Ein Feldfahrer schrieb im Jahr44 in sein Tagebuch: “Ich hörte die Männer flüstern, daß sie keine Angst vor dem Feind hätten, wohl aber vor der Frau mit dem weißen Tuch, die durch die Felder geht. Sie sagen, sie riecht nach Muskat und Schwefel. Ich glaube, das ist ihr schlechtes Gewissen, das Gestalt angenommen hat.
” In den zerbombten Städten des Nordens erzählte man sich, daß die Schatten, die nachts über die Trümmer glitten, aus Rauchbestünden, aus demselben, der einst über dem stillen Tal stand. Frauen, die in den Ruinen nach Essen suchten, behaupteten, eine Gestalt gesehen zu haben, die ihnen Brot bot. Eine von ihnen, eine Schneiderin aus Bremen, berichtete später. Ich war fast verhungert.
Eine Frau mit Tuch gab mir etwas warmes. Es roch nach Suppe. Ich aß und es wurde mir leicht. Am nächsten Morgen war niemand da, nur der Geruch blieb und ein Knochen im Topf. Die Grenzen zwischen Realität und Wahn lösten sich in jener Zeit. Der Krieg frß alles, Städte, Menschen, Gewissen. Und so wurde die Hartmannlegende zu einem Symbol für das, was niemand aussprechen wollte, dass der Mensch, wenn der Hunger groß genug ist, sich selbst verzehrt.
In geheimen Schriften, die unter Soldaten zirkulierten, wurde sie die Mutter des Rauchs genannt. Ein Offizier schrieb in einem Brief an seine Frau. Ihr riecht es wieder danach, nach ihr, nach der, die kommt, wenn zu viele gestorben sind. Nach der Kapitulation, als die Bomben verstummt waren und nur noch der Hunger blieb, tauchte die Geschichte erneut auf, diesmal unter einem neuen Gesicht.
In Flüchtlingslagern erzählte man von einer alten Frau, die nachts zwischen den Baracken ging und den Kindern Suppe brachte. Einige sagten sie trage ein Messer, andere sie habe keine Hände, nur Rauch. Im Jahr 1946 veröffentlichte die Lehrerin Margarete Held eine Sammlung von Lagergeschichten unter dem Titel Das Brot der Stille. Darin findet sich eine kurze Erzählung.
die Frau vom Tal, in der eine namenlose Köchin den hungernden Nahrung bringt, ohne daß jemand weiß, woher sie sie nimmt. Am Ende sagt sie zu einem Kind: “Wenn du satt bist, bete. Wenn du hungrig bist, erinnere dich an mich.” Hell schrieb im Vorwort: “Vielleicht ist sie keine Mörderin, sondern die letzte Mutter, die uns geblieben ist. Vielleicht ist sie der Hunger selbst.” Doch nicht alle sahen in dieser Gestalt Trost.
In den Nachkriegsprozessen über Kriegsverbrechen tauchte ihr Name manchmal in Zeugenaussagen auf, nicht als reale Person, sondern als Symbol des Grauens. Ein Überlebender eines Lagers sagte aus: “Sie gaben uns Suppe und ich schwor: “Ich roch Muskat. Ich dachte an sie. Ich dachte, sie ist wieder da.” So überdauerte die Legende die Bomben, die Regime, die Hungerjahre.
Sie blieb nicht als Erzählung über ein Gasthaus, sondern als Gleichnis über das, was geschieht, wenn der Mensch den Wert des Lebens verliert und das Essen zur letzten Religion wird. Ein Priester aus Lüneburg schrieb 1948 in seine Chronik: “Wenn ich den Rauch über den Ruinen sehe, denke ich, das ist nicht der Dampf der Suppe, sondern das Atmen der Schuld.” Anna Hartmann ist nicht tot.
Sie ist ein Gedanke, der mit uns lebt, solange wir essen, ohne zu danken. Und als in den 50er Jahren der Wiederaufbau begann, sprachen die Menschen kaum noch laut über sie. Aber in jeder Küche, in der der Duft von Wurst und Pfeffer aufstieg, blieb eine leise, unsichtbare Erinnerung. Der Geschmack des Grauens, fein wie Salz, dass man nicht sehen kann, aber spürt die Nachkriegszeit. brachte Licht, Strom, Ordnung.
Doch in der Seele des Landes blieb Dunkelheit. Zwischen den neu errichteten Häusern in den Schulen, den Küchen, den Fabriken. Überall roch es nach frischem Putz, aber unter der Oberfläche lag noch der Rauch der Vergangenheit und mit ihm die alte Geschichte, die nie ganz verging, die von Anna und Wilhelm Hartmann, der Köchin aus dem Stillental.
In den 50er Jahren wurde Deutschland wieder aufgebaut. Die Menschen wollten vergessen. Man sprach von Zukunft, von Wohlstand, von Waschmaschinen und Hoffnung. Doch im stillen Untergrund, in Gesprächen nach dem dritten Glas Bier oder bei Stromausfall tauchte sie wieder auf. Wie ein Gespenst, das nicht schreit, sondern flüstert.