Diese Worte sorgten damals für Kontroversen. Zeitungen griffen sie auf. Manche warfen der Wissenschaftlerin vor, die Mörderin zu rechtfertigen. Doch Weinsberg meinte damit etwas anderes. Sie warte davor, den Warn als bloße Krankheit zu betrachten. Er sei, so schrieb sie, ein denkbarer Endpunkt menschlicher Überzeugung, wenn sie sich von der Welt ablöst.
Psychologen begannen, das Göring Syndrom als Begriff in ihre Vorlesungen aufzunehmen. Eine pathologische Form religiöser Selbstbestätigung. genährt durch soziale Isolation und generationsübergreifenden Gehorsam. Studenten diskutierten, ob der Fall ein frühes Beispiel für kollektive psychische Abhängigkeit sei. Im Jahr 2008 veröffentlichte ein Kriminalhistoriker aus Freiburg, Dr.
Martin Hellwig, das Buch Die Reinheit der Sünde. Er verband die Taten der Görings mit ähnlichen Fällen aus der Zeit, den Blutsekten von Sachsen, den Prophetenfilien des Harzgebirges, die sich ebenfalls in Isolation und religiösem Wahn verloren hatten. Helwig schrieb: “Die Görings sind kein Einzelfall.
Sie sind nur das lauteste Echo einer stillen Katastrophe, die sich überall dort ereignen kann, wo Glaube wichtiger wird als Mitgefühl. Das Buch wurde ein Standardwerk. In Vorträgen zitierte Helwig immer denselben Satz von Landrat Kompner. Ich sah in ihren Augen keinen Wahnsinn, sondern Glauben. Er erklärte seinen Studenten, dass dieser Satz das Zentrum aller Tragödien beschreibe, in denen Menschen aus religiöser Überzeugung handeln.
In Stuttgart richtete das Kriminalmuseum eine Sonderausstellung ein. Verbrechen des Glaubens. In einer Vitrine lag die Bibel von Elisabeth Göring, ein vergilbtes Buch mit Eselsohren, gefunden bei ihrer Einlieferung in die Heidenheimer Anstalt. Auf der Innenseite hatte sie mit feiner Handschrift geschrieben: “Das Blut soll rein bleiben, denn Reinheit ist Wahrheit.
” Besucher standen still vor dem Glas, manche flüsterten Gebete, andere wandten sich ab. Doch während die Wissenschaft die Geschichte zerlegte und deutete, lebte sie in der Volksseele weiter. Die älteren Menschen in den Dörfern erzählten sie anders, nicht als Lehrstück über Wahn, sondern als Warnung vor Einsamkeit.
Sie sagten: “Der Mensch verliere den Verstand nicht, wenn er Gott verliere, sondern wenn er glaube, ihn allein zu besitzen.” Einmal im Jahr, an einem Oktoberonntag, pilgerten Wanderer Gläubige und Neugierige zur Klinge. Ein Pfarrer ausging, führte eine kleine Andacht dort, keine Messe, sondern ein stilles Gebet. Er sprach von Gnade und von Verantwortung davon, dass die Stille der Berge Zeugnis ablegt von dem, was der Mensch in sich trägt.
Im Jahr 2020, genau N108 Jahre nach der Entdeckung der Gräber, brachte das Landesfernsehen eine Dokumentation mit dem Titel Die Schatten der Alp. Die Produktion war nüchtern, ohne Übertreibung, aber sie rief alte Erinnerungen wach. Man sah alte Fotografien, das Haus, den Hof, das Räucherhaus, die Stimme des Erzählers lasners Bericht vor. Sie saß ruhig, die Hände gefaltet und sagte: “Diese Kinder waren gesegnet.
” Nach der Ausstrahlung erreichten die Redaktion dutzende Zuschriften. Einige Zuschauer schrieben, sie hätten Vorfahren aus der Gegend, die noch von den Görings erzählten. Eine Frau aus Böhmenkirch schrieb: “Sie habe als Kind an Sommertagen den Wind im Wald gehört und geglaubt: Jemand bete dort.
” Ein Zuschauer fasste es schlicht zusammen. Ich glaube, was uns an dieser Geschichte erschreckt, ist, dass sie uns selbst spiegelt. Und vielleicht war genau das der Grund. weshalb die Görings nie ganz verschwanden, weil ihre Geschichte nicht nur von einer Familie handelte, sondern von der Zerbrechlichkeit menschlicher Vernunft, wenn sie sich göttlich wähnt.
Heute wird an der Universität Tübingen jedes Sommersemester ein Seminar angeboten, das den Namen Glaube, Wahn und Schuld die Albfälle trägt. In der ersten Sitzung ließ der Professor dieselben Worte, die Thomas Kombtner vor über einem Jahrhundert schrieb: “Das Böse gedeiht, wenn niemand mehr hinsieht. Im Laufe des 21. Jahrhunderts begann der Name Göring in neuen Zusammenhängen aufzutauchen.