In den Dörfern erzählte man, dass der Brand das Böse nicht ausgelöscht habe, sondern nur gebannt und dass es wiederkehren würde, wenn jemand die Erde dort störte. So blieb die Klinge jahrzehntelang unberührt, ein Fleck auf der Landkarte, den niemand besaß, niemand bestellte, niemand betrat. Doch die Geschichte der Görings verschwand nicht aus den Köpfen.
Sie wurde zu einem Spiegel für das, was die Menschen fürchteten. Isolation, Fanatismus, das Schweigen vor dem Unrecht. Lehrer erzählten sie ihren Schülern als Warnung. Pharawähnten sie in Predigten, wenn sie über Sünde und Hochmut sprachen. Ein Historiker aus Ulm, Dr. Friedrich Mahn, besuchte in den 30er Jahren das Tal, um über den Fall zu schreiben.
Er fand in den Archiven die alten Verhörprotokolle, die Briefe von Landrat Komtner, die Gutachten der Ärzte. Sein Bericht veröffentlicht im Jahr unter dem Titel Das Haus der Sünde löste erneut Unruhe aus. Einige nannten es eine notwendige Erinnerung, andere eine Schande für das Land. In dem Buch beschrieben die Geschichte nüchtern ohne Ausschmückung.
Doch im letzten Kapitel, das viele Leser verstörte, berichtete er von seinem Besuch am Ort selbst. Er schrieb: “Ich stand inmitten der jungen Buchen, wo einst das Haus gestanden haben muß. Es war still, kein Wind, kein Laut. Ich fühlte eine seltsame Schwere, als würde der Boden atmen. Ich beugte mich hinunter, um die Erde zu berühren und hörte ein Rascheln, als ob jemand neben mir stand. Doch niemand war da.
” Nach der Veröffentlichung seines Buches kehrte Man nie wieder dorthin zurück. In einem Brief an einen Kollegen schrieb er: “Manche Orte sind besser vergessen. Ich glaube, das Böse dort ist nicht vergangen. Es schläft.” Der Zweite Weltkrieg brachte andere Schrecken und die Geschichte der Görings geriet für eine Zeit in Vergessenheit.
Doch nach dem Krieg, als Flüchtlinge in die Gegend kamen und sich in verlassenen Hütten niederließen, erzählte man sie wieder. Eine Witwe aus Schlesien, die dort im Jahr eine Hütte errichtet hatte, floh eines Nachts und schwor, eine Frau im Wald beten gehört zu haben. In den 50er Jahren begann der Staat die Akten neu zu ordnen. Das Justizministerium in Stuttgart ließ alte Mordfälle aus der Kaiserzeit prüfen.
Auch die Göringakten wurden geöffnet. Viele Seiten waren vergilbt, manche unlesbar. Aber die Berichte des Landrats, seine nüchterne Handschrift blieben klar. “Ich sah in ihren Augen keinen Wahnsinn”, hatte er notiert, “sondern Glauben, einen Glauben ohne Licht. Bis heute wird dieser Satz in der Polizeischule von Böblingen zitiert, wenn es um das Verständnis von religiösem Fanatismus geht.
Im Jahr 2014, über 100 Jahre nach dem Prozess, führten Archäologen eine Untersuchung im Gebiet durch. Sie fanden verkohlte Reste von Holzbalken, Eisenbeschläge, eine Porzellanscherbe mit Initialen EG, Elisabeth Göring. Die Funde liegen heute im Stadtmuseum von Göppingen in einer kleinen Vitrine mit der schlichten Aufschrift, das Haus der Schweigenden.
Und noch immer sagen die Bewohner der Alp: Wenn Nebel über die Wälder krie und der Wind durch die Tayer pfeift, könne manchmal eine Stimme hören, die betet: Herr, bewahre das Reine. Mit der Zeit wurde aus der Geschichte der Görings keine einfache Chronik eines Verbrechens mehr, sondern ein Stück Volksglaube. Die Menschen begannen die Ereignisse nicht mehr als bloße Sünde zu sehen, sondern als eine Art göttliche Warnung.
Auf der schwäbischen Alb, wo der Glaube tief in den Alltag verwoben war, verwandelte sich das reale Grauen in eine Legende, die an langen Winterabenden weitergegeben wurde, von Eltern, an Kinder, von Pfarrern, an ihre Gemeinden.
In den Dörfern sprach man davon, dass Elisabeth Göring eine Seherin gewesen sei, die mit Engeln sprach und vom Himmel Zeichen empfangen habe. Andere behaupteten, sie sei eine Hexe gewesen, die den Glauben in einen Fluch verwandelt habe. In manchen Versionen der Geschichte hieß es: “Sie habe einen Pakt geschlossen, nicht mit Gott, sondern mit etwas, das sich als Gott ausgab.
” Ein alter Schäfer aus Gingen erzählte, er habe in den 50er Jahren an einem späten Abend eine Gestalt am Waldrand gesehen, eine Frau mit weißem Haar, die Psalm murmelte und in den Himmel starrte. Als er sie ansprach, sei sie lautlos verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Solche Geschichten wurden in Gasthäusern weiter erzählt, jedes Mal ein wenig verändert, ausgeschmückt, aber immer mit demselben Kern.