Dort lagen drei halb verrottete Baumstämme in Form eines Kreuzes und mittenderin war ein Kreis aus Steinen gelegt. In der Mitte lag ein Stück Holz, auf dem man die Buchstaben E S erkennen konnte. Rott schrieb in sein Notizbuch: “Ich glaube, ich habe den Ort gefunden, an dem alles begann.” Danach endet das Tagebuch abrupt. Rott kehrte nie in das Gasthaus zurück.
Sein Mantel und seine Mappe wurden am Waldrand gefunden. Sein Körper nie. Im Sommer desselben Jahres brannte ein Teil des Thüringer Waldes nieder. Offiziell sprach man von Blitzschlag, doch Augenzeugen erzählten, der Brand sei von mehreren kleinen Feuern ausgegangen, die gleichzeitig entzündet wurden. Die Flammen breiteten sich rasend schnell aus, als würde der Wald selbst brennen wollen.
Als das Feuer nach drei Tagen erlosch, war der Hohlgrund, jener alte verfluchte Ort nur noch eine graue Narbe in mittenschwarzer Stämme. Doch nach dem Brand begannen neue Gerüchte. Arbeiter, die beim Aufräumen halfen, berichteten, sie hätten zwischen der Asche kleine Fußspuren gesehen. Barfuß, zu klein für Erwachsene.
Einer schwor: “Er habe ein Kinderlied gehört, das durch den Rauch kam, leise, eintönig, ohne Worte. Ein anderer erzählte, er habe auf einem verkohlten Stein Kreidesymbole gesehen, Kreise und Linien, die sich wiederholten. Die Behörden untersagten das Betreten des Gebiets. Der Brand sei gefährlich, hieß es, der Boden instabil.
Doch die Alten im Dorf wussten, dass es nicht um Sicherheit ging. Sie wussten, dass der Wald etwas behalten hatte, etwas, dass man nicht verbrennen konnte. Im Herbst schrieb ein Journalist aus Erfurt, der über den Brand berichten wollte, einen letzten Satz in seinen Entwurf. Der Boden des Hohlgrunds dampft, als atme er. Vielleicht hat die Saat überlebt. Danach legte er die Feder beiseite und beendete den Artikel nie.
Nach dem Brand des Jahres glaubten viele, der Fluch sei endlich erloschen. Die Lichtung war zu Asche geworden, die Ruinen verschwunden, die Erde schwarz und leer. Doch mit dem Schweigen kam kein Frieden. Der Wald, so sagten die Leute, sei anders still geworden, nicht leer, sondern wachsam.
Tiere mieden die Gegend, Pflanzen wuchsen nicht mehr und wer bei Nebel vorbeiging, spürte einen Luftzug, als atmete die Erde selbst. In den folgenden Jahren brach über Deutschland ein neues Zeitalter der Angst herein. Krieg, Bomben, Feuer. Ganze Städte brannten, während die Menschen in den Wäldern Schutz suchten. In jenen Jahren kehrte die Geschichte der Schwarzwaldschwestern als Flüsterlegende zurück, besonders unter den Flüchtlingen, die aus dem Osten kamen.
Man erzählte, tief im Thüringer Wald gebäbe es eine Lichtung, wo Kinderstimmen nachts beteten und dass dort niemand hungern müsse, wer reinen Herzens sei. Im Winter des Jahres 1943 kam ein Transport von Vertriebenen aus Schlesien nach Gräfenru. Unter ihnen war eine Frau namens Martha Klose, eine Hebarme von etwa 50 Jahren. Sie erhielt eine Unterkunft in einem verlassenen Haus am Waldrand.
Wenige Wochen später begann sie im Dorf als seltsam zu gelten. Sie sprach kaum, ging bei Einbruch der Dunkelheit hinaus und kehrte mit Kräutern und Zweigen zurück. Einige sahen sie auf der alten Straße zum Hohlgrund. Im Frühjahr gebar sie ein Kind, obwohl niemand von einer Schwangerschaft gewusst hatte. Sie sagte, das Kind sei von Gott geschickt.
Doch das Neugeborene war still, zu still. Es schrie nicht, öffnete die Augen nicht. atmete kaum. Es starb in der zweiten Nacht. Martha weigerte sich es zu begraben. Sie wickelte es in Tücher und sprach über ihm Gebete, die niemand kannte. Als Nachbarn versuchten ihr zu helfen, fanden sie das Haus leer. Auf dem Boden lagen Zeichen aus Asche und das tote Kind war verschwunden.
Im Herd brannte ein schwaches Feuer und über der Asche hing der Geruch von feuchter Erde. Nach dieser Nacht sah niemand Mart Klose je wieder. Nur Kinder sagten, sie hätten eine Frau mit langen Haaren zwischen den Bäumen gesehen, die leise Lieder sang. Nach Kriegsende besetzte die sowjetische Armee die Region. Viele der alten Häuser wurden geräumt.