Der Großvater lebte in einem alten Haus am Rand der Stadt, umgeben von großen Eichen, deren Äste im Wind schwangen. Jack klopfte an die Tür. Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür knarrend und ein älterer Mann mit schneeweißem Haar und wachen Augen sah sie an.
„Jack? Junge, was machst du denn hier?“ fragte er lachend, als er seinen Enkel umarmte.
„Großvater“, begann Jack, „wir brauchen deine Hilfe.“
Der alte Mann sah neugierig zwischen den beiden hin und her. „Worum geht es?“
Rebecca trat vor. „Ich bin Dr. Rebecca Morrison. Ich arbeite im historischen Archiv von Atlanta. Wir untersuchen ein altes Foto – und wir glauben, dass Ihre Unterlagen uns weiterhelfen könnten.“
„Ein Foto, sagst du?“ fragte der Großvater und trat zur Seite. „Kommt rein, kommt rein.“
Sie folgten ihm in einen großen Raum voller Bücher, Ordner und alter Karten. Der Geruch von Papier und Geschichte lag in der Luft.
„Setzt euch“, sagte er, während er eine Brille aufsetzte. „Erzählt mir, was ihr wisst.“
Rebecca legte das Foto auf den Tisch. Der Großvater beugte sich vor, betrachtete es lange und schwieg.
„Ich kenne das Studio“, sagte er schließlich. „H. Whitmore war einer der angesehensten Fotografen in Atlanta um die Jahrhundertwende. Aber…“
Er verstummte.
Rebecca wartete. „Aber was?“
Der Großvater sah sie ernst an. „Er war auch berüchtigt für etwas anderes. Für seine… diskreten Dienste.“
Jack runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“
„Er wurde oft angeheuert, um Beweise zu dokumentieren“, sagte der alte Mann. „Für Anwälte. Für Politiker. Für Leute, die Geheimnisse hatten.“
Rebecca spürte, wie ihr Puls stieg. „Geheimnisse wie… häusliche Gewalt? Oder etwas Schlimmeres?“
Der Großvater nickte langsam. „Genau sowas.“
Rebecca atmete schwer. „Dann hat Grace vielleicht versucht, die Wahrheit festhalten zu lassen.“
Jack zuckte zusammen. „Du meinst, sie wusste, dass ihr etwas angetan wurde – und sie wollte es beweisen?“
„Vielleicht wollte sie, dass es jemand findet“, sagte Rebecca.
Der Großvater sah sie prüfend an. „Hast du das Notizbuch mitgebracht?“
Rebecca holte es hervor und reichte es ihm. Er blätterte vorsichtig durch die Seiten, hielt bei einigen länger inne.
„Diese Symbole hier“, sagte er und zeigte auf eine Seite mit seltsamen Zeichen, „die habe ich schon mal gesehen.“
Rebecca beugte sich vor. „Was bedeuten sie?“
„Das sind Markierungen, die Whitmore manchmal benutzte“, erklärte er. „Um auf geheime Negative hinzuweisen.“
Rebecca erstarrte. „Geheime Negative?“
„Ja“, sagte der Großvater ruhig. „Negative, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Beweise, die er aufbewahrte, falls sie gebraucht würden.“
Jack schluckte. „Wo wären die heute?“
Der Großvater stand langsam auf. „Wenn sie existieren, dann gibt es nur einen Ort, an dem sie sein könnten.“
Rebecca stand ebenfalls auf. „Welchen Ort?“
Der alte Mann sah sie ernst an. „Der Keller des alten Whitmore-Studios.“
Nur eine Stunde später standen Rebecca und Jack vor dem verfallenen Gebäude. Das alte Fotostudio war seit Jahrzehnten geschlossen, die Fenster eingeschlagen, die Türen verriegelt. Der Mond hing tief am Himmel und warf lange Schatten über den Boden.
„Bist du sicher, dass das der richtige Ort ist?“ fragte Jack leise.
Rebecca nickte. „Wenn die Negative existieren, dann hier.“
Sie drückte gegen die Tür. Sie war verschlossen. Jack sah sich um, fand einen Stein und schlug die Scheibe ein. Sie kletterten vorsichtig hindurch.
Drinnen roch es nach Staub und Moder. Der Holzboden knarrte bei jedem Schritt. Alte Kameras und Stative standen verrostet in den Ecken.
„Der Keller müsste dahinten sein“, sagte Rebecca und hielt die Taschenlampe hoch.
Sie gingen durch einen schmalen Gang zu einer schweren Metalltür. Jack drückte dagegen. Sie gab nur widerwillig nach.
Als die Tür endlich aufschwang, wurden sie von einer Dunkelheit empfangen, die fast greifbar wirkte.
Rebecca schaltete die Taschenlampe an und leuchtete in den Raum. Überall standen Kisten, Regale und alte Glasplatten.
„Das sind Negative“, flüsterte sie ehrfürchtig.
Jack trat näher. „Wie finden wir das richtige?“
Rebecca ging die Regale entlang, ihre Finger glitten über Etiketten und Staub. Dann blieb sie abrupt stehen.
„Hier.“
Sie zog eine Glasplatte hervor. Darauf stand eingraviert:
G.W. – 1903
Jack starrte sie an. „Grace Whitmore.“
Mit zitternden Händen hielt Rebecca die Platte gegen das Licht der Taschenlampe.
Das Bild erschien – ein Negativ.
Es zeigte Grace.
Aber nicht die Grace vom Hochzeitsfoto.
Diese Grace hatte ein blaues Auge.
Eine geschwollene Lippe.
Und eine Hand, die sie schützend hochhielt, als würde sie jemanden abwehren.
Jack schnappte nach Luft. „Oh mein Gott…“
Rebecca spürte Tränen in ihren Augen. „Das ist der Beweis. Das ist das, was sie verstecken wollte.“
„Wer hat ihr das angetan?“ flüsterte Jack.
Rebecca sah ihn an – und in diesem Moment wusste sie es.
Der Bräutigam.
Auf dem Negativ konnte man am Rand eine Silhouette erkennen – und die Form der Hand, die nach ihr griff.
„Wir müssen das der Polizei geben“, sagte Rebecca entschlossen.
Jack nickte, noch immer blass. „Ja. Sofort.“
Sie packten das Negativ vorsichtig ein und verließen das Studio. Es fühlte sich an, als stünde die ganze Nacht still, als hielte die Welt den Atem an.
Als sie das Auto erreichten, hielt Jack Rebecca am Arm fest. „Danke“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Du hast ihr Gerechtigkeit gegeben.“
Rebecca lächelte traurig. „Sie hat selbst dafür gesorgt. Wir haben nur das gefunden, was sie uns hinterlassen hat.“
Jack sah zurück auf das alte Studio. „Glaubst du, sie wollte, dass jemand es eines Tages entdeckt?“
Rebecca nickte. „Ja. Und jetzt hat sie es.“