Vier Jahre nach dem Verschwinden von Martin Heus, im Frühjahr 1902 verschwand ein weiterer Mann. Fahrer Jakob Weidemann, ein Wanderprediger, der regelmäßig die abgelegenen Höfe der Alp besuchte, um Taufen und Beichten zu spenden, war zuletzt gesehen worden, wie er mit seiner Bibel unter dem Arm den schmalen Fah zur Göringsklinge hinaufstieg. Er war freundlich, demütig, ein Mann des Glaubens, der bei den Bauern beliebt war. Er nahm kein Geld, nur Brot und Milch als Dank.
Doch an jenem Sonntag kehrte er nicht zurück. Suchtrups durchkämten tagelang die Hänge, fanden aber nichts außer zertrampeltem Fahren und Fuchsspuren. Schließlich nahm man an, er sei gestürzt oder habe sich verlaufen. Niemand sprach laut von etwas anderem, aber die Angst schlich sich in die Gespräche, wenn die Dämmerung hereinbrach.
Bis zum Jahr8 waren fünf Männer auf dieselbe Weise verschwunden, alle entlang der schmalen Straße, die vom Tal hinauf zu den oberen Höfen führte. Händler, Handwerker, Reisende, alle ohne Spur. Es war Thomas Komptner, der Landrat, der als einziger die Verbindung sah. Er war 60 Jahre alt, ein kräftiger Mann mit grauem Bart und einem Blick, der mehr wusste, als er sagte.
Drei Jahrzehntelang hatte er über die verstreuten Gemeinden seines Amtsbezirks gewacht. Er kannte die Menschen, ihre Art, ihre Ängste. Er wusste, dass in diesen Bergen das Wort des Nachbarn mehr zählte als das Gesetz und dass man die, die allein leben wollten, in Ruhe ließ. Doch fünf Männer in 10 Jahren, das war kein Zufall.
Kompner begann Fragen zu stellen. Er ritt von Hof zu Hof, sprach mit Holzfällern, mit Schmieden, mit den wenigen Lehrern, die in den Dörfern unterrichteten. Immer stieß er auf dieselbe Mauer aus Schweigen und Ausflüchten. “Die Görings seien sonderbar”, sagten manche. Die Mutter bete zu laut und zu oft.
Die Söhne seien roh, wild und misstrauisch. Sie duldeten niemanden auf ihrem Land. Einer, ein Jäger aus Lauterstein, erzählte, er sei einmal dort vorbeigekommen und habe Stimmen gehört, singen, fast wie in einer Messe. Als er näher trat, hätten ihn zwei Männer mit chten vertrieben. Komt hörte zu, machte sich Notizen, aber beweisen konnte er nichts. Es war als ob die Berge selbst die Wahrheit verschluckten.
Im Spätherbst desselben Jahres, als die Tage kürzer wurden und der Frost die Erde hart machte, beschloss Komtner selbst hinaufzureiten. Der Pfad zur Göringsklinge war kaum mehr als ein Maultierweg, gesäumt von Fichten, deren Zweige den Himmel verdeckten. Nach einer Stunde Ritt öffnete sich plötzlich eine Lichtung.
Dort stand das Anwesen der Familie, ein dunkles Blockhaus aus dicken Balken, ein Schornstein aus Feldstein, ein alter Stall, ein Räucherhaus. Als Komptner sich näherte, traten drei Männer aus der Tür. Groß, breit, bärtig, schweigend. Hinter ihnen im Halbdunkel stand eine Frau in schwarz, Elisabeth Göring. Ihr Gesicht war scharf geschnitten, die Augen kalt. und ruhig.
Komt stellte sich vor, erklärte, dass er wegen der verschwundenen Männer gekommen sei. Die Frau lächelte nur kurz. Ein Lächeln ohne Wärme. Sie sagte, sie habe keine Fremden gesehen und forderte ihn auf, ihr Land zu verlassen. Ihre Söhne traten näher, eine stumme Drohung in jeder Bewegung.
Komt wusste, dass er ohne Durchsuchungsbefehl nichts tun konnte und sie wusste es auch. So blieb ihm nur, sich umdrehen und den steilen Pfad hinabzureiten, während ihre Blicke ihm wie Pfeile in den Rücken brannten. Als er unten im Tal ankam, schwor er sich eines Tages zurückzukehren, mit Beweisen. Doch die Zeit verging und das Schweigen blieb.
Die Aktenmappe mit der Aufschrift Göring blieb auf seinem Schreibtisch liegen, staubsammelnd, bis das Schicksal im Frühjahr 1912 eine neue Spur brachte. Ein Hausierer namens Edward Petersen war aus Stuttgart aufgebrochen, um seine Frühjahrsroute durch die Bergdörfer zu beginnen.
Er war ein fröhlicher Mann, verheiratet, Vater von zwei Kindern. Jeder kannte ihn an seinem braunen Filzhut, den er bei Wind und Wetter trug. Als nach zwei Wochen keine Briefe mehr von ihm ankam und er in keinem der Dörfer gesehen worden war, meldete seine Frau ihn als vermisst. Kompner nahm die Meldung entgegen und fühlte das alte Ziehen in der Brust, diesen dumpfen Verdacht, der nie verschwunden war.