Dann nichts mehr, keine Fußabdrücke, kein Kleidungsstück, keine Spur. Nach 10 Tagen gab man die Suche auf. Der Vater, halbwahnsinnig vor Verzweiflung, ging jede Nacht hinaus in den Wald und rief den Namen seines Sohnes, bis seine Stimme versagte. Er schwor, er habe eines Nachts Antwort gehört.
Ein leises Lachen, kindlich und doch fremd, tief aus dem Fels heraus. Im Frühjahr, als der Schnee schmolz, fand ein Wanderer an einem Bachlauf ein Stück Holz. Darauf waren Zeichen eingeritzt, Kreise ineinander verschlungen, dieselben Muster, die einst das Mädchen Anna Albrecht und später Jakob gezeichnet hatten. Das Holz war frisch geschnitten.
Die Behörden erklärten den Fund für bedeutungslos, doch im Dorf herrschte Furcht. Die Alten sagten: “Das Blut der Berge sei wieder erwacht. Es hieß, wenn der Wind in bestimmten Nächten aus dem Tal wehte, roch er nach Asche und kaltem Eisen. Hunde jaultten, Kinder bekamen Fieberträume. In jener Zeit begann ein Lehrer aus Trieberg, Herr Martin Hesse Notizen über die Vorkommnisse zu führen.
Er war ein nüchter Mann, kein Fantast, doch das, was sich abspielte, ließ sich nicht einfach erklären. Er schrieb: Am 3. März hörte ich kurz nach Mitternacht ein Klopfen. drei Schläge, dann Stille, dann wieder drei. Es kam nicht vom Dach, sondern vom Boden, als läge darunter etwas Lebendiges. Eine Woche später notierte er: “Ich träumte von einem Mädchen mit grauen Augen.
Sie stand im Schnee, barfuß und sprach kein Wort. Als ich erwachte, lag vor meinem Fenster ein Kreis aus kleinen Steinen. Hesse begann alte Berichte zu studieren. In der Bibliothek von Filling fand er eine Kopie von Riedelsbericht. Vergilbt, aber vollständig. Er las zwei Nächte lang. Am Rand einer Seite entdeckte er eine handschriftliche Notiz, offenbar von Riedel selbst.
Der Fels atmet. Er verstand nicht, was das bedeuten sollte, doch das Wort brannte sich in sein Gedächtnis. Im Sommer des Jahres 1980 besuchte ihn ein älterer Mann, der sich als ehemaliger Archivar der Universität Freiburg vorstellte. Er sagte, er habe etwas, das zu Hässes Nachforschungen passße.
Aus seiner Manteltasche zog er eine kleine ledergebundene Mappe. Auf dem Deckel stand in verblaster Tinte M a das Werk. Es war eines der verschollenen Tagebücher von Magdalena Albrecht. Der Archivarbot hesse es sicher aufzubewahren, bis die Zeit reif sei. Dann verschwand er. Niemand sah ihn je wieder. Hesse las in jener Nacht das Buch.
Später schrieb er in seinem eigenen Heft: “Ich habe verstanden, dass es nicht Wahnsinn war.” Sie glaubte wirklich, sie könne das Blut der Welt reinigen. In ihren Worten liegt eine Logik, dunkel, aber vollkommen. Und jetzt, da ich sie lese, höre ich sie. Nicht ihre Stimme, sondern das Flüstern. Es kommt aus der Erde. Von diesem Tag an unterrichtete Hesse nicht mehr. Er schloß sich in seinem Haus ein, miet die Menschen.
Die Dorfbewohner sagten, er habe begonnen, im Garten Löcher zu graben. Als die Polizei im Herbst nach ihm sah, fand man das Haus leer, die Möbel verstaubt, das Bett unbenutzt. Auf dem Tisch lag das Tagebuch der Albrechts offen. Auf der letzten Seite stand einziger Satz in Hesses Schrift. Sie schlafen nicht. Sie warten.
Nach dem Verschwinden von Lehrer Martin Hesse im Herbst des Jahres 1980 versuchte die Polizei den Fall als gewöhnliche Vermissten Meldung zu behandeln. Doch die Beamten, die sein Haus betraten, spürten sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Der Raum war kalt, obwohl der Ofen noch glühte und aus dem Keller stieg ein eigenartiger säuerlicher Geruch.
Auf den Wänden des Arbeitszimmers hatte jemand mit Kreidekreise gezeichnet. Große ineinander verschlungene Ringe wie Spiralen, die sich endlos wiederholten. Auf dem Boden in der Mitte des größten Kreises lag Erde, feucht, schwarz, und darin steckte eine einzelne rostige Kette. In Hesses Tagebuch fanden die Ermittler seitenlange Aufzeichnungen über Träume.
Er beschrieb Stimmen, die ihn riefen und den Glauben, dass unter dem Fels das Blut noch lebt. Die letzten Einträge bestanden nur noch aus Zahlen, alle identisch. 23. Niemand wusste, was das bedeuten sollte. Der Fall wurde geschlossen und Hesse galt als verschollen, vermutlich erfroren oder verunglückt. Doch der Dorfahrer Pater Alo Gruber, der ihn kannte, schrieb später in seinen Memoiren: “Ich habe ihn in der Nacht gehört, nachdem er verschwand.