Sie sprachen von Frauen, die in der Nacht sangen, leise, klagend, mit Stimmen, die in den Wind sanken. Manche sagten, sie hätten Gestalten gesehen zwischen den Fichten. Weiße Kleider, blasses Haar, das im Mondlicht schimmerte. Es war das alte Volkswissen des Thüringer Gebirges, Geschichten über Waldgeister, über Hexen, die Heilkräuter sammelten und Männer mit einem Blick ins Verderben führten. Doch unter der Volklore lauerte Wahrheit.
Elias Warns, Kreispolizist von Sonneberg, hörte diese Geschichten zum ersten Mal im Jahr 1875, kurz nachdem er sein Amt übernommen hatte. Damals hatte er sie als Aberglaube abgetan. Er war ein nüchter Mann, Sohn eines Försters, jemand, der an Ordnung glaubte und an das Gesetz, nicht an Flüche.
Doch je länger er diente, desto öfter tauchte der Name Schwarzwald in Berichten auf, die eigentlich gar keine Berichte waren. Ein verschwundener hier, ein leerer Wagen dort, ein verschwundenes Maultier, das man später tief im Wald fand, ohne Spur seines Besitzers. Es gab keine Zeugen, keine Angehörigen, niemanden, der Anzeige erstattet hätte, nur das leise, wachsende Gefühl, dass irgendwo im Wald etwas faul war.
Im Sommer 1884 ritt Van selbst in den Hohlgrund. Er sagte, er wolle eine Routinekontrolle durchführen. In Wahrheit wollte er endlich sehen, was dort geschah. Der Weg dorthin war kaum mehr als ein Wildpfad. überwuchert von Fahen und Brombeeren. Stille lag über dem Tal. Eine Stille, die selbst den Wind zu meiden schien.
Als er schließlich das Gehöft der Schwarzwald erreichte, fand er es verfallen vor. Eine große dunkle Blockhütte, daneben kleinere Schuppen, notdürftig aus Holz und Leinen errichtet. Die beiden Schwestern standen schon in der Tür, als hätten sie ihn erwartet. Sie sagten kaum ein Wort. Ihre Gesichter waren bleich wie Pergament, die Augen kalt und unbewegt.
“Was führt Sie hierher, Herr Kreispolizist?”, fragte Elisabeth mit einer Stimme, die weder feindselig noch freundlich war. Vans sprach ruhig, fragte nach den Kindern, die er zwischen den Bäumen gesehen hatte. Schattenhafte Gestalten, blass, schmutzig, flüchtig wie Tiere. Elisabeth antwortete knapp. Sie gehören mir. Er durfte das Haus nicht betreten.
Er sah genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte, aber nicht genug, um etwas beweisen zu können. Die Kinder schienen unterernährt, aber nicht dem Tod nahe, verwahrlost, aber nicht misshandelt. Es war als ob sie außerhalb jeder Kategorie lebten, jenseits des Gesetzes, jenseits der Welt. Van verließ das Tal mit einem Gefühl, daß ihn jahrelang nicht mehr losließ.
Er sprach mit den Leuten in den umliegenden Dörfern, Holzfällern, Köhlern, Frauen auf dem Markt. Niemand wollte über die Schwarzwaldschwestern reden. Die, die antworteten, taten es mit gesenktem Blick. Man nannte sie Hexen, aber nicht im spöttischen Sinn, sondern mit echter Angst.
Alte Frauen erzählten, daß Elisabeth Kräuter sammelte, die man nur bei Neumond pflückte, daß sie Gebete sprach, die keine Priester verstanden und dass sie Wasser aus einem Brunnen schöpfte, den seit Generationen niemand mehr benutzt hatte. “Wer ihren Namen bei Nacht ausspricht”, sagte eine alte Frau, holt Unglück ins Haus. So vergingen die Jahre. Wenn alterte, seine Haare wurden grau, seine Knie schmerzten, aber die Schwarzwaldschwestern blieben in seinem Kopf, ein Rätsel, das er nicht lösen konnte.
Dann an einem kalten Oktobernachmittag des Jahres öffnete sich die Tür seines kleinen Amtszimmers in Sonneberg und ein Mann stürzte herein halb wahnsinnig vor Angst mit zerrissener Kleidung und aufgerissenen Händen. Er hieß Thomas Kaltenborn, ein Landvermesser aus Leipzig, der für die Eisenbahngesellschaft arbeitete.
Drei Wochen zuvor war er mit einem kleinen Team ausgeschickt worden, um eine mögliche Strecke durch den Thüringer Wald zu kartieren. Auf einer der Karten, so sagte er, war ein Tal eingezeichnet, das auf keiner amtlichen Karte existierte. Er war allein dorthingegangen und hatte den Hohlgrund gefunden.
Was er in den nächsten Stunden erzählte, während er zitternd am Ofen saß und aus einer Zinknkanne trank, brachte Van dazu, noch am selben Abend acht Männer zusammenzurufen. Kaltenborn berichtete, dass er zwei Frauen getroffen habe, blass, barfuß, in altertümlichen Kleidern, die ihn freundlich aufgenommen hätten.