Teil 1-Grauenhafte Verhältnisse der Schäfer-Drillingsbrüder— Sie heirateten jede Frau ihrer eigenen Familie

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In den abgeschiedenen Tiefen des Thüringer Waldes, fernab jeder Handelsstraße und umgeben von Fichten, die den Himmel verdunkelten, lag ein Ort, den kaum jemand beim Namen kannte. Die Einheimischen nannten ihn das eiserne Tal, ein finsteres Becken zwischen zwei steilen Granitwänden, in dem selbst das Echo zu sterben schien.

In diesem vergessenen Winkel der Welt begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Geschichte so düster, dass sie noch Generationen später in Flüstern weitergegeben wurde. Im Jahre 1895 lebten dort drei Brüder, Elias, Otto und Martin Schäfer. Ihre Familie hatte das Tal seit Jahrzehnten bewohnt, abgeschnitten von der Außenwelt, seit ihr Großvater, der ehemalige Prediger Esekiel Schäfer sich dorthin zurückgezogen hatte, um die Reinheit des Blutes zu bewahren, wie er sagte. Ezekiel war einst Pfarrer in einem Dorf bei Sul gewesen, doch seine Lehren

hatten selbst die tolerantesten Gemüter erschüttert. Er predigte, die Welt außerhalb der Berge sei vom Teufel verdorben durch Handel, Maschinen und die Vermischung der Völker. Nur im Abseits, fern von Versuchung, könne das wahre Gottesvolk bestehen. So zog er mit seiner Frau, seinen Kindern und einigen wenigen Habseligkeiten in die Berge.

Aus Fichtenstämmen errichtete er ein grobes zweistöckiges Haus. Ein rauchgeschwerzter Kamin ragte über den Baumwipfeln empor. Über die Jahre grub sich der Name, Tal des eisernen Schweigens, tief in das Gedächtnis jener, die in der Umgebung lebten. Man miet den Ort, nicht aus Furcht vor Räubern, sondern vor dem, was dort wuchs.

Eine Familie, deren Glaube keine Gnade kannte. Nach Ezekiels Tod übernahm sein Sohn Johann Schäfer das Regiment. Wie sein Vater predigte auch er. daß das Blut der Familie heilig sei und niemals mit Fremden vermischt werden dürfe. Er heiratete seine Cousine und aus dieser Verbindung gingen drei Söhne hervor. Elias, Otto und Martin. Die Menschen in den umliegenden Tälern wussten wenig über die Schäfers.

Ab und zu erschien einer der Brüder auf einem Markt in Ilmenau oder Schleusing, um Fälle und getrocknete Kräuter gegen Salz, Mehl und Schießpulver zu tauschen. Sie sprachen kaum, blickten niemandem in die Augen und verschwanden wieder in den Wäldern, bevor die Sonne unterging. Als der Winter kam, legte der Schnee die Welt still.

Wege versanken und das Tal wurde zu einem abgeschlossenen Königreich aus Eis. Niemand wußte, was dort geschah. Manchmal glaubten Jäger, Rauch über den Baumwipfeln zu sehen. Manchmal hörte man in stürmischen Nächten Stimmen, die im Wind sangen. Keine menschlichen Lieder, sondern etwas anderes, Unheimliches. Im Frühling des Jahres 1918 sollte sich jedoch das Schweigen brechen.

Ein junges Mädchen, kaum 16 Jahre alt, taumelte eines Morgens aus dem Wald in die Nähe von Schmiedefeld. Ihr Name war Elisabeth Schäfer und ihre Erscheinung ließ jeden, der sie sah, verstummen. Ihre Haut war fahl wie Asche, ihre Kleidung zerrissen und in ihren Augen lag etwas, das weder Schmerz noch Wahnsinn allein erklären konnte.

Der Förster Thomas Brechtel, der sie fand, brachte sie sofort ins Dorf. Sie zitterte, obwohl der Tag mild war, und flüsterte unzusammenhängende Worte von Brüdern, von Sünde, von Kindern, die im Boden schlafen. Niemand verstand sie, bis sie im Polizeiamt von Ilmenau vor Kommissar Heinrich Schwarz saß, einem Mann in den 50ern, der mehr an Krieg und Elend gesehen hatte, als er je hatte sehen wollen.

Schwarz hörte ihr stundenlang zu. Ihre Sätze waren zerbrochen, ihre Gedanken ein Labyrinth. Doch zwischen den Fragmenten erkannte er etwas Entsetzliches. Die Familie Schäfer lebte nach einem Glauben, der sich gegen jedes Göttliche und menschliche Gesetz richtete. Es war ein Glaube, der sich selbst verschlungen hatte, so wie das Tal das Licht verschlang.

Als Elisabeth endlich zusammenbrach, beschloß Schwarz, der Sache auf den Grund zu gehen. Was er fand, würde die Akten der thüringischen Polizei für immer beflecken und die Legende des eisernen Tals in Steinmeißeln. Kommissar Heinrich Schwarz war kein Mann, der sich leicht beeindrucken ließ. Er hatte als junger Soldat im Krieg gegen Frankreich gedient, Verwundete sterben und Städte brennen sehen.

Und doch war nichts davon mit dem vergleichbar, was in den Augen jenes Mädchens lag, das nun in seinem Büro saß. Elisabeth Schäfer, 16 Jahre alt, woh kaum mehr als ein Kind. Ihre Hände zitterten, ihre Fingernägel waren schwarz vor Dreck und ihr Blick war leer, als sehe sie durch Wände und Menschen hindurch.

Erst nach Stunden des Schweigens begann sie zu reden. Zunächst kamen nur Bruchstücke, Worte, die wie aus einem Fiebertraum stammten. Brüder, Mutter, der Altar, das Blut ist rein. Schwarz schrieb jedes Wort sorgfältig nieder.

Als sie schließlich den Namen des Ortes nannte, das eiserne Tal, spürte er ein kaum erklärliches Unbehagen. Er kannte den Namen. Alte Jäger hatten davon gesprochen, von einem Tal, in das kein Tier zurückkehrte und kein Mensch freiwillig ging. Er hatte es immer für Abergauben gehalten. Doch jetzt saß da ein Mädchen, das aus Fleisch und Blut war, und erzählte von Dingen, die sich nicht mit bloßer Fantasie erklären ließen.

Nachdem der Dorfarzt Dr. Albrecht Fink sie untersucht hatte, bestätigte sich der Verdacht, dass Elisabeth über Jahre hinweg Hunger, Misshandlung und Isolation erlitten hatte. Ihre Wirbelsäule war verformt, ihre Haut narbig, ihre Zähne zerstört. Dr. Fink, ein nüchter Mann, schrieb in seinem Bericht: “Das Mädchen zeigt Spuren langhaltender körperlicher und seelischer Qualen, wie sie nur unter Zwang oder fanatischer Gefangenschaft entstehen können.

” Als Schwarz den Bericht las, stand sein Entschluss fest. Noch in derselben Woche würde er in das eiserne Tal aufbrechen. Doch wer sollte ihn begleiten? Die Bauern in der Umgebung mieden die Schäfers seit Jahrzehnten. Wenn er im Wir Stützerbach nach Freiwilligen fragte, wurde es still.

Einer der Alten spuckte in den Kamin und murmelte: “Wer dorthingeht, kommt nicht wieder.” Erst nach langem Zureden fand Schwarz drei Männer, die bereit waren, ihn zu begleiten. Jüngere Polizisten aus der Kreisstadt, unerfahren, aber loyal. Ihre Namen waren Wilhelm Kranz, Friedrich Lorenz und der Jüngste Karl Henning, kaum 23 Jahre alt. Sie machten sich an einem kalten Morgen im Oktober auf den Weg, als die Nebel noch zwischen den Stämmen hing und das Moos unter ihren Stiefeln tropfte. Der Weg führte sie tief in den Thüringerwald.

Zuerst folgten sie einem alten Handelsweg, dann einem Wildpfad, der schließlich ganz verschwand. Stundenlang hörten sie nichts als das Knacken von Ästen, das Fernerufen eines Kreuzchens und den gleichmäßigen Atem der Pferde. Die Luft wurde kälter und das Licht verlor seine Farbe. Gegen Nachmittag erreichten sie die steinerne Schlucht, die den Eingang zum Tal bildete.

Zwei Felswände ragten dort empor, so eng beieinander, dass kaum zwei Männer nebeneinander hindurchpassen konnten. Die Pferde weigerten sich weiterzugehen. still hier”, murmelte Kranz und Schwarz nickte nur. Als sie die Engstelle durchschritten, fiel der letzte Sonnenstrahl hinter ihnen zurück. Vor ihnen öffnete sich das eiserne Tal, ein Kessel aus Fichten und Felsen, schweigend wie ein Grab.

In der Mitte lag ein Hof, ein Komplex aus drei Gebäuden, das Haupthaus mit einem steinernen Kamin, eine Scheune und eine kleine Hütte, deren Dach halb eingefallen war. Kein Rauch, kein Laut, nur das ferne Murmeln eines Baches, der durch das Tal floss. Auf der Veranda des Hauses standen vier Gestalten, drei Männer, groß, breitschultrig, bärtig und eine ältere Frau mit grauem Haar, das zu einem strengen Knoten gebunden war.

Ihre Kleidung war grob, aus selbstgesponnener Wolle, ihre Gesichter unbeweglich. Kommissar Schwarz trat vor, zog seinen Hut und stellte sich vor. Heinrich Schwarz, königliche Polizei. Ich bin hier, um Nachforschung wegen des Verschwindens einer jungen Frau anzustellen. Die Frau antwortete mit ruhiger, brüchiger Stimme. Wir brauchen keine Nachforschung.

Das Mädchen war krank im Kopf. Es hat gelogen, wie der Satan lügt. Die drei Männer sagten kein Wort. Sie standen wie aus Stein gehauen, ihre Hände ruhten an den Gürteln, wo Jagdmesser glänzten. Schwarz spürte die Spannung in der Luft wie vor einem Gewitter. Trotzdem blieb seine Stimme fest. Ich habe Befehl, mich zu vergewissern, dass alle Mitglieder ihrer Familie wohl auf sind. Sie werden uns erlauben, das Haus zu betreten.

Die Frau Matilde Schäfer lächelte zum ersten Mal. Es war kein freundliches Lächeln. Treten Sie ein, Herr Kommissar. Wir haben nichts zu verbergen. Das Innere des Hauses roch nach Rauch, altem Fett und etwas Süßlichem, das Schwarz nicht sofort einordnen konnte.

Es war kühl und dämrig, die Fenster klein, mit dicken Schichten aus Ruß und Schmutz überzogen. Ein einziges Feuerglomm im Herd und sein rötliches Licht warflackernde Schatten über die Wände. An ihnen hingen alte Bibelseiten, sorgfältig mit Fäden befestigt. vergilbt und an manchen Stellen mit handgeschriebenen Notizen versehen.

Worte, die in unruhiger, fast kindlicher Schrift ergänzt waren. Reinheit ist Gesetz, das Blut ist heilig, der Wille Gottes ist größer als das Fleisch. Schwarz ließ seinen Blick schweifen. Das Mobil war spärlich, ein grober Tisch, vier Stühle, ein Holzschrank und eine Truhe, deren Deckel rissig war. Keine Anzeichen eines normalen Familienlebens, keine Bücher, kein Geschirr, außer dreirirdenen Schalen, keine Spuren von weiblicher Hand, nur Ordnung, Stille und eine Schwere, die den Atem drückte.

Einer der Deputierten, Karl Henning, ging an die hintere Wand und fuhr mit dem Finger über den Boden. Herr Kommissar, hier ist geschruppt worden. Vor kurzem. Schwarz trat näher. Der Boden war an dieser Stelle heller, das Holz beinahe weiß. Etwas wurde hier gereinigt, murmelte er. Aber warum nur dieser Fleck? Matilde Schäfer antwortete mit kalter Ruhe: “Wir halten Gottes Haus sauber, Herr Kommissar. Man reinigt, wo das Blut geflossen ist.

Das Opferblut der Tiere.” Schwarz sah sie lange an oder das Blut von Menschen. Sie erwiderte nichts, doch ihre Lippen zuckten, als müsse sie ein Lächeln unterdrücken. Im oberen Stockwerk hörte man ein Rascheln. Wilhelm Kranz, der Älteste der Beamten, stieg vorsichtig die Leiter hinauf, die zum Dachboden führte.

Nach wenigen Augenblicken rief er leise: “Herr Kommissar, sie sollten das sehen.” Schwarz kletterte hinauf. Zwischen den Balken lagen Matratzen aus Stroh. In der Ecke hockten zwei Kinder, schmutzig, dünn, mit verfilztem Haar. Sie sahen die Männer mit angst geweiteten Augen an.

Noch bevor Schwarz sie ansprechen konnte, zog eine unsichtbare Hand sie zurück in die Dunkelheit. “Wie viele Kinder leben hier?”, fragte schwarz scharf, als er wieder unten war. “Keine”, antwortete Matilde. “Uns Saat ist schwach. Gott nimmt sie, bevor die Welt sie verderben kann. Otto Schäfer, der Mittlere der Brüder, trat einen Schritt vor. Seine Stimme war tief, fast kehig. Wir tun, was uns geboten ist. Ihr versteht das nicht.

Fremde verstehen es nie. Schwarz holte tief Luft. Er wußte, daß jede falsche Bewegung hier Blut kosten konnte, doch sein Pflichtgefühl ließ ihn nicht weichen. Ich werde das gesamte Anwesen durchsuchen. Wenn Sie uns daran hindern, verhaften wir sie wegen Behinderung einer Ermittlung. Einen Augenblick lang schien es, als würde jemand das Messer ziehen.

Dann sagte Mathilde: “Sucht, ihr werdet nichts finden.” Sie trat zur Seite und ihr Blick war jene einer Königin, die weiß, dass ihre Macht nicht von dieser Welt stammt. Draußen begann der Wind zu singen, ein leises Pfeifen zwischen den Ästen. Die Männer durchsuchten die Scheune, leer, abgesehen von einem Maultier und ein paar Säckenkorn. Dann fanden sie einen schmalen Pfad hinter dem Haus.

kaum erkennbar von Fahnen überwuchert. Karl Henning blieb davor stehen. Hier führt etwas weiter. Wollen wir? Schwarz nickte. Wir gehen. Die vier Männer drangen durch das Gestrüpp. Das Licht wurde schwächer. Die Geräusche der Welt verstummten. Der Pfad führte in eine Senke, kaum 50 Schritte entfernt, und dort sahen sie eine Hütte.

Kleiner, verfallen, das Dach mit Moos bedeckt. Doch aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Schwarz hob die Hand. Bleib zurück. Dann rief er laut: “Königliche Polizei, zeigen Sie sich!” Für einen Moment geschah nichts. Dann öffnete sich die Tür und zwei Gestalten traten hervor. Zwei Frauen abgemagert, in Lumpen gehüllt, die Haut bleich wie Pergament, die Ältere stützte die Jüngere. deren Blick leer war wie ein Spiegel ohne Glas.

Hinter ihnen bewegte sich etwas. Kinder, viele, zu viele. Einige krochen, andere standen wankend, ihre Gesichter gezeichnet von Missbildung. Dr. Fink hätte gesagt: “Inzestgeneration.” Schwarz stockte der Atem. Die ältere Frau begann zu sprechen. Ihre Stimme war brüchig und schnell, als müse sie die Worte hinausschleudern, bevor sie wieder verboten würden.

Sie hieß Patrizia Schäfer, Schwester von Matilde. Die Jüngere Luise war ihre Nichte, zugleich Tochter und Schwägerin der drei Brüder. Seit Jahren, sagte Patrizia, hielten die Männer sie hier gefangen, schwanger gemacht durch ihre eigenen Verwandten nach einem Gesetz, das sie Gottes Reinheitsbund nannten. Schwarz hörte zu, während der Abend kam.

Das Licht wurde blutrot und aus dem Tal stieg Kälte. “Wie viele Kinder?”, fragte er schließlich. Patrizia senkte den Blick. Zu viele, um sie zu zählen. Die, die nicht leben durften. Dort. Sie deutete auf ein Stück Erde hinter der Hütte, wo die Pflanzen dichter wuchsen. Schwarz trat näher.

Er kniete nieder und berührte den Boden. Er war weich, frisch aufgeschüttet. Mit bloßen Händen begann er zu graben. Nach wenigen Minuten spürte er Stoff, dann Knochen. Klein, zerbrechlich, in Tücher gewickelt. Er sagte kein Wort. Er brauchte keines. Die Männer standen im Kreis um Kommissar schwarz, als er sich erhob. Seine Hände waren erdverschmiert.

In seinem Gesicht lag etwas, das die anderen noch nie gesehen hatten. Eine Stille, die tiefer war als Zorn. Wir haben genug gesehen”, sagte er leise. “Diese Menschen kommen mit uns.” Patrizia begann zu weinen, aber es war kein Schluchzen der Erleichterung, sondern ein heiseres, gebrochenes Geräusch, wie das Knarren alter Balken im Sturm.

Luise hielt eines der Kinder an sich gedrückt, das kaum atmete. Zwei der Depotierten halfen, die Frauen und Kinder aus der Hütte zu führen. Als sie in das letzte Licht des Abends traten, fiel das Schweigen des Tals auf sie wie eine Decke. Hinter den Bäumen stand das Haus der Schäfers, still, unbewegt, und doch spürte jeder, dass sie beobachtet wurden.

Als sie den Pfad zurückging, sah schwarz, dass die Brüder und Matilde auf der Veranda warteten, unbeweglich, die Gesichter im Schatten, die Hände vor dem Körper gefaltet, kein Wort fiel, kein Schrei, keine Drohung, nur dieser Blick kalt und leer wie Stein. Elias Otto Martin Schäfer rief Schwarz: “Im Namen des Königs stehen sie unter Arrest wegen Blutschande, Freiheitsberaubung und Mordverdachts.

” Die drei Männer hoben gleichzeitig den Kopf, als folgten sie einem unsichtbaren Signal. Matilde trat einen Schritt vor. Ihre Stimme ruhig, fast zärtlich. “Ihr glaubt, ihr könnt Gott richten, Herr Kommissar. Er wird euch finden, wenn ihr schlaft. Unser Blut ist rein, eures ist verdorben. Die Welt wird brennen und ihr werdet die Schuld tragen. Schwarz antwortete nicht.

Seine Deputierten zogen die Waffen, doch er hob die Hand. Kein Schuß, solange sie keinen Grund geben. Sie führten die Frauen und Kinder zum Waldrand, wo die Pferde warteten. Doch kaum hatten sie den ersten Hügel erreicht, hörten sie hinter sich einen laut, tief, wütend, wie ein Tier, das seinen Bau verteidigt. Die Brüder schrien.

Es war kein menschlicher Klang, sondern ein Chor aus Hass und Verzweiflung. Die Depotierten drehten sich um, aber Schwarz befahl. weiter. Keine Helden heute. Sie erreichten noch in derselben Nacht das Dorf Neustadt am Rennsteig. Dort brachte man die Frauen in das Haus des Pfarrers, wo sie mit Decken und Suppe empfangen wurden.

Die Kinder, sieben an der Zahl, zwei kaum lebendig, wurden in die Obhut der Gemeindeschwester gegeben. Dr. Fink kam am nächsten Morgen aus Ilmenau und untersuchte alle. Sein Bericht, den er später vor Gericht vorlesen würde, war präzise und unerschütterlich. Mehrjährige Misshandlung, chronische Unterernährung, schwerwiegende genetische Fehlbildung bei mehreren Kindern infolge inzestuöser Zeugung.

Geistige Zurückgebliebenheit in vier Fällen, tödliche Vernachlässigung in mindestens zwölf weiteren, basierend auf Funden von Kinderskeletten. Während Fink sprach, stand schwarz am Fenster. Draußen lag Nebel über den Feldern. Er dachte an Matildes Worte: “Unser Blut ist rein” und fragte sich, wie lange eine Überzeugung wachsen mußte, um solch eine Vollnis zu gebären.

Am folgenden Tag machte sich Schwarz mit seinen Männern und einem Dutzend Landjand erneut auf den Weg ins eiserne Tal. Diesmal mit Befehl und Mandat. Die Sonne war blass, der Wind trug den Geruch von Schnee. Als sie den Engpass zwischen den Felsen erreichten, sahen sie den Rauch schon von weitem. Schwarze Schwaden zogen über die Baumwipfel.

Das Haus der Schäfers brannte. Die Flammen frasen das Holz mit gierigem Knistern. Das Dach stürzte ein und in der Glut sah man Schäen. Drei große Gestalten, unbewegt, inmitten der Feuersbrunzt. Niemand schrie, kein Mensch versuchte zu fliehen. Sie standen dort, bis das Feuer sie verschlang.

Matilde lag einige Schritte abseits, ihr Körper in einer Pose, als hätte sie gebetet. Neben ihr fand man eine alte Bibel, die in der Asche unversehrt geblieben war. Die Seite, auf die sie geöffnet war, trug das Zitat: “Und die Unreihen werden ausgerottet werden aus dem Volke.” Schwarz befahl, das Feuer nicht zu löschen. “Lass das Tal seine eigene Reinigung vollziehen”, sagte er.

Erst am Abend, als der Wind erlosch, wagten sie sich näher. Nur noch Stein und Asche blieben. Kein Laut, kein Leben. Der Bach, der durch das Tal floss, war von Ruß geschwärzt. Die Beamten legten Protokoll an, machten Fotos, sammelten die Bibel und einige verbrannte Werkzeuge als Beweisstücke. Dann verließen sie das Tal, das nun endgültig tot war.

Doch für Heinrich Schwarz war die Sache nicht vorbei. In seinen Träumen sah er das Feuer, sah Gesichter im Rauch, Matilde, ihre Söhne, die Kinder mit den leeren Augen. Manchmal wachte er auf und glaubte, Schritte hinter sich zu hören. Der Wind im Kamin klang wie Flüstern. Das Blut ist rein.

Der Prozess gegen die Familie Schäfer begann im Frühjahr des Jahres 199 im Amtsgericht von Ilmenau. Noch bevor der erste Tag der Verhandlung anbrach, hatte sich der Fall in alle Dörfer des Thüringerwaldes herumgesprochen. Menschen kamen von weit her, aus Erfurt, aus Sul, manche sogar aus Leipzig, um die Teufelsfamilie aus dem eisernen Tal mit eigenen Augen zu sehen. Zeitungen berichteten unter sensationellen Überschriften Blutschande im Herzen Deutschlands, Gottes warn oder Wahnsinn. Und das Tal des Schweigens spricht endlich.

Der Gerichtssaal war überfüllt. Bauern in Sonntagskleidung drängten sich Schulter an Schulter mit neugierigen Städtern und Reportern. Auf der Anklagebank saßen nur vier Überlebende, die beiden Frauen Patrizia und Luise und zwei der Kinder, die stark genug gewesen waren, um die Flucht zu überstehen.

Die Männer, die Brüder Schäfer waren tot, im Feuer gestorben, ebenso Matilde. Dennoch wurde der Prozess geführt als Symbol, als Urteil über eine Welt, die zu lange geschwiegen hatte. Kommissar Heinrich Schwarz trat als Zeuge auf. Seine Aussage dauerte über zwei Stunden. Mit ruhiger Stimme schilderte er jedes Detail: Das Haus, den Gestank, die Bibelseiten, die verbrannten Gesichter. Doch als er von den Kindergräbern sprach, brach seine Stimme.

“Ich habe viele Tote gesehen”, sagte er, “aber noch nie so viele, die nicht hätten sterben müssen.” Dr. Albrecht Fink legte seinen medizinischen Bericht vor. Er sprach sachlich, präzise, doch das, was er beschrieb, ließ selbst die abgebrühten Journalisten verstummen. Diese Menschen lebten in einem geschlossenen System, in dem sich Krankheit, Glaube und Blut zu einer Spirale des Verfalls verbandten. Es war keine Familie mehr, es war eine Sekte.

Patrizia weinte, als sie befragt wurde. Sie erzählte von den Jahren der Gefangenschaft, von der Gewalt, von den Nächten, in denen sie ihre toten Kinder im Arm hielt, bis man sie ihr wegnahm. Sie sagten: “Es sei Gottes Wille”, flüsterte sie. “berlaube, Gott hat nie dort gewohnt.” Luise sprach kaum.

Sie saß still, den Blick gesenkt, die Hände gefaltet. Nur einmal hob sie die Augen, als man sie fragte, ob sie ihre Mutter Matilde hasse. Nein, sagte sie, ich hasse niemanden. Ich will nur schlafen. Nach fünf Tagen endete die Verhandlung. Der Richter verkündete, dass keine lebenden Täter mehr existierten. Doch das Gericht stellte offiziell fest, dass gewaltig schwerste Verbrechen gegen Menschlichkeit und Natur begangen worden waren. Das Urteil war symbolisch. Doch es halte nach wie Donner über den Bergen.

Nach dem Prozess versuchten die Behörden das Schicksal der Überlebenden zu ordnen. Patrizia und Luise wurden in ein kirchliches Pflegeheim bei Erfurt gebracht. Die Kinder kamen in staatliche Obhut. Zwei starben noch im selben Jahr an den Folgen der Entkräftung. Die übrigen wurden auf verschiedene Pflegefamilien verteilt. Nur eines Elisabeth, die entkommen war, blieb stark.

Sie lernte zu lesen, zu schreiben und begann in einer Schneiderei zu arbeiten. Kommissar Schwarz besuchte sie einziges Mal im Winter 1920. Sie wohnte in einem kleinen Zimmer über einem Laden und als er eintrat, lächelte sie, schwach, aber ehrlich. “Ich erinnere mich an das Tal nur noch im Traum”, sagte sie.

“Und wenn ich aufwache, ist es still, keine Stimmen mehr. Dann ist es gut so, erwiderte Schwarz. Laassen Sie die Stille bleiben. Doch er selbst fand keinen Frieden. Nach seiner Pensionierung zog er sich in ein Haus bei Ilmenau zurück. Die Akten des Falles ließ er nie aus den Händen, bewahrte sie in einer Truhe neben seinem Schreibtisch. In der Nacht hörte er manchmal Schritte auf dem Dachboden oder Kinder lachen, das nicht von dieser Welt war.

Im Jahr 1923 schrieb er einen Bericht für das Innenministerium betitelt Über die Gefahren religiöser Isolation in den Bergregionen. Darin stand ein Satz, den später Historiker zitieren würden. Wo der Mensch Gott über die Menschlichkeit stellt, beginnt das Böse fromm zu sprechen.

Nach seinem Tod im Jahr 1926 fand man in seiner Wohnung ein kleines Holzkreuz aus dem eisernen Tal, geschwärzt vom Feuer. Niemand wusste, warum er es behalten hatte. Manche sagten, er habe es aufbewahrt, um nie zu vergessen. Andere behaupteten, es habe ihn nicht losgelassen.

Nach dem Tod von Kommissar Heinrich Schwarz wurde der Fall der Schäfers zu einer Geschichte, die man flüsterte, nicht erzählte. Die Akten wanderten ins Staatsarchiv von Weimar, beschriftet mit der Nummer 3783. Auf dem Deckblatt stand in blauer Tinte Blutschande im Eisental, Kreis Ilmenau. Abgeschlossene Untersuchung. Niemand öffnete sie für Jahrzehnte. Das Land hatte andere Sorgen, Inflation, politische Unruhen, später Krieg.

Doch in den Dörfern rund um Stützerbach und Schmiedefeld blieb das Tal im Gedächtnis. Jäger, die sich zu weit in den Wald wagten, berichteten, daß dort kein Tier bleibe. Vögel flogen über den Felsen hinweg, aber sie setzten sich nie. Manche behaupteten, in stillen Nächten sehe man Licht zwischen den Baumstämmen, als brenne dort noch immer ein unsichtbares Feuer.

Alte Frauen murmelten, dass die Seelen der Kinder keine Ruhe gefunden hätten. Im Herbst 1938, mehr als 20 Jahre nach der Katastrophe, kam ein Geologiestudent aus Jena in die Gegend. Sein Name war Hans Fritsche, ein junger Mann mit wachem Geist und wenig Sinn für Aberglauben.

Er erforschte die Gesteinsschichten des Thüringerwaldes und hörte im Gasthaus von Neustadt von den Geschichten über das eiserne Tal. Die Einheimischen rieten ihm ab, dorthinzugehen. Einer der Alten sagte: “Der Wald dort atmet dich auf und gibt dich nicht wieder aus.” Doch Hans lachte. Ich glaube an Steine, nicht an Geister. Zwei Tage später machte er sich allein auf den Weg.

Er fand den Zugang leicht, denn das Gelände war in den alten Karten noch markiert. Die beiden Felswände ragten grau und scharf wie Klingen auf. Zwischen ihnen lag Schatten, obwohl die Sonne hochstand. Als er den Engpas durchschritt, änderte sich die Luft. Sie wurde schwerer, feuchter und die Stille war vollkommen. Kein Wind, kein Rascheln, kein Vogelruf.

Hans notierte in seinem Tagebuch: “Hier herrscht eine seltsame Dichte, als wäre die Zeit selbst träge geworden.” Er ging weiter. Der Bach floss noch klar und kalt, aber schwarz gesäumt von verkohlten Steinen. Dann sah er die Überreste des Hauses, kaum mehr als Grundmauern und zwei Schornsteine, die wie Grabsteine standen. Moos wuchs über dem Ort und aus der Erde ragten verrostete Nägel, verkrümmt wie Finger.

Hans machte Skizzen, maß die Steine, schrieb Notizen, doch als die Dämmerung kam, fühlte er sich beobachtet. Mehrmals drehte er sich um und glaubte, Kinderstimmen zu hören. Nicht laut, eher wie ein fernes Summ. Er sagte sich, es sei der Wind, doch als er zum Gehen ansetzte, hörte er ein leises, deutliches Wort.

gesprochen hinter ihm in einem Ton, der weder freundlich noch böse war, sondern einfach alt, bleib. Hans erstarrte. Kein Mensch war zu sehen. Er packte seine Ausrüstung und verließ das Tal so schnell, wie es die Dunkelheit erlaubte. Als er zwei Tage später im Gasthaus ankam, wirkte er verändert, blass, fahrig, die Hände zitterten. “Es gibt dort nichts”, sagte er, “aber das nichts schaut zurück.

” Er schrieb seine Beobachtungen nieder, doch die letzten Seiten seines Notizbuchs endeten abrupt. Ein Jahr später fiel Hans im Krieg an der Front in Polen. Sein Rucksack mit dem Tagebuch wurde nie gefunden. Nach dem Krieg in den 50er Jahren ließ die Forstverwaltung das Gebiet um das eiserne Tal sperren.

Offiziell hieß es: “Der Boden sei instabil, es bestehe Erdrutschgefahr.” Inoffiziell aber erzählten die Waldarbeiter, dass jeder, der dort Holz schlug, krank wurde. Fieber, Albträume, Stimmen. Einer, ein gewisser Karl Berend, soll gesagt haben, er habe in der Asche eines alten Kamins kleine Knochen gefunden, so fein wie Vogelknochen, aber menschlich geformt.

Niemand überprüfte es. Im Laufe der Jahrzehnte verwuchs das Tal mit dem Wald. Auf Karten verschwand der Name. Doch manchmal, wenn Nebel über die Hügel zog, sagten die Alten in den Dörfern: “Sie singen wieder.” Damit meinten sie das Flüstern, das durch die Bäume kam, wie Kinder, die Psalmen rückwärts beteten.

Elisabeth Schäfer, die einst entkommen war, lebte zu dieser Zeit längst in Weimar. Sie arbeitete als Schneiderin, später als Lehrerin für Handarbeit. Sie sprach nie über ihre Kindheit. Nur einmal, im Jahr 1956 gab sie einem Historiker ein Interview. Ihre Worte wurden in der Kirchenzeitung abgedruckt. Ich habe keine Familie mehr. Aber manchmal, wenn der Wind aus dem Süden kommt, rieche ich den Rauch.

Dann weiß ich, dass sie noch dort sind. Nicht als Menschen, sondern als Schatten. Und Schatten beten nicht. In den seziger Jahren geriet die Geschichte der Schäfers in den Hintergrund, überdeckt vom Wiederaufbau, der Teilung des Landes und den neuen Sorgen der Zeit.

Doch für jene, die in der Nähe des Thüringerwaldes lebten, blieb das eiserne Tal ein Ort, über den man nicht sprach, wenn die Sonne unterging. Die Förster kannten seine Lage, mieden sie jedoch. Karten der DDR verzeichneten dort nur ein schmales graues Viereck mit dem Hinweis Betreten verboten geologische Instabilität. Niemand fragte nach, warum selbst Grenztruppen dort nie übten.

Im Frühjahr 1968 beschloß ein Journalist des neuen Deutschland, ein junger Idealist namens Paul Wegner, die Wahrheit hinter der alten Legende zu suchen. Er hatte in Weimar von einer älteren Frau gehört, die von verfluchten Schäfers sprach. Er fand heraus, dass diese Frau keine andere war als Elisabeth Schäfer selbst, inzwischen über 60 Jahre alt.

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