Die Dörfer wurden leer, die Wälder stiller. Niemand achtete mehr auf seltsame Zeichen oder Stimmen. Doch im Winter des Jahres 1916, während das Land hungerte, geschah etwas, das den alten Schrecken zurückbrachte. Ein Junge aus dem Weisenhaus von Sonneberg, etwa 12 Jahre alt, verschwand aus seinem Bett. Man suchte ihn tagelang, fand keine Spur.
Eine Woche später stand er plötzlich wieder vor der Tür des Heims, barfuß, schmutzig, aber unverletzt. Er sprach kaum, doch auf die Frage, wo er gewesen sei, antwortete er bei der Mutter im Wald. Der Heimleiter schrieb einen Bericht, den niemand lesen wollte. Der Junge hieß Jakob und er blieb nicht lange. Drei Monate später starb er an einer Lungenentzündung. In seiner Hand hielt er ein Stück Holz, grob geschnitzt wie ein kleines Kreuz.
Sein Grab blieb namenlos. Im Archiv des Heims fand sich Jahrzehnte später ein Zettel in schwacher kindlicher Schrift. Sie hat gesagt, wir sollen warten. Bald ruft sie alle. Niemand wußte, wer sie war. Aber die, die den alten Namen Schwarzwald noch kannten, verstanden sofort. Die Jahre vergingen.
Nach dem Krieg kamen neue Menschen, neue Straßen, neue Häuser. Der Wald blieb. Er wuchs zurück über alte Pfade, über verfallene Hütten, über alles, was man vergessen wollte. Nur die Vögel mieden gewisse Lichtung und Jäger sagten: “Dort sei die Luft dicker, als wolle sie atmen.” Einmal im Herbst des Jahres 1930, als ein Sturm über Thüringen zog, fiel eine alte Fichte nahe der Brücke.
Unter ihren Wurzeln fand man etwas, das wie ein menschlicher Schädel aussah, klein, von Moos umschlungen. Neben ihm lagen Fragmente eines alten Tuches und ein verrostetes Messer. Der Forstmeister meldete den Fund an die Polizei. Doch als die Beamten am nächsten Tag eintrafen, war der Schädel verschwunden. Nur das Messer blieb.
Auf seiner Klinge stand kaum lesbar: “Jedidias”. So schloss sich der Kreis. Der Name des Mannes, der einst den Glauben gesäht hatte, tauchte nach fast 70 Jahren wieder auf. Als rostiger Abdruck eines Wahns, der nie gestorben war. Im Winter des Jahres 1933, kurz bevor das Land in eine neue Dunkelheit stürzte, wurde die Gegend um Gräfenruh erneut zum Schauplatz von Unruhe. Es begann mit den Tieren.
Schafe verschwanden aus Stellen, Hühner legten keine Eier. Hunde jaulten nachts, als sähen sie etwas, das kein Mensch sehen konnte. Die Bauern sprachen von kaltem Wind aus dem Boden, einem Hauch, der durch Türen und Fenster zog, obwohl alles verriegelt war. In der Nacht des Heiligen Abends berichteten mehrere Bewohner, sie hätten eine Prozession von Lichtern im Wald gesehen, wie Laternen, die in einer Reihe durch die Bäume glitten.
Manche sagten, sie hätten Stimmen gehört, Kinderstimmen, die ein Lied sangen, das niemand kannte. Am Morgen fand man auf der Dorfstraße drei Zeichen aus Asche gezeichnet. Kreise, die sich berührten. Niemand bekannte sich dazu. Far Lenz, der junge Nachfolger des alten Malten, schrieb in sein Kirchenbuch: “Die Finsternis hat eine Form.” Danach sprach er nie wieder über das Ereignis.
Einige Monate später, im Frühling des Jahres 1934 kam ein Historiker namens Dr. Wilhelm Rott aus Jena in die Gegend. Er forschte über religiöse Abweichungsbewegungen des 19. Jahrhunderts und war auf den Fall der Schwarzwaldschwestern gestoßen. In den Archiven hatte er Berichte, Protokolle, Briefe und sogar die handschriftlichen Aufzeichnungen des verstorbenen Elias WeS gefunden.
Er war überzeugt, dass in der Geschichte eine psychologische Wahrheit verborgen lag. Ein Beispiel dafür, wie Isolation und Aberglaube aus Menschen Fanatiker machten. Rott mietete ein Zimmer im Gasthaus von Gräfenruh und begann den Wald zu durchstreifen. Er war gebildet, nüchtern, keiner, der leicht an Übernatürliches glaubte.
Doch in seinen Notizen, die später gefunden wurden, zeigte sich, dass auch er nach und nach an der Atmosphäre des Ortes zerbrach. Der Wald spricht, schrieb er am dritten Tag, nicht in Worten, sondern in Stille. Ich fühle mich beobachtet, wenn ich zwischen den alten Fichten stehe. Am fünften Tag fand er die Lichtung, die der Förster Kraft Jahrzehnte zuvor beschrieben hatte.