Nicht mehr nur in historischen Büchern, sondern in Vorträgen über moderne Formen von Extremismus. Sozialpsychologen, Theologen und Kriminologen sehen in dem alten Fall einen archetypischen Ursprung. Die tödliche Verbindung von Reinheitswahn, familiärer Isolation und religiöser Selbstvergöttlichung. In einem Symposium der Universität Freiburg im Jahr 2023 hielt Professor Jonas Leitner einen Vortrag mit dem Titel Von göttlicher Ordnung zu menschlicher Katastrophe.
Er verglich die Görings mit modernen Kleingruppen, die sich in den sozialen Medien abgeschottet und ihre eigene Wahrheit erschaffen hatten. Leitner sagte: “Was einst im Wald von Würtemberberg geschah, geschieht heute in digitalen Räumen. Der Mechanismus ist derselbe. Glaube ohne Korrektiv, Überzeugung ohne Zweifel.
” Forscher erkannten Parallelen zwischen Elisabeth Göring und charismatischen Sektenführern des 20. Jahrhunderts. In Seminaren wurde ihre Rolle als Matriarchen analysiert, eine Frau, die Autorität nicht durch Gewalt, sondern durch Spiritualität ausübte. Sie hatte ihre Söhne nicht mit Furcht, sondern mit Erlösung gebunden. In einem Aufsatz schrieb die Religionspsychologin Dr.
Eva Rauscher: “Die tragischste Gestalt ist nicht die Mörderin, sondern die Gläubige, denn sie glaubte an eine Reinheit, die die Menschlichkeit tötete.” In kirchlichen Kreisen wurde der Fall zum Mahnbeispiel für die Grenzen des Glaubens. Die evangelische Landeskirche Würtenberg veröffentlichte eine Erklärung, in der sie betonte, dass keine Schrift und kein Glaube das Herz ersetzen könne.
Sie schrieb: “Elisabeth Göring war nicht der Teufel. Sie war das, was geschieht, wenn der Mensch Gott nicht mehr liebt, sondern besitzt.” Im Museum in Göpping wurde die Ausstellung Reinheit und Schuld eröffnet. Eine Installation zeigte drei Projektionen. Auf der ersten Elisabeth in Schwarz, auf der zweiten Landrat Kompner am Schreibtisch, auf der dritten eine Bibel, deren Seiten vom Wind umgeblättert wurden.
Besucher konnten Aufnahmen von Komtners Originalberichten hören, gelesen von Schauspielern. Der letzte Satz halte durch den Raum: “Ich fürchte, sie glaubte wirklich.” Doch trotz aller wissenschaftlichen und religiösen Einordnung blieb im Volk die Legende lebendig. Manche Besucher der Ausstellung legten Blumen nieder, andere Zettel mit Bitten oder gebeten.
Es schien, als sei die Geschichte längst zu einem Ritual geworden, ein Ort, an dem die Menschen ihre eigene Dunkelheit betrachteten. In den sozialen Netzwerken tauchten neue Versionen der Geschichte auf. Junge Autoren erzählten sie als Podcast, als Kurzfilm, als fiktionale Serie. Dabei veränderte sich der Ton. Weniger chronistisch, mehr introspektiv. Die Görings wurden zu Symbolfiguren, nicht mehr Monster, sondern Spiegelbilder menschlicher Verirrung.
Ein besonders populärer Beitrag trug den Titel Die Mutter der Reinheit und schloss mit den Worten wir alle tragen ein Stück Elisabeth in uns jedes Mal, wenn wir glauben, recht zu haben, ohne zu fragen, wem es schadet. In einem Forschungsbericht der Universität Heidelberg über familiäre Radikalisierung wurde die Geschichte erneut zitiert.
Psychologen beschrieben darin den sogenannten Reinheitsbogen, den Weg, auf dem ein Ideal sich so verfestigt, dass es zur moralischen Waffe wird. Der Bericht schloss mit dem Satz: “Das Streben nach Reinheit endet stets im Blut.” Auch Schriftsteller griffen den Stoff wieder auf. Ein Roman mit dem Titel “Die Stille der Göringsklinge erschien im Jahr 2024 und wurde für den deutschen Buchpreis nominiert.
Er erzählte die Geschichte aus der Sicht eines fiktiven Nachbarn, der langsam bemerkt, dass in der Einsamkeit des Waldes etwas Unheimliches wächst.” Die Kritiker lobten das Werk als ein Gleichnis über die Angst vor der inneren Dunkelheit. So wurde die Geschichte der Görings einst ein lokales Verbrechen, zu einer Allegorie über das Wesen des Menschen.
Über hundert Jahre nach den Ereignissen war sie längst mehr als ein Kriminalfall. Sie war eine Schiffre geworden, eine Erzählung über das, was geschieht, wenn Gewissheit stärker wird als Mitgefühl. Und dennoch, tief in den Wäldern der schwäbischen Alp blieb der Ort selbst bestehen. Kein Schild, kein Denkmal, nur ein schmaler Trampelpfad, der in eine Senke führt, in der das Moos so dicht wächst, dass kein Schritt ein Geräusch macht.