Der Gerichtssal war überfüllt. Zeitungen aus Berlin, Leipzig und München hatten Reporter geschickt. Die Menschen standen dicht gedrängt, die Fenster waren beschlagen. Der Atem der Menge mischte sich mit dem Geruch von Wachs und nassen Mänteln. Elisabeth und Morwin saßen nebeneinander am Tisch der Angeklagten, still, unbewegt, die Hände gefesselt.
Als Thomas Kaltenborn in den Zeugen stand trat, wandte Elisabeth den Blick ab. Er sprach ruhig, aber seine Stimme zitterte. Er beschrieb das Haus, die Suppe, die Dunkelheit, die Stimmen der Kinder. Seine Worte schnitten durch den Saal wie kaltes Metall. Als der Pflichtverteidiger ihn fragte, ob er sicher sei, daß die Frauen ihn vergiften wollten, antwortete Kaltenborn: “Ich bin sicher, dass sie Gott spielen wollten.” Danach herrschte Schweigen.
Die Richter hörten die Berichte der Ärzte, der Beamten, der Männer aus dem Suchtrup. Beweise gab es genug: Das Kellerloch, die Fundstücke, die Kinder. Nur eines fehlte. Die Leichen der verschwundenen Männer. Ohne sie blieb Mord schwer nachzuweisen. Elisabeth bat schließlich selbst um das Wort.
Gegen den Rat ihres Verteidigers stand sie auf, legte die Hände auf die Bibel und sprach mit fester Stimme: “Mein Vater hat uns gezeigt, dass der Mensch gefallen ist. Wir haben getan, was getan werden musste.” Wer in den Wald kam, wurde geprüft. Manche waren würdig, andere nicht. Wir haben niemanden getötet. Wir haben geseht. Diese Worte lösten ein Murmeln im Saal aus. Eine Frau im Publikum brach in Tränen aus.
Ein Mann verließ fluchend den Raum. Elisabeth sah sie nicht an. Ihre Augen waren weit offen, auf etwas gerichtet, das nur sie sehen konnte. Morwin schwieg die ganze Zeit. Manchmal blickte sie zu ihrer Schwester, als erwarte sie ein Zeichen. Als die Richter sie fragten, ob sie selbst sprechen wolle, schüttelte sie nur den Kopf. “Meine Schwester spricht für mich.
” “Imer”, flüsterte sie. Nach zwei Wochen Verhandlung zog sich das Gericht zur Beratung zurück. Die Jury brauchte keine drei Stunden. Das Urteil lautete: Schuldig wegen Entführung, Freiheitsberaubung, Misshandlung, Minderjähriger und Gefährdung der öffentlichen Ordnung.
Mord konnte ihn door nicht nachgewiesen werden. Der Richter, ein älterer Mann mit tiefen Ringen unter den Augen, sprach das Urteil mit stockender Stimme. Sie haben in einer eigenen Welt gelebt, einer Welt jenseits jeder Menschlichkeit. Sie haben Kinder gezeugt, nicht aus Liebe, sondern aus Wahn. Dafür gibt es kein Gesetz in unseren Büchern, aber es gibt das, was richtig ist.
Er erklärte beide Schwestern für geisteskrank und verurteilte sie zur dauerhaften Unterbringung in der Heil und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirner. Elisabeth lächelte leicht, als das Urteil verkündet wurde. “Ihr werdet sehen”, sagte sie leise. “Die Zeit der Reinen kommt.
Der Transport der Schwestern zur Heil und Pflegeanstalt Sonnenstein begann an einem grauen Februar Morgen. Schnee fiel in dichten, lautlosen Flocken. Die Straßen waren vereist und der Wagen, der sie brachte, zog tiefe Spuren in den Matsch. Zwei Gendarmen begleiteten den Transport. Van selbst ritt ein Stück des Weges mit, bevor er umkehrte. Er war erschöpft, alt geworden in den Monaten des Prozesses.
Doch etwas ließ ihn nicht los. Ein dumpfes Gefühl, dass diese Geschichte nicht mit einem Urteil endete. Die Kinder waren auf Heime in ganz Thüringen verteilt worden. Einige starben an Fieber, andere verweigerten Nahrung, als hätte der Wille zum Leben sie verlassen. Nur wenige überstanden die ersten Jahre.
Die Ärzte beschrieben sie als geistig verlangsamt oder innerlich verschlossen. Einer der Pfleger schrieb in einem Bericht: “Sie schlafen kaum. Wenn man an ihrer Tür vorbeigeht, hört man sie miteinander flüstern. Eine Sprache, die niemand versteht.” Elisabeth und Morwin Schwarzwald kamen getrennt in verschiedene Flügel der Anstalt Sonnenstein. Die Einrichtung war ein imposanter Komplex aus rotem Sandstein auf einer Anhöhe über der Elbe gelegen.
Drinen roch es nach Desinfektionsmittel, feuchtem Stein und kaltem Eisen. Elisabeth wurde auf Station 3 untergebracht für religiös wahnsinnige. Morwin kam auf Station 5 für stille, depressive Geisteskranke. Die Schwestern sahen sich nie wieder. Anfangs widersetzte sich Elisabeth der Behandlung.