Nach und nach begann die Legende von Rabenbrunn zu zerfasern. Aus der Ferne wurde ein Theaterstück geschrieben, das den Vater als Teufel und die Töchter als Heilige zeigte. Die, die den Hof und das Tal gekannt hatten, schüttelten darüber den Kopf. “Die Wahrheit ist schwerer”, sagten sie. “Sie wiegt wie Eisen in der Hand.
” Ein junger Jurist aus Trier, der den Prozess vom ersten Tag an verfolgt hatte, verfasste eine Abhandlung über die Grenzen des Hausrechts. Er schrieb nüchtern, als wolle er sich nicht an der Glut wärmen. Und doch glommt zwischen den Zeilen die Frage, wie weit Türen geschlossen sein dürfen, wenn hinter ihnen Stimmen sind.
Er sprach in Wirzhäusern vor Männern, die ihre Mützen drehten und vor Frauen, die ihre Schürzenränder kneteten, und sagte, dass kein Haus recht stark genug sei, um ein Kind zum Altar der Finsternis zu machen. Man debattierte lange, wer die Tür öffnen dürf, wenn nicht der, der sie schloss und ob ein Schlüssel in fremder Hand ein Diebstahl sei oder Rettung.
Er schloß mit dem Satz, daß Türen nur dort aus Eiche sein sollten, wo sie vor Wetter schützen, nicht vor Wahrheit. Von Elias Moritz Rabe sprach man kaum noch. Ein paar Eiführer stellten ihnen Schriften als Meertürer da, doch die Worte fanden keinen Boden mehr.
Der Pfarrer, der ihn an den Galgen begleitet hatte, schrieb in sein Tagebuch: “Er bete um ein einziges Körnchenreue in jener letzten Minute.” “Ich fand es nicht”, stand da, “aber ich will nicht richten, wo ich nicht heilen konnte.” Das Heft blieb im Fahrarchiv zwischen Listen von Taufen und Sterben, nur selten zog jemand es hervor. In Rabenbrunn wuchsen die Brommbeären über die Schwelle des Hauses.
Der Brunnen war kalt und blind. Eines Winterabends stand ein Mann auf dem Weg und hörte, so schwor er später, aus der Tiefe der Erde etwas singen. Kein Kettenklen, kein Schreien, nur ein Dreiklang, so zart, dass man ihn fast mit dem Atem verwechselte. Vielleicht sinkt der Stein, wenn er leicht wird”, sagte eine Nachbarin und schloß das Fenster.
Die Jahre gingen nicht in großen Schritten, sondern wie jemand, der barfuß durch feuchtes Gras geht, leise, vorsichtig, ohne Spuren, die der erste Wind nicht tilgen könnte. Die drei Schwestern wurden älter. Barmherziges Haar bekam den Ton von Asche. Temperenz lief nicht schnell, aber sicher.
Und Kara trug im Frühling eine Schürze mit grünen Flicken, die aussahen wie kleine Inseln. An hohen Feiertagen standen sie nach der Messe einen Augenblick vor der Kirchentür und sahen in den Himmel. Einmal sagte Kara: “Ich wünschte, wir hätten einen Ort, an dem Stille nicht weh tut.” Niemand antwortete, man nickte nur. Als ein weiterer Winter kam, schwer und gläsern, starb eine der Frauen im Dorf, die ihre Freundschaft gewoben hatten wie ein warmes Tuch.
Bei der Totenwache saßen die Schwestern in der Ecke und als die Kerzen herunterbrannten, bat man sie zu singen. Sie sang kein Lied aus dem Gesangbuch, sondern ein altes Hauslied, das nur Ton und Atem kennt, aus jener Zeit, als Worte noch nicht schwer waren. Männer weinten, Frauen hielten die Hände ihrer Kinder fest.
In dieser Nacht war das Tal nicht still, sondern so, als hätte jemand die Tür einen Spalt offenelassen und frische Luft hineingelassen. Als der Frühling danach das erste Gras hob, kam ein Brief aus Trier. Ein Stempel, eine saubere Schrift, eine Einladung. Die Stadt wolle den Schwestern eine bescheidene Unterstützung gewähren als Zeichen der späten Erkenntnis, dass Recht nicht nur Urteil, sondern auch Obhut ist.
Barmherzige legte den Brief auf den Tisch. Wir nehmen es an, sagte sie, aber nicht für uns allein. Sie schlugen dem Fahrer vor, mit dem Geld ein kleines Zimmer über der Kirchschule herzurichten, indem Frauen über das sprechen konnten, wofür sie nirgends Worte fanden. Man stellte einen Stuhl, einen Tisch, eine Lampe hinein und nannte es nichts.
Bald hieß es im Dorf nur noch das Zimmer und später sagte jemand: “Die Stube.” Dort lagen Papier und ein stumpfer Bleistift, eine Schale mit Wasser, ein Tuch und an der Wand hing nichts außer einem leeren Nagel. Frauen kamen, setzten sich, schwiegen und manchmal sprach eine und die anderen sagten nur: “Wir haben dich gehört.” Was dort geschah, war nicht Heilung, nicht Urteil, sondern ein Raum aus Holz für drei einfache Dinge. Angst, Nacht, Atem.