche sagten: “Sie koche Suppe aus allem, was sie finde und das, wer davon koste, keine Schmerzen mehr fühle.” Sie nannten sie die graue Köchin. Niemand sagte laut ihren alten Namen, aber alle wussten, wer gemeint war. In der Propaganda der Dritten Reichsregierung tauchte die Figur ebenfalls auf, doch in anderer Gestalt.

Eine Wochenschrift veröffentlichte im Jahr 1940 einen Artikel über die Verderbtheit der alten Zeit, in dem Anna Hartmann als Beispiel für die moralische Schwäche früherer Generation dargestellt wurde. Man schrieb, sie sei ein Symbol des dekadenten Weibes, das die natürliche Ordnung pervertierte. Das Volk, so hieß es, müsse rein sein, seine Nahrung rein, sein Blut rein.

Doch während die Propaganda versuchte, die Geschichte zu verdammen, lebte sie unter der Hand in ganz anderer Weise fort. Soldaten an der Front erzählten sich, dass Anna Hartmann in den Nächten zwischen den Schüssen erscheine, um die Toten zu holen und die Lebenden zu prüfen. “Wenn du den Rauch riechst”, sagten sie, weiß sie, dass du noch warm bist.

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