” Die Schwestern nickten. Sie sprachen wenig. Nur wenn eine die Nacht nicht ertragen konnte, summten sie jene alten Hauslieder, die wie ein warmes Tuch um die Stirn liegen. Einmal setzte sich der Pfarrer auf die Bank am Zaun und hörte zu. Später vermerkte er in seinem Heft: “Drei Stimmen, die wissen, wie man die Luft hält, damit sie nicht bricht.
” Und er fügte hinzu, dass das Schweigen der Frauen ihm vorkomme wie ein Wappen, das Feinde fernhalte. Er ahnte, dass eine Erinnerung keine Silben fände, an denen sie sich festbeißen konnte. Temperenz suchte den Rat eines Wundarztes, der für seine Kunst an den Knochen bekannt war.
Er untersuchte den verkrüppelten Fuß und sagte: “Eine Korrektur sei möglich, doch schmerzhaft, mit Wochen der Ruhe und des mühseligen Übens. Temperenz sah zu ihren Schwestern: “Schmerz kennen wir, sagte sie. Wenn er zu etwas führt, das uns aufrichtet, ist er kein Feind.” Die Operation gelang. Als sie das erste Mal ohne Stock über den Hof ging, lachte Kara laut. Ein heller Ton.
der in der Sommerluft wie eine Schwalbe davon fuhr. Barmherzige stellte eine Schüssel Wasser auf die Bank, wusch ihrer Schwester die Füße und trocknete sie mit einem Tuch, das nach Sonne roch. “Wir schulden niemandem Dank”, sagte sie, “aber wir dürfen ihn geben.” Temperenz hob den Blick und erlaubte sich ein kleines Lächeln, das mehr wie ein Zittern war.
Die Menschen im Dorf beobachteten die drei mit vorsichtiger Güte. Man wußte nicht genau, wer die Frauen waren, nur daß sie aus einer Geschichte kam, die man nicht erzählen wollte. Beim Kirchgang setzten sie sich in die letzte Bank, standen später vor den Rosenstöcken und atmeten den Duft wie jemand, der sich an etwas erinnern will, das nie wirklich gehört hat. Die Kinder flüsterten: “Das sind die Schweigeschwestern.
” Ein Name, der sich an sie heftete wie staub an nasse Schuhe. Im Herbst schrieb die Koblenzer Volkszeitung eine lange Betrachtung über Berggesetz, Gewissen und die Pflicht des Staates. Man beriet in den Amtsstuben, ob in abgelegenen Tälern künftig regelmäßige Visitationen stattfinden müssten, ob Hebamen verpflichtet sein, bei Verdacht Meldung zu machen.
Zwischen Formularen und Siegeln, Stempeln und Bedenken wuchs langsam die Ahnung, dass Gesetze wie Brücken sind. Sie bedeuten nichts, wenn sie nicht bis ans andere Ufer reichen. Ein Erlass aus Trier bestimmte später, daß in entlegen liegenden Gemeinden die Schule, der Pfarrer und der Dorfschulze gemeinsam einmal im Jahr einen Bericht zeichnen sollten, ob Kinder den Unterricht besuchen und ob Familien sich zurückziehen, wie Nebel sich in Mulden legt. Manche schimpften, es sei Schnüffelei. Andere sagten: “Es ist Obhut, besonders
dort, wo Einsamkeit stark ist wie Wein im ersten Guss. Doch Gesetze heilen keine Narben.” Barmherzige begann im Dorf für eine Weißnäherin zu arbeiten. Ihr Blick war ruhig, ihre Hände unermüdlich und doch sagte eine alte Frau: “Sie näht, als wolle sie die Welt zusammenhalten.” Temperenz lernte, mit dem beinahe geraden Fuß neue Wege zu gehen.
Sie nahm Arbeit in einer Bäckerei an, stand vor Tagesanbruch auf und trug am Abend den Geruch von Roggen und Wärme nach Hause. Klara kümmerte sich um den Garten, legte im Frühling bete an und stellte im Winter die Kerne in Töpfchen an die Fensterscheibe, damit das Licht ihnen ein leises Versprechen gab.
Wenn es schneite, saßen die drei an dem kleinen Tisch, der nach Harz und altem Leinen roch. und machten Listen mit nichts als Luft, Dinge, die man nicht sagen kann. Klara malte kleine Zeichen daneben, keine Buchstaben, aber Spuren, die sie eines Tages zu einem eigenen Satz legen würde. Manchmal kamen Briefe. Eine Lehrerin aus Frankfurt fragte, ob die Schwestern mit jungen Mädchen sprechen würden über Furcht, über Stimme, über das Recht, nicht zu gehorchen, wenn gehorsam zerstört.
Barmherziger antwortete: “Wir sprechen nicht, aber wir hören zu.” So saßen sie dann an langen Nachmittagen in einer Stube, in der die Wände nach Kreide rochen und hörten fremden Stimmen zu, die eigene Geschichten trugen. Keine leichteren, nur anderen. Manchmal sangen sie am Schluss ein leises Lied und die Mädchen gingen heim mit Augen, die ein wenig weniger Wolken trugen.