Die Zwillinge von Ebersberg: die Akte, die Deutschland zu löschen versuchte

“Der Eintrag ist hier”, sagte er, “aber keine Urkunde, nur ein Umschlag. Er übergab ihn mir.” Darin ein Schwarz-weiß Foto. Zwei Babys, identisch im Wickeltuch, Händchenhaltend. Auf der Rückseite stand in roter Schrift: CRS006, vollständiger Spiegel, nicht getrennt. Meine Hände zitterten. Ich rief meine Mutter an und verlangte die Wahrheit. Sie schwieg.

Dann weinte sie nur: “Dein Bruder hat nicht überlebt. Wie hieß er? Wir gaben ihm nie einen Namen. Wo geschah es?” “In Ebersberg.” Ich konnte nicht mehr. In jener Nacht kehrte ich zurück nach Ebersberg, zum alten Ordnerhaus. Ich brachte alle zehn Hefte mit, die roten, blauen und das schwarze. Ich legte sie auf den Boden, so wie das Muster es verlangte. Der Rekorder lief. Ich wartete stille, dann ein Schlag.

Nicht von außen, nicht von den Wänden, von innen. Noch einer. Schritte wie von Kindern. Doch der Raum war leer. Nur zwei Silhouetten erschienen an der Wand. Diesmal bewegten sie sich auf mich zu. Ich trat näher, ohne zurückzuweichen. Die Ritze zwischen ihnen glühte, warm und vibrierend, als hätte sie einen Puls. Ich legte die Hand darauf.

Eine Stimme erklang. Nicht von außen, sondern in meinem Kopf. Jetzt weißt du, wer du bist. Jetzt fehlt nur, dass du zwei wirst. Als ich die Augen öffnete, war die Kammer leer, aber das schwarze Heft lag offen. Eine neue Seite, zwei Unterschriften. Eine war meine, die andere auch. Seit jener Nacht hat sich etwas verändert.

Nicht körperlich, nicht geistig, topologisch. Ich spüre, daß ich nicht mehr nur an einem Punkt in der Zeit existiere. Meine Bewegungen sind nicht nur meine eigenen. Meine Entscheidungen sind Echos, nicht Ursprünge. Und irgendwo auf der anderen Seite schreibt ein anderes Ich dasselbe. Kurz darauf erhielt ich Nachrichten ohne Absender, Zettel in meinem Briefkasten, obwohl ich in keinem Mehrparteienhaus wohnte.

Auf meinem Kühlschrank mit meiner eigenen Handschrift standen Notizen: “Erinnere dich an den Spiegel im Krankenhaus. Schlafe nicht zurelben Zeit. Du bist nicht mehr einzigartig.” Ich fuhr ins Krankenhaus, in dem ich angeblich geboren wurde. Der Neonatalordner war noch da, beschädigt, aber erhalten. Doch es gab einen zweiten Umschlag mit derselben Nummer als inaktiv vermerkt.

darin das gleiche Foto, das ich in Tirol gesehen hatte. Zwei Babys, identisch. Aber diesmal war auf der Brust des zweiten Kindes ein Name notiert. Matthias Ordner. Alles brach in mir zusammen. Ich hatte geglaubt, diese Geschichte handle von ihn, von den unheimlichen Zwillingen. Doch langsam verstand ich, sie waren nie zwei. Sie waren Spiegel.

Und dieser Spiegel brauchte einen Anker nicht an einem Ort, sondern in jemandem. Ich blätterte erneut durch die Hefte, studierte das vollständige Muster. Emilia hatte recht. Es war keine Sprache. Es war ein Bauplan, aber nicht für einen Ort, für einen mentalen Raum. Eine Architektur, die Bewusstsein duplizierte, projizierte, verankerte.

Ich ging in den Raum, wo alles begonnen hatte. Die Ritze in der Wand war nun breiter. Kein Schatten mehr, kein leerer Spalt, ein atmender Korridor. Jeder meiner Schritte halte von dort zurück, identisch. Ich setzte mich auf den Boden, schlug das schwarze Heft auf und begann zu schreiben. Nicht das, was ich dachte, nicht das, was ich sah.

Nur das, was durch mich floss. Die Worte bildeten sich von selbst. Die Symmetrie ist nicht das Ende. Sie ist die Schwelle. Die Kopie ist kein Fehler. Sie ist der Ursprung. Die Frage ist nicht, wer zuerst kam, sondern wie viele noch gespiegelt werden. Auf der letzten Seite stand ein Satz, den ich nicht bewusst schrieb. Ich bin Nummer 10. Es fehlen zwei.

Und als ich das Heft schloß, hörte ich eine Stimme in meinem Inneren, die nicht mir gehörte. Die zwölfte Seite wird bereits geschrieben. Es fehlt nur, dass du sie liest. Ich wußte nicht mehr, ob das Schreiben der letzten Seite die Geschichte beenden oder für immer öffnen würde. Doch es war keine Entscheidung mehr, nur gehorsam gegenüber dem Muster, denn ich verstand, der Wille ist die letzte Illusion.

Also kehrte ich ein letztes Mal zurück nach Ebersberg in das Haus ohne Schatten zur Ritze. Ich brachte das schwarze Heft mit. Darin war keine leere Seite mehr und doch war die Seite 12 noch ungeschrieben. Oder nicht für mich. Ich zündete die Taschenlampe an, ließ das Licht über die Wand gleiten. Da sah ich es. Es waren nicht zwei Figuren, die einander gegenüber standen.

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